Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 19. Mai 1998, 15.00 Uhr

Gürzenich der Stadt Köln
(Musikalische Umrahmung: Ursula Schoch)
 
Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit:

Sehr verehrter Herr Präsident Vilmar! Lieber Herr Professor Dr. Hoppe! Meine lieben Kollegen aus dem Deutschen Bundestag! Meine Damen! Meine Herren! Müßte ich den Inhalt meiner Rede nach den Fragestellungen bestimmen, die mir in den letzten drei Tagen vorgelegt wurden, müßte ich ausschließlich über die Potenzpille sprechen.

(Heiterkeit)

Ich räume aber ein, daß ich auf diesem Felde meine Hemmungen habe. Deshalb komme ich auf dieses Thema nicht zu sprechen.

(Zuruf Dr. Montgomery)

- Herr Montgomery, ich bitte, mit Zurufen vorsichtig zu sein.

Ich werde auch nicht auf die vielen gesundheitspolitischen Verlautbarungen zu sprechen kommen, die - was offenkundig zur Tradition eines Deutschen Ärztetages gehört - erfolgen, bevor der Ärztetag eröffnet ist. Würde man sich mit diesen Verlautbarungen beschäftigen, würde das die Tagesordnungen vieler Ärztetage ausfüllen.

Ich beginne mit fünf gesunden Wahrheiten, mit denen ich zum Ausdruck bringen möchte, daß die Grundentscheidungen in der deutschen Gesundheitspolitik gefallen sind, daß man trefflich über Einzelheiten streiten kann - Herr Hoppe, Sie haben das völlig richtig geschildert -, aber daß vor jeder Diskussion des Kleinen doch der geistige Bauplan, das Fundament - die Felder, wie Sie es genannt haben - klar sein sollte; fünf gesunde Wahrheiten, die gewissermaßen die Orientierungsmarken heute und morgen sein sollen. Anschließend werde ich noch zu einigen aktuellen Themen kommen - neue Bundesländer, Europa - und darüber sprechen, wie man diese fünf gesunden Wahrheiten am besten realisiert.

Erstens. Wir brauchen in Deutschland wieder eine medizinische und pflegerische Versorgung, die sich in erster Linie nicht nach fiskalischen Erwägungen, sondern nach medizinischen Orientierungen ausrichtet.

(Beifall)

Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten - auch ich habe daran mitgewirkt - eine Gesundheitspolitik erlebt, die sich sehr stark an ökonomischen Gesichtspunkten orientiert hat. Nun gebe ich denen recht, die sagen, daß es in jedem System auf Dauer notwendig bleiben wird, Effizienz sicherzustellen, daß die Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven eine wichtige Aufgabe auch in der Zukunft bleibt. Aber die globalen Reserven in der gesetzlichen Krankenversicherung sind inzwischen ausgeschöpft und pauschalen Sparmaßnahmen nicht mehr zugänglich. Das entspricht meiner tiefen Grundüberzeugung.

Ich wiederhole auch hier vor dem Deutschen Ärztetag: Alle Beteiligten des deutschen Gesundheitswesens, ob im stationären oder im ambulanten Bereich, Versicherte und Patienten und viele andere Beteiligte, haben in den letzten Jahren große Sparanstrengungen unternommen und Sparbeiträge erbracht. Die Sparzitrone ist ausgequetscht. Wer das Sparen in den Mittelpunkt der künftigen Gesundheitspolitik stellen möchte, muß wissen, daß er dann die hohe Leistungsfähigkeit des heutigen deutschen Gesundheitswesens nicht erhalten kann.

(Beifall)

Was wir eben in den Ansprachen und Grußworten zu diesem Punkt gehört haben, ist symptomatisch für die gesundheitspolitische Diskussion in Deutschland: Die eine Hälfte klagt die Wirtschaftlichkeitsreserven ein, und die andere Hälfte konfrontiert uns mit den Folgen von Sparmaßnahmen für die Krankenhäuser und die Arztpraxen. So hat die Frau Bürgermeisterin gefordert: Kein übertriebenes Sparen, denkt ein bißchen an die Ärzte und die Patienten. Herr Sendler hingegen sagte: Es gibt noch gewaltige Wirtschaftlichkeitsreserven.

So erlebe ich das beinahe jeden Tag. Die Spitze dieser doch sehr widersprüchlichen Haltung kann man oft in verschiedenen Beiträgen in derselben Zeitung festmachen. Da werde ich zum Beispiel im Leitartikel aufgefordert, doch endlich die Wirtschaftlichkeitsreserven des deutschen Gesundheitswesens zu erschließen und den Kniefall vor der Pharmaindustrie und den Ärzten zu beenden. Im Lokalteil erfolgt dann die Mikrobetrachtung, in der Krankenhäuser, Ärzte und Patienten die negativen Folgen einer Sparpolitik zum Ausdruck bringen. Konfrontiert mit diesem Widerspruch in ein und derselben Ausgabe, hat mir die Zeitung mit dem phantastischen Begriff geantwortet, das gehöre zur Binnenpluralität einer Zeitung.

(Heiterkeit)

Meine Damen und Herren, die Sparzitrone ist ausgequetscht. Deshalb war es notwendig, wegzugehen von dieser fiskalisch orientierten Kostendämpfungspolitik der letzten 20 Jahre hin zu einer bedarfsorientierten humanen Gesundheitspolitik. Dies ist ein Paradigmenwechsel in der deutschen Gesundheitspolitik, der von manchen noch nicht verinnerlicht wurde, von manchen blockiert und abgelehnt wird und von anderen noch nicht in ausreichendem Maße aufgegriffen worden ist. Unser Ziel ist nicht eine maximale medizinische Versorgung um jeden Preis, sondern eine effiziente Versorgung, die den Patienten das medizinisch Notwendige zur Verfügung stellt, das aber in bester Qualität. Für Versicherte und Patienten hat eine solche Versorgung absolute Priorität. Die Patienten erwarten von unserem Gesundheitssystem eine an ihrem medizinischen Bedarf orientierte humane Versorgung und nicht eine zweitklassige, von ökonomischen Zwängen geprägte Sparmedizin.

Deshalb haben wir diesen Paradigmenwechsel eingeleitet. Ich prophezeie Ihnen: Niemand wird dieses Rad mehr zurückdrehen. Die erste und wichtigste Priorität, auch aus der Sicht von kranken Menschen, ist, den medizinischen Versorgungsbedarf, von dem Sie sprachen, Herr Professor Hoppe, in den Mittelpunkt zu stellen.

Zweitens. Qualität ist unverzichtbar. Eine erstklassige Medizin muß sich ständig um die Sicherung der Qualität der Versorgung bemühen. Das ist nicht eine Aufgabe des Staates. Ich wiederhole hier: Die Definition von Qualität der ärztlichen Dienstleistungen ist alleine eine Aufgabe der Ärzte und nicht der Politik oder gar der Verwaltung und der Krankenkassen.

(Beifall)

Wir haben uns auf dem letzten Deutschen Ärztetag zur Hälfte der Diskussion beinahe ausschließlich mit der Frage Scharlatanerie befaßt: Bleibt die Medizin wirklich der Wissenschaft verbunden und an der Wissenschaft orientiert? Ich bleibe dabei: Unser Gesundheitswesen ist offen für neue Behandlungsmethoden, aber diese neuen Behandlungsmethoden müssen dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen. Auch künftig wird es im deutschen Gesundheitswesen für Scharlatanerie keinen Raum geben.

(Beifall)

Die Qualität der medizinischen Versorgung hängt entscheidend von einer wissenschaftlichen und patientenorientierten Aus- und Weiterbildung insbesondere unserer Ärzte ab. Die Bundesregierung hat die Approbationsordnung beschlossen mit dem primären Ziel einer praxisorientierteren Ausbildung unserer Mediziner und mehr Autonomie der Medizinfakultäten. Ich bin froh - Herr Sendler, da stimmen wir überein; das ist der einzige Punkt, in dem wir übereinstimmen -, daß die Gesundheitsminister der Länder diese Approbationsordnung voll unterstützen.

Ich habe in meinen Ministerjahren viel erlebt. Aber eine Begegnung mit den Kultusministern der Länder gehört doch zu den unübertroffenen Höhepunkten.

(Heiterkeit)

Ich appelliere wie Sie, Herr Professor Hoppe - Herr Vilmar, ich bitte Sie da weiter um Unterstützung gegenüber den Ministerpräsidenten -, daran, daß wir diese Approbationsordnung nach ungewöhnlich langer Diskussion durchsetzen. Walter Kannengießer von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", einer der bedeutendsten Journalisten auf der gesundheitspolitischen Ebene, hat bei seiner Verabschiedung gesagt: In Deutschland dauert die Realisierung einer guten Idee mindestens 20 Jahre. Die Approbationsordnung ist ein Musterbeispiel dafür.

Ich möchte jetzt gar nicht sagen, wer mir das gesagt hat, aber mir wurde das Argument entgegengehalten: Wenn wir 20 oder 25 Prozent weniger Medizinstudenten hätten, aber in etwa die gleichen Mittel für die Fakultäten auszugeben hätten wie in der Vergangenheit, würden die Stückkosten steigen. - Das war mir als Argument völlig neu. Ich dachte, es ginge uns darum - daran müßten auch die Bundesländer ein Interesse haben -, daß wir die Qualität unserer Mediziner verbessern. Das ist der erste Auftrag dieser Approbationsordnung und der daraus folgenden Kapazitätsverordnungen.

(Beifall)

Wenn wir das nicht tun, werden wir in absehbarer Zeit den internationalen Anschluß auf diesem Gebiet verlieren. Wenn man die Qualität verbessern will, geht es in der Folge auch darum, daß die Studentenzahlen sinken müssen, weshalb es nicht nur auf die Approbationsordnung ankommt, sondern auch auf die Kapazitätsverordnungen. Denn sonst kann man die Qualität nicht gewährleisten.

(Beifall)

Es wäre im Hinblick auf die Medizinerzahl der Zukunft die sauberste und gegenüber den jungen Menschen auch die am besten zu vertretende Lösung, die Steuerung am Beginn des Berufsweges durchzuführen und nicht nach einer teuren Ausbildung eine Bedarfszulassung vorzunehmen.

(Beifall)

Deshalb kann ich Ihnen heute - in voller Abstimmung mit der Koalition, mit Wolfgang Lohmann und Dieter Thomae - zusagen, daß wir die im Gesetz angekündigte Bedarfszulassung ab 1999 nicht realisieren werden. Denn wir haben im Rahmen der fachlichen Vorprüfungen der letzten zwei Jahre keine Methode, kein Verfahren gefunden, diese Bedarfszulassung - also nur noch Vertragsarzt nach Bedarf, wie es jetzt noch im Gesetz angekündigt ist - so durchzuführen, daß dies verfassungsfest wäre.

(Zustimmung)

Es fällt keinem Politiker ein Zacken aus der Krone, wenn er nach jahrelanger Prüfung zu dem Ergebnis kommt, daß dies ein untaugliches Instrument ist.

Der Bedarfszulassung wäre die Reglementierungsspirale in die Wiege gelegt, denn nicht alle Fragen könnten von vornherein geklärt werden. Es ist nicht so einfach, wie es sich viele vorstellen, daß wir für bestimmte Arztgruppen einen bestimmten Bedarf, gemessen an der Bevölkerung, definieren. Wenn zum Beispiel in einem Berliner Stadtbezirk mehr Rentner wohnen und in einem anderen mehr die Vorstände der Banken und der Konzerne, stimmt das Verhältnis der Zahlen zueinander einfach nicht. So müßte man immer wieder auf regionaler und auch auf fachlicher Ebene viele Einzelheiten regeln. Wir fühlen uns da hoffnungslos überfordert.

Das Verfassungsgericht hat mit seiner Begründung zu diesem doch sehr eigenartigen Urteil - eigenartig jedenfalls hinsichtlich der Begründung zur Regelung ab dem 68. Lebensjahr - einen klaren Fingerzeig an den Gesetzgeber gegeben. Es hat - meines Wissens zum erstenmal - nicht die Begründung des Gesetzgebers übernommen - in dem Sinne: Wenn wir mehr nachrückende junge Mediziner haben, besteht oben die Notwendigkeit, sich aus dem Vertragsarzt zurückzuziehen - und auch nicht die gefährdete Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des deutschen Gesundheitswesens angeführt, sondern es hat - was Sie zu Recht etwas geärgert hat; auch ich würde mich ärgern, wenn ich auf dieses Alter zuginge - die Leistungsfähigkeit ab dem 68. Lebensjahr in Frage gestellt. Das ist ein starker Fingerzeig. Die massive Einschränkung der Berufsausübung mit der Begründung, daß sonst die Finanzierbarkeit und die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gewährleistet sind, ist mit einem so erheblichen verfassungsrechtlichen Risiko behaftet, daß ich dieses Risiko nicht eingehen möchte. Ich habe es nicht gern, Prozesse zu verlieren.

Aus den von mir genannten Gründen legen wir größten Wert darauf, daß die Approbationsordnung kommt.

Drittens. Wir sagen uneingeschränkt ja zum medizinischen Fortschritt, und zwar zum ethisch verantwortlichen medizinischen Fortschritt, der ganz überwiegend einen Segen für die Menschen bedeutet. Wir müssen uns alle immer wieder darum bemühen, daß medizinischer Fortschritt, der eine Erhöhung der Lebensqualität und, in nicht seltenen Fällen, viele menschenwürdige Jahre, gerade bei Hochbetagten, bedeuten kann, so schnell wie möglich an die Patienten weitergegeben wird. Wir bejahen den medizinischen Fortschritt, wenn er ethisch verantwortet werden kann.

Ich möchte mich hier einmal bei der Bundesärztekammer bedanken, daß sie bei schwierigen Grenzfragen, die einer gesetzlichen Regelung oft nicht zugänglich sind, ein hohes Maß an Verantwortung und Augenmaß bewiesen hat.

Wir haben ein Gentechnikgesetz und ein Transplantationsgesetz. Wenn mich jemand einmal fragen sollte, worauf ich persönlich in meiner politischen Tätigkeit am meisten stolz bin, werde ich sagen, daß es das Transplantationsgesetz ist, das nach über 20jähriger Diskussion verabschiedet worden ist, daß es gelungen ist, den Menschen im Berliner Herzzentrum mit dem Kunstherzen in der Brust, den Energiewagen vor sich her schiebend, und auch den Medizinern und Pflegekräften durch das Transplantationsgesetz eine ethisch einwandfreie und juristisch saubere Rechtsgrundlage zu geben. Wir sind froh darüber, daß es offensichtlich auch dazu beigetragen hat, daß sich in Deutschland die Bereitschaft, sich einen Organspendeausweis ausstellen zu lassen bzw. sich zu einer Organspende bereit zu erklären, erhöht hat. Es konnte und kann nicht auf Dauer so bleiben, daß wir als hochentwickelte Nation, die dazu neigt, über Barmherzigkeit und soziale Fragen zu diskutieren, bei Organen ein Importland in größerem Ausmaße sind. Wir müssen hier stärker zur praktizierten Nächstenliebe kommen. Dabei ist das Transplantationsgesetz ein wichtiger Punkt. Ich hoffe, daß es mit dazu beiträgt, daß wir auf diesem Feld weltweit eine Spitzenstellung erhalten.

So sehr wir uns darüber freuen, daß die Versorgungsqualität und die Fortschritte in der kurativen Medizin beachtlich sind, so müssen wir doch in den nächsten Jahren Wert darauf legen, daß wir zu vergleichbaren Fortschritten auch in der Prävention kommen. Hier haben wir einen erheblichen Nachholbedarf, und zwar nicht bei den Präventionsmaßnahmen, die unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung eigentlich Marketingmaßnahmen sind, sondern bei den Infektionskrankheiten, bei Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems und bei Krebs.

Obwohl ich oft in dem Ruf stehe, eher ein Gesundheitsfinanzminister zu sein als ein Gesundheitsminister: Hier geht es primär um ein humanes Anliegen. Ich mag nicht daran glauben, daß sich Prävention rechnet; das mag vielleicht langfristig der Fall sein. Dies kann nicht unser erster Anknüpfungspunkt sein. Unser erster Anknüpfungspunkt muß sein, daß eine hochentwickelte Prävention ein Kernelement einer humanen Medizin ist. Da müssen wir leider feststellen, daß es in vielen Bereichen, begonnen bei den Impfungen bis hin zu den Früherkennungs- und Vorsorgemaßnahmen - die Mutterschaftsvorsorge ausgenommen -, in erschreckend geringem Umfang gelingt, die Bevölkerung, die ja ein Bewußtsein hat, zu einem entsprechenden Verhalten zu bewegen.

Deshalb bitte ich Sie - auch wir sind im Moment dabei -, über Anreizmuster für Versicherte und Leistungserbringer nachzudenken, darüber nachzudenken, wie bei allen Beteiligten Verhaltensweisen gefördert werden können, damit kurative Maßnahmen so lange wie möglich und so weit wie möglich vermieden werden können. Wir müssen durch finanzielle Anreize erreichen, daß vom Präventionsangebot stärker und zielgenauer Gebrauch gemacht wird.

Wir wissen, daß sinnvolle medizinische Prävention ihren Preis hat. Deshalb appelliere ich von dieser Stelle aus auch an die Selbstverwaltungen, die ärztliche Prävention angemessen zu honorieren, in den vertragsärztlichen Gebührenordnungen spezielle Positionen für qualitätsgesicherte medizinische Gesundheitsberatung der Versicherten und Patienten zu verstärken und - was mir besonders wichtig ist - sie von jeder Budgetierung freizustellen.

(Beifall)

Es verwundert uns schon einigermaßen, daß, obwohl die gesetzlichen Budgets abgeschafft sind und im Gesetz steht, daß Präventionsleistungen nicht unter den Grundsatz der Beitragssatzstabilität fallen und nicht budgetiert sind, eine Budgetierung von bestimmten Präventionsmaßnahmen in der ärztlichen Selbstverwaltung stattfindet. Wenn wir Prävention wirklich ernst meinen, muß die Politik dafür sorgen und dafür werben, daß die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden,

(Beifall)

und die Selbstverwaltung muß dafür sorgen, daß die Gebührenordnungen entsprechend ausgestaltet werden und daß von daher ein Anreiz ausgeht.

Ich kann mich da heute nicht festlegen. Aber vielleicht ist sind die positiven Erfahrungen mit den Regelungen beim Zahnersatz ein Anknüpfungspunkt, wo wir seit etlichen Jahren für die Versicherten, die regelmäßig zum Zahnarzt gehen und Mundhygiene betreiben, eine geringere Selbstbeteiligung haben als für diejenigen, die das nicht tun. Nun weiß ich auch, daß man nicht alles deckungsgleich auf die Humanmedizin übertragen kann. Aber es ist schon bemerkenswert, daß bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu Anfang der 80er Jahre heute nur noch 75 Prozent der Karies festgestellt werden. Da haben wir in der Humanmedizin Nachholbedarf, und da müssen wir etwas tun. Wir werden als Gesundheitsministerium hier weiterhin der Bannerträger sein.

Viertens. Wir wollen auch den sozialen Schutz. Das ist besonders in den letzten Stunden in die Diskussion gekommen. Deshalb auch hier die ganz klare Positionierung, die Sie von mir kennen: Wir wollen nicht die kalte Ellenbogengesellschaft mit dem Recht des Stärkeren, aber wir wollen auch nicht den Wohlfahrtsstaat, der jedem alles verspricht und der letzten Endes darin mündet, daß die Menschen nicht nur bevormundet, sondern gar entmündigt werden. Ein Staat, der im sozialen Bereich alles bezahlen will, wird

nach aller Erfahrung in der Menschheitsgeschichte am Ende nichts mehr bezahlen können.

(Beifall)

Deshalb sozialer Schutz in den Feldern, in denen der einzelne finanziell überfordert ist, aber dort Eigenverantwortung, wo man sie den Menschen zumuten kann, weil die Eigenverantwortung eine Grundvoraussetzung dafür ist, daß die Solidarität auf hohem Niveau erhalten werden kann.

(Beifall)

Darum sage ich hier ganz eindeutig: Zum sozialen Schutz gehören insbesondere nicht Leistungen, die in einer solidarischen Krankenversicherung nicht notwendig sind, wie zum Beispiel Marketingmaßnahmen einzelner Krankenkassen unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung.

(Beifall)

Die gesetzliche Krankenversicherung - und damit der soziale Schutz - ist nicht eingerichtet worden für ärztliche Leistungen, deren Nutzen zweifelhaft ist und die nicht dem anerkannten Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Entwicklungen entsprechen,

(Beifall)

zum Beispiel eine völlig ungezielte und ausufernde Labordiagnostik zur Abklärung eines vermuteten chronischen Müdigkeitssyndroms

(Beifall)

- ich bin froh, daß meine Ärzte das genau aufgeschrieben haben -, die im Einzelfall nur hohe Kosten verursachen, ohne daß hieraus relevante therapeutische Konsequenzen gezogen werden. Dazu gehören auch nicht Leistungen, die in einer solidarischen Krankenversicherung kein soziales Schutzbedürfnis auslösen, wie Bagatellarzneimittel oder ein Minimalzuschuß von 20 DM zum Brillengestell alle drei Jahre. Das ist für den einzelnen kein soziales Schutzbedürfnis, aber für die ganze Solidargemeinschaft sind das Ausgaben von einigen 100 Millionen DM - einschließlich der Umgehungsstrategien, daß neue modische Erkenntnisse mit einem zertrümmerten Gestell begründet werden. Der Erfindungsreichtum der Menschen ist viel größer als der der Politik.

Deshalb muß man den Mut haben, hier nicht dem Zeitgeist nachzulaufen und den Eindruck zu erwecken, der sei der Sozialste, der am meisten Umverteilung verspricht.

(Beifall)

Sozial ist, wer gewährleistet, daß die gesetzliche Krankenversicherung ihre Schutzfunktionen auf Dauer in den Feldern entwickeln kann, für die diese einmal gedacht war. Das ist eine soziale Krankenversicherung.

(Beifall)

Deshalb begrüßen wir nachdrücklich den IGEL-Katalog der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

(Beifall)

Was war das für eine Diskussion! Ich habe das als genialen Schachzug empfunden; das sage ich auch hier noch einmal. Solche Schachzüge sind ja nicht so häufig in der Politik; sie fallen dann sofort auf. Wer möchte der deutschen Ärzteschaft das Recht absprechen, Leistungen zu definieren, die zum ganz überwiegenden Teil noch nie zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung gehört haben, in Einzelfällen aber doch bezahlt worden sind, nach dem alten Motto, daß sich die Cleveren in der Krankenversicherung zu Lasten der Bescheidenen durchgesetzt haben, das heißt, wer frech genug war, hat sie bezahlt bekommen?

(Beifall)

Herr Dr. Schorre und Herr Dr. Hess, Sie haben es erlebt: Wenn man sich in der Öffentlichkeit mutig hinstellt und eine Sache verteidigt, ist die Diskussion schon zu Ende. Deshalb war dieser Mut Gold wert. Er war in diesem Punkt überfällig. Die Diskussion ist zu Ende, und das ist gut.

(Zuruf: Geld war wichtig!)

- Nein, Geld war nicht wichtig. Ich komme noch einmal darauf zurück. Ich möchte mir das aufsparen, denn das ist ein anderes Gedankenspiel, das bei der IGEL-Liste nicht paßt.

(Heiterkeit)

Die fünfte gesunde Wahrheit: Wir müssen wieder verstärkt darauf achten, daß wir ein freiheitliches und pluralistisches Gesundheitswesen bekommen. Auch ich habe zu einem Stück Überreglementierung beigetragen. Überreglementierung heißt immer Überbürokratisierung eines deutschen Gesundheitswesens.

(Beifall)

Daraus ergeben sich ganz logische Schlußfolgerungen, und zwar für die Ärzte, für die Krankenhäuser und für die Patienten. Wer wirklich ein freiheitliches Gesundheitswesen will, muß eine freie Krankenkassenwahl einführen. Wer wirklich ein freiheitliches Gesundheitswesen will, braucht die freie Arztwahl. Mit der freien Arztwahl verträgt es sich nicht, ein Primärarztmodell oder ein Einkaufsmodell in der Bundesrepublik Deutschland zu realisieren.

(Beifall)

Ich bin froh, daß wir Wahlrechte bei der Kostenerstattung - da wird gesagt, das seien privatversicherungsrechtliche Elemente -, Beitragsrückgewähr und vieles andere eingeführt haben. Ich kann nur feststellen: Seit wir in Hamburg neue Methoden nach privatversicherungsrechtlichen Grundsätzen eingeführt haben, funktioniert die Solidargemeinschaft in Hamburg wieder besser, und die AOK Hamburg, die kurz vor dem Kollaps stand, hat den Kopf wieder aus der Schlinge gezogen, weil sie leistungsstarke Versicherungsnehmer in ihre Versicherung bekommen hat. Ein normaler Mensch möchte ein bißchen Freiheit der Variation; er möchte auch Anreize. Nur mit Anreizen stellen Sie sicher, daß die Menschen, die die Solidargemeinschaft braucht, auch in diese Solidargemeinschaft Beiträge bezahlen,

(Beifall)

bei aller Akzeptanz gegenüber den Privatversicherungen.

Ich sage also eindeutig: Mit uns wird es kein Einkaufsmodell geben, bei allem Respekt vor den Krankenkassen. Die Krankenkassenmacht in der Bundesrepublik Deutschland ist groß genug, sie muß nicht noch durch die Einkaufsmodelle ausgebaut werden.

(Beifall)

Ich möchte auch kein Primärarztmodell - das habe ich gesagt -, denn dort wären die Ausnahmen schon vorprogrammiert, die man im Gesetz im Hinblick auf Frauen, Kinder, Urologen, Orthopäden etc. festhalten müßte.

Um klarzumachen, daß wir an der Freiheitlichkeit des Systems festhalten wollen, sage ich hier klipp und klar, auch nach den Beratungen mit den sieben oder acht größten Ärzteverbänden der Bundesrepublik Deutschland: Wir wollen, wo immer und wann immer es möglich ist, die Kostenerstattung für bestimmte Arztgruppen oder Behandlungsfelder ausweiten, und zwar nicht nur als Wahlrecht des Versicherten, sondern in bestimmten Bereichen, die wir noch miteinander besprechen müssen, auch für Ärzte und Behandlungsfelder.

(Beifall)

Wir werden außerdem mit Ihnen gemeinsam - das ist durch das Neuordnungsgesetz eingeleitet - unbedingt der Problematik der unkontrollierten Mehrfachinanspruchnahme von Vertragsärzten mit der Krankenversiche-

rungskarte Herr werden müssen.

(Beifall)

Das ist deshalb nicht ganz leicht - ich kann mir vorstellen, daß der eine oder die eine oder andere hier sagen: Warum habt ihr das nicht schon getan? -, weil man die Lösung eines Problems nicht damit verbinden darf, daß man eine gigantische Bürokratie wiedereinführt. Man darf auch nicht die freie Arztwahl beeinträchtigen. Es muß dabei bleiben, daß der Patient unmittelbar Zugang zu einem Arzt hat, daß er überwiesen wird und daß er sich bei einer schweren Indikation auch einmal eine Zweitmeinung einholen kann. Das muß alles gewährleistet bleiben. Aber mir hat einmal jemand erzählt, daß er 37 Arztbesuche in einem Quartal hatte. Da wird man doch nicht mehr im Ernst von einer medizinischen Orientierung oder von einer medizinischen Bedürftigkeit reden können. Das ist ein typischer Fall, wo der Solidaritätsgesichtspunkt mit Füßen getreten wird.

Deshalb müssen wir diesem Problem der Mehrfachinanspruchnahme zu Leibe rücken. Wir sind dabei, Herr Schorre, und ich denke, wir sind auf einem guten Weg, es zu lösen. Wir haben dieses Problem, auch als Bundesgesundheitsministerium, lange nicht als solches akzeptiert. Aber wenn man quer durch Deutschland unterwegs ist und feststellt, daß Ärztinnen und Ärzte an der Basis offensichtlich doch massiv davon betroffen sind, sollte man darauf reagieren und versuchen, dieses Problem zu lösen.

Ich möchte bei dieser fünften gesunden Wahrheit - mehr Freiheit im Gesundheitswesen - noch hinzufügen, daß ich dabei bleibe: Wir müssen ein Höchstmaß an Diagnose- und Therapiefreiheit verwirklichen. Damit verträgt sich eine Listenmedizin im deutschen Gesundheitswesen nicht.

(Beifall)

Ich habe nichts dagegen, wenn sich Selbstverwaltungskörperschaften, Ärzte, Organisationen oder andere Empfehlungen, Hilfen und Hinweise geben. Aber das ist ein fundamentaler Unterschied zu einer Listenmedizin, die darin besteht, daß eine Ministerialbürokratie eine Liste dessen aufstellt, was dem anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht. Das will ich nicht, und das kommt auch nicht.

(Beifall)

Medizinische Orientierung, hohe Qualität, ja zum medizinischen Fortschritt, soweit er ethisch verantwortlich ist, mehr Pluralität und mehr Freiheit im deutschen Gesundheitswesen und schließlich der soziale Schutz auf den Feldern, wo die praktizierte Nächstenliebe, die gemeinschaftliche Unterstützung für Menschen und ihre Familien notwendig ist - dies sind die Ziele in kompakter Form. Denn nur, wenn man die Ziele kennt, die man verfolgt, ist gewährleistet, daß man auch die richtigen Instrumente wählt, um die Ziele zu erreichen.

Das wichtigste Instrument - am Gelde hängt’s, zum Gelde drängt’s - dient der Finanzierung, um diese fünf Ziele zu gewährleisten und sicherzustellen. Daß ich das Sparpotential, jedenfalls global und allgemein, für erschöpft halte, habe ich gesagt. Ich darf hier darauf hinweisen: Wir haben in der sozialen Krankenversicherung seit 1982 Einsparungen in Höhe von rund 30 Milliarden DM realisiert. Das ist kein Pappenstiel in einem Gesundheitswesen, das zum damaligen Zeitpunkt etwa 150 Milliarden DM Ausgaben hatte. Ich weiß, daß es keine Chance gibt, die Einsparungen weiterzuschreiben. Denn - dies habe ich schon mindestens zehnmal vor der Bundespressekonferenz gesagt, aber ich wiederhole es gleichwohl - alle Beteiligten haben ihre Sparbeiträge erbracht. Ich sage einmal für den niedergelassenen Bereich: Wir haben vor 20 Jahren etwa 20 Prozent unserer Gesundheitsausgaben für Arzthonorare benötigt. Mittlerweile sind es unter 15 Prozent, obwohl sich die Zahl der niedergelassenen Ärzte seitdem verdoppelt hat. In Staffelstein in Oberfranken hat einmal Adam Riese gelebt. Den muß man gar nicht heranziehen, um zu begreifen, daß dies bei ausgedehnter Menge, und zwar medizinisch sinnvoll ausgedehnter Menge, und bei steigender Arztzahl natürlich für den einzelnen immer weniger bedeutet. Man kann also nicht sagen, die Ärzte hätten keinen Sparbeitrag erbracht.

Genauso hält sich das Argument hartnäckig und wird in Abschreibeketten immer weiter getragen, daß die deutsche Pharmaindustrie in den letzten sechs Jahren den großen Reibach gemacht hätte. Vor Inkrafttreten der Selbstbeteiligung waren die Arzneimittelausgaben im Westen der Republik niedriger als zum Zeitpunkt meines Amtsantritts. Die Arzneimittelpreise sind im letzten Jahr gesunken. Die Gewinne, die Sie gelegentlich in den Bilanzen lesen, machen die deutschen Pharmafirmen ausschließlich mit dem Export.

Das gleiche gilt für die Krankenhäuser. Auch die Krankenhäuser - obwohl es im niedergelassenen Bereich nicht immer so gesehen wird - haben ihre Sparbeiträge erbracht. Deshalb sehe ich globale, pauschale Wirtschaftlichkeitsreserven - in Milliarden ausgedrückt, die notwendig wären - nicht.

Genauso, meine Damen und Herren, scheidet zur Finanzierung eine gesetzliche Budgetierung aus. Bei jeder Veranstaltung, auch wenn sie noch so klein ist, ist einer zuviel. Deshalb kriegt man auch von Kamingesprächen mit Leuten, die ständig nach der Wurst für die Zeit nach dem 27. September schnappen, die Protokolle. In einem dieser authentischen Protokolle heißt es:

Wird dieser Anbieterdominanz im Gesundheitswesen nicht durch Budgetierungen und andere Begrenzungen wirksam begegnet, sind überproportionale Ausgabenschübe bei tendenziell sinkender Leistungsqualität die Folge. Ein eindeutiges Bekenntnis zur gesetzlichen Budgetierung. Ich war bei diesem Gespräch nicht dabei. Ich wiederhole: Auch wir haben budgetiert. Aber wir waren 1995/96 bei der gesetzlichen Budgetierung schon an der Grenze des medizinisch noch Verantwortbaren, weil wir bereits im Herbst eines Jahres die Situation erlebt haben, daß das medizinisch Erforderliche mangels Budget nicht mehr erbracht werden konnte.

Deshalb wiederhole ich auch hier - dabei bleibt es -: Man kann den medizinischen Bedarf eines Volkes nicht auf Dauer an die Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen binden. Das muß zu Verwerfungen führen.

(Beifall)

Das ist keine Antwort der Zukunft, denn das nimmt allen Beteiligten im Gesundheitswesen jede Perspektive. Es wäre ein Rückschritt.

Deshalb kommt die gesetzliche Budgetierung genausowenig in Frage wie die Illusion, man bräuchte im Gesundheitswesen nur genug zu sparen, dann hätte man keine Probleme. Nachdem ich heute wieder gehört habe, wenn sich die Arbeitsmarktlage entspanne, sei alles wunderbar, kann ich nur sagen: Dadurch entspannt sich zwar die Einnahmesituation etwas, aber das löst nicht die strukturellen Probleme des deutschen Gesundheitswesens. Ich erinnere daran, daß die vorvorletzte und die vorletzte Gesundheitsreform, also 1989 und 1992, in Deutschland zu einem Zeitpunkt erfolgt sind, zu dem wir nach heutigen Maßstäben Vollbeschäftigung hatten. Die Probleme haben strukturelle Gründe, die im System verankert sind. Wenn man das nicht sehen will, weicht man vor der Wahrheit aus; man will sich um die Wahrheit drücken. Man muß sich aber nach der Wahrheit richten, weil sich die Wahrheit nicht nach uns richtet. Die Wahrheit schafft auch Klarheit. Man kann das Problem vielleicht noch ein, zwei Jahre mühsam vor sich herschieben, mit Reglementierungen, mit Budgetierungen und mit mehr Paragraphen. Nur: Die Ursache der Entwicklung löst man damit nicht.

Deshalb haben wir gesetzliche Vorgaben für Regelleistungsvolumina eingeführt und im Gesetz auch klar verankert, daß es im Krankenhaus eine bedarfsorientierte Vergütung geben muß. Es steht jetzt für beide Bereiche, für den ambulanten Bereich und für den stationären Bereich, klipp und klar im Gesetz, daß sowohl in dem einen Fall, bei der Verhandlung über die Vergütung, als auch in dem anderen Fall, bei der Verhandlung über Pflegesätze und Fallpauschalen, die Entwicklung der Fallzahlen, der medizinische Versorgungsbedarf, die Veränderung der Versichertenstrukturen und staatliche Veränderungen, zum Beispiel der Krankenhausbedarfsplanung, berücksichtigt werden müssen - nicht: können.

Nun wissen wir auch, daß sich das Thema medizinischer Versorgungsbedarf für eine Diskussion eignet und auch Grundlage einer Diskussion in den Verhandlungen mit den Krankenkassen sein wird. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied, ob man mit den Krankenkassen darüber verhandelt, ob die Löhne um 1 oder 2 Prozent gestiegen sind, oder ob man mit den Krankenkassen über die medizinische Orientierung verhandelt, über die Fallzahlen, über den medizinischen Versorgungsbedarf, über die Veränderung der Altersstruktur in unserer Bevölkerung. Diese Veränderung bedeutet zum Beispiel für die niedergelassenen Ärzte, daß das Morbiditätsrisiko, das sie in den letzten 20 Jahren allein getragen haben, auf die Solidargemeinschaft übergeht.

(Beifall)

Das wissen wir, und das wollen wir.

Ich habe heute in irgendeiner Zeitung gelesen, das sei eine einkommensorientierte Politik im Sinne der Ärzte. Mich wundert bei dieser Diskussion immer, daß niemand in Deutschland, jedenfalls nicht vergleichbar, diese Diskussion im Krankenhaus führt. Dort ist es mehr oder weniger selbstverständlich - wenn auch schwer, Herr Robbers, auch in den Verhandlungen -, daß die Morbidität eine Aufgabe der Solidargemeinschaft und nicht des einzelnen Krankenhauses ist.

Ich habe vor kurzem in einer Podiumsdiskussion mit der ÖTV der Vertreterin der ÖTV die Frage gestellt: Würden Sie das, was Sie hier sagen, auch Ihren Schwestern und Pflegern sagen, die Sie hier zu vertreten haben? Die Antwort darauf war: Das ist eine schwierige Frage. - Das ist aber keine Antwort für die Politik, für den Gesetzgeber. Ich möchte nicht den Bereich Krankenhaus gegen den niedergelassenen Bereich ausspielen. Wir haben in den letzten Jahren so oft von den gleich langen Spießen und der Waffengleichheit gesprochen. Ich möchte, daß für den ambulanten Bereich bei der Vergütung die gleichen Prinzipien gelten wie für den stationären Bereich.

(Beifall)

Darum macht es überhaupt keinen Sinn, wenn die einzelnen Bereiche aufeinander losgehen. Der Krankenhausbereich ist im Konsens so geregelt. Ich sehe auf lange Zeit überhaupt keine anderen Entwicklungen bei den Bundesländern, bei den Ministerpräsidenten, bei der ÖTV, den Schwesterverbänden und Chefarztverbänden, und ich möchte nichts anderes, als daß das gleiche Vergütungsprinzip auch bei der niedergelassenen Ärzteschaft gilt.

Deshalb bin ich froh, daß wir vereinbart haben, daß dies jetzt in fünf KVen in Deutschland versucht wird, bis zur Schiedsstellenfähigkeit. Ich kann Ihnen auch im Namen der Koalition sagen: Wenn wir feststellen sollten, daß man dies andernorts bei Vertragspartnern nicht will und boykottiert, dann werden wir durch Gesetz nachhelfen; denn wir wollen nicht, daß die Ärzte als einziger Berufszweig in Deutschland weiterhin mit einem sinkenden Punktwert arbeiten müssen und zum Zeitpunkt ihrer Leistung nicht wissen, was sie dafür bekommen.

(Beifall)

Wer mich kennt, weiß, daß wir das dann auch tun. Das haben wir 1996 schon einmal getan. Die Hausärzte - weil ich Sie gerade sehe, Herr Kossow - standen drin; die möchte ich hier einbeziehen. Ich hoffe, daß auch das, was wir in Ihrem berühmten § 73 vereinbart haben, von der Selbstverwaltung realisiert wird - das ist auch zugesagt worden -, nämlich das mit Leben auszufüllen, was in diesem Paragraphen von der haus- und fachärztlichen Versorgung steht.

Wir unterstützen als Gesundheitsministerium und als Koalition prinzipiell das Initiativprogramm, die Finanzgrundlagen zu schaffen, jedenfalls für zwei Jahre, um die allgemeinärztliche Weiterbildung zu finanzieren. Ich bin in dem Punkt auch den Krankenkassen sehr dankbar, daß sie dazu bereit sind, weil sie dies als wichtige Qualitätsvoraussetzung und Versorgungsvoraussetzung des deutschen Gesundheitswesens anerkennen, und füge hier nur sicherheitshalber hinzu: Wir sollten uns auf das beschränken, was jetzt notwendig ist. Was wir jetzt brauchen, sind Rechtsgrundlagen für die Finanzierung der Weiterbildung durch die Krankenkassen in diesen zwei Jahren. Dazu sind wir bereit, und die Krankenkassen sind einverstanden. Aber wir sind nicht bereit, dieses Gesetz, mit dem die Finanzgrundlagen auf eine saubere rechtliche Basis gestellt werden, mit strukturellen Veränderungen in diesem Bereich - siehe Primärarztmodell - zu verbinden. Das werden wir nicht tun.

(Beifall)

 

Jetzt zu dem Spannungsverhältnis: Habt ihr nicht doch eine verkappte Budgetierung? Denn auf der einen Seite sagt ihr uns: leistungsgerechte Vergütung im Krankenhaus und im niedergelassenen Bereich, und auf der anderen Seite sagt ihr: Beitragssatzstabilität.

Ich wiederhole hier, was ich den Verantwortlichen der deutschen Ärzteschaft, insbesondere Ihnen, Herr Schorre, zu diesem Verhältnis von medizinischer Orientierung und Beitragssatzstabilität mitgeteilt habe. Natürlich bleibt die Beitragssatzstabilität auch in der Zukunft ein wichtiges und ehrgeiziges Ziel. Das bedeutet allerdings nicht, daß wir den Grundsatz der Beitragssatzstabilität im Sinne einer strikten Anbindung der Ausgaben an die Entwicklung der Einnahmen zur Meßlatte für mögliche Zuwächse machen. Denn dann hätten wir wieder genau die Budgetierung, die wir nicht wollen. Deshalb kann es in einzelnen Leistungsbereichen durchaus sein, daß dann, wenn die medizinische Orientierung einen höheren Zuwachs erforderlich macht, als in dem Jahr gerade die Grundlöhne gestiegen sind, die Steigerungsrate auch oberhalb der Grundlohnsumme liegt.

Herr Schorre, was Sie auf dem Ostdeutschen Ärztetag am Schluß Ihrer Rede gesagt haben, unterstreiche ich mehr als zweimal. Die Gesellschaft kann nicht von den Ärzten immer mehr Leistung und Spitzenqualität verlangen, ihnen aber die dafür notwendigen Finanzmittel vorenthalten. Das ist auf Dauer nicht durchhaltbar.

(Beifall)

Deshalb können wir nicht über die Beitragssatzstabilität eine verkappte Budgetierung weiterfahren. Sie ist eine Orientierungsgröße, aber keine Meßlatte, die dann, wenn der medizinische Bedarf nachgewiesenermaßen höher ist, nicht überschritten werden dürfte.

Dann beginnt die politische Aufgabe. Wenn man auf dem Standpunkt steht: Budgetierung nein, zusätzliche Wirtschaftlichkeitsreserven, jedenfalls in Milliardengrößenordnung, nein, und wenn man die Sozialversicherungsbeiträge wegen der Arbeitslosigkeit und wegen der Kaufkraft der Arbeitnehmer nicht erhöhen kann, dann müssen wir uns die Frage vorlegen: Entweder wir rationieren offen, oder wir sorgen dafür, daß mehr Finanzmittel in dieses System kommen.

Da kann man sich jetzt vieles vorstellen. Nur, mir nutzt es überhaupt nichts, wenn man schöne Pläne am Reißbrett hat. Das entscheidende Problem der Demokratie ist, daß man für die Umsetzung der Pläne Mehrheiten braucht. Wir haben die Mehrheiten für die Selbstbeteiligung bekommen, und ich wüßte nicht, wie wir heute ohne die 5 bis 6 Milliarden DM die medizinische Versorgung gewährleisten sollten.

Ich habe nie gesagt, das sei eine Jahrhundertreform, und habe jetzt begründet, warum die Erhöhung der Selbstbeteiligung, die am 1. Juli letzten Jahres in Kraft getreten ist - um der Versuchung vorzubeugen, daß jemand sagt, ich hätte schon wieder eine neue angekündigt; wir reden über das, was jetzt Status quo ist -, unausweichlich war. Denn die Alternative - das muß man den Menschen sagen - wäre eine offene Rationierung. Das ist die unsozialste Lösung, denn dann haben wir die Selektion, dann haben wir die Ausgrenzung, und dann haben wir das Privileg des großen Geldbeutels, daß sich derjenige den medizinischen Fortschritt erkauft, der ihn sich leisten kann. Das kann man nicht wollen.

(Beifall)

Deshalb muß ich auch etwas zu dem Vorschlag sagen, wir sollten die Krankenversicherung auf 50 Prozent der heute Versicherten beschränken - nicht kritisch, Herr Montgomery, denn ich finde, es gehört zu einer pulsierenden Demokratie, daß man überlegt, auch mittel- und langfristig, wie es weitergehen kann. Ich habe gestern noch unsere Rechner darangesetzt; ich glaube, sie haben auch mit Ihnen telefoniert. Sie waren übrigens froh, daß sie wieder einmal etwas zu arbeiten hatten.

(Heiterkeit)

Das Problem, Herr Montgomery, ist: Wenn man die gesetzliche Krankenversicherung auf den Personenkreis reduzieren würde, der zu den Gering- oder Durchschnittsverdienern gehört, also auf 50 Prozent des heutigen Versichertenkreises, dann wären das im Ergebnis beinahe alle Rentner und etwa 44 Prozent der allgemeinen Krankenversicherten. Wenn Sie jetzt davon ausgehen, daß diese den gleichen Beitragssatz wie heute bezahlen, nämlich 13,6 Prozent im Durchschnitt, dann haben Sie in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Unterdeckung von 65 Milliarden DM. Ich habe mir das heute nacht und auf der Herfahrt noch angesehen: Das Ergebnis einer Unterdeckung von 65 Milliarden DM ist plausibel, Herr Montgomery; es ist nicht von Rechnern getürkt, die gewissermaßen auf Weisung gerechnet hätten. Das bedeutet: Wollten Sie diese durch Krankenversicherungsbeiträge ausgleichen - was Sie ja nicht wollen -, dann müßten wir um mindestens vier Beitragssatzpunkte auf 17,6 Prozent erhöhen. Wollten Sie den fehlenden Betrag über die Steuern finanzieren, würde das beispielsweise bei der Mehrwertsteuer eine Erhöhung um fünf Prozentpunkte bedeuten.

Ich glaube nicht, Herr Montgomery - bei allem Respekt -, daß wir diesen Weg gehen können. Deshalb habe ich auch gesagt, er ist wohl nicht ganz der Realität angemessen - in aller Freundschaft und Zurückhaltung.

Zum Thema neue Bundesländer. Wir haben dort eine schwierige Finanzsituation der GKV einerseits und andererseits unbestritten die Tatsache, daß der Aufwand für die ambulante ärztliche Versorgung, gemessen an den Westwerten, am Schluß aller relevanten Leistungsbereiche liegt. Wir versuchen, die schwierige Finanzlage der GKV dort aufzufangen, indem wir - gegen größten Widerstand - die West-Ost-Hilfe durchgesetzt haben. Das sind 1999 nach drei Jahren immerhin 3,6 Milliarden DM. Das wird dazu beitragen, daß die Defizitsituation im Osten beendet werden kann, für die weder die Beteiligten im Gesundheitswesen noch die neuen Bundesländer etwas können, denn dort herrscht nicht nur eine Einnahmestagnation, sondern sogar ein Rückgang der Einnahmen. Das können sie aus eigener Kraft nicht schaffen; da müssen wir helfen.

Das Gesetz ist in Kraft. Das war für mich - wenn ich beim Transplantationsgesetz vom stolzesten Erlebnis gesprochen habe - das schwierigste Erlebnis in meiner politischen Tätigkeit, weil dies auch in meiner eigenen Partei gewisse Magnetfelder in Bewegung gesetzt hat. Aber es ist in Kraft. Ich bitte die Ärzte der neuen Länder um Verständnis, daß wir es zunächst einmal - anders hätten wir die Zustimmung im Bundestag und im Bundesrat nicht erhalten - dazu benutzen, die Defizite in den neuen Ländern abzubauen, was im übrigen die Finanzspielräume der GKV dort etwas verbessert.

Im übrigen bleibt die Lösung mit den Regelleistungsvolumina. Da haben Sie jede Unterstützung von uns, daß Sie aus Ihrer Schlußlichtposition herauskommen, daß Sie den medizinischen Versorgungsbedarf und nicht die Einnahmenentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung dort zur Grundlage von Verhandlungen machen. Wir haben vereinbart, daß das jetzt bei einer KV im Osten durchexerziert werden soll. Auch da haben Sie, Herr Schorre, die Frage gestellt: Was geschieht, wenn das nicht in absehbarer Zeit gelingt? Auch da sage ich: Dann muß der Gesetzgeber nachhelfen, weil wir nicht wollen, daß die ostdeutschen Ärzte auf Dauer und ohne jede Perspektive am Schluß dieser Skala Ost-West-Vergleich bleiben. Dabei bleibt es.

(Beifall)

Wir werden in voller Abstimmung - vorsichtshalber muß man das wegen der Präjudizwirkungen immer machen - ab 1. Januar 1999 auch die privatärztliche Vergütung in den neuen Ländern auf 90 Prozent des Westniveaus anheben. Der Verordnungsentwurf wird in Kürze dem Bundesrat zugeleitet. Dann wird die Verbundenheit mit den neuen Ländern dokumentiert werden können. Dies ist gerechtfertigt, weil die meisten privaten Versicherungen in den neuen Ländern die Westtarife als Versicherungsprämien erheben. Ich habe die Legitimation, Ihnen zu sagen, daß wir, falls nichts Unvorhergesehenes in wirtschaftlicher Hinsicht dazwischenkommt, ab dem 1. Januar 2000 auf 100 Prozent des Westniveaus gehen werden, wodurch dann in einem wichtigen Bereich die soziale Schranke zwischen Ost und West wegfällt.

Das betrifft die privatärztliche Vergütungsordnung. Man kann Vergleichbares nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung machen. Denn in der gesetzlichen Krankenversicherung haben die östlichen Krankenkassen nur 80 Prozent des Westniveaus an Einnahmen. Da kann man nicht die Ausgaben auf 100 Prozent hochhieven. Im übrigen würde das sofort Schlußfolgerungen im Krankenhausbereich und in vielen anderen Leistungsbereichen nach sich ziehen.

Meine letzte Bemerkung betrifft Europa. Wir haben in Deutschland - das sage ich aus tiefer Überzeugung - die stabilste Demokratie in unserer Geschichte auch deshalb erlebt, weil wir im Staatsaufbau das Prinzip der Subsidiarität und des Föderalismus haben. Nach der alten christlichen Soziallehre - wahrscheinlich war dies auch die Erfahrung der Verfassungsväter und -mütter - heißt das: Man soll einer größeren Einheit nichts übertragen, was eine kleinere genausogut erledigen kann. Ich bin ein überzeugter Anhänger der europäischen Integration. Das ist eine Jugendvision von mir, weil ich mir immer vorgestellt habe, daß damit uns und unseren Kindern das erspart wird, was die Kriegsgeneration an Krieg, Vertreibung, Flucht, Verlust der Heimat und der Angehörigen erleiden mußte. Aber, meine Damen und Herren, man ist kein Europafeind und kein Europagegner, wenn man auch in Europa Wert darauf legt, daß dieses Europa bürgernah und nicht zentralistisch organisiert ist.

(Beifall)

Wir stellen fest, daß die Europäische Kommission administrativ entscheidet und der Europäische Gerichtshof, unter Umständen durch Gerichtsentscheidung, die Kompetenzen im Zweifel immer zugunsten der europäischen Institutionen verteilt. Wenn es nur um die Brille ginge, dann bräuchte niemand mit mir zu diskutieren. Aber wir stellen in einer Woche fest, daß wir in Deutschland plötzlich für eine Spanierin Erziehungsgeld zahlen müssen, obwohl sie hier nicht arbeitet. In der Woche vorher mußten wir Pflegegeld ins Ausland exportieren, ohne kontrollieren zu können, ob es für die Pflegebedürftigen verwandt wird. Dann ging es um eine kieferorthopädische Behandlung, und wieder eine andere Woche bekommt ein Italiener, der seine Familie nachholt und nicht ernähren kann, Sozialhilfe, wird dann bei uns abgelehnt, und die Europäische Kommission sagt: Freizügigkeit geht vor, ihr müßt die Sozialhilfe gewährleisten.

So geht es immer weiter. Wenn man diese Versorgung will, muß man sie politisch gestalten, aber man kann sie nicht nach dem Dominoeffekt Schritt für Schritt in kleinen Dosen unter Bezug auf den Binnenmarkt gewähren.

Lassen Sie sich nicht von den Erfahrungen mancher im kleinen Grenzverkehr täuschen. Wir geben heute nicht einmal 1 Prozent für die Auslandskrankenbehandlung aus; 700 Millionen DM von 250 Milliarden DM. Das ist zu vernachlässigen. Das sind die Notfälle, in denen die medizinische Versorgung hier nicht möglich ist, nach Genehmigung der Krankenkasse oder im kleinen Grenzverkehr in Aachen und Umgebung und anderswo. Nur: Wenn Sie den Deutschen generell, ohne Genehmigung durch die Krankenkasse, die Möglichkeit geben, Gesundheitsleistungen europaweit in Anspruch zu nehmen, zu Lasten der deutschen Krankenversicherung, müssen Sie zwei Dinge wissen - die sollten Sie wissen, bevor uns die Augen überlaufen -: Erstens. Jede Million, die ins Ausland fließt, steht für die Gesundheitsversorgung in Deutschland nicht mehr zur Verfügung. Zweitens beerdigen Sie die Illusion, die Behandlung im Ausland wäre für die deutsche Krankenversicherung billiger als die im Inland. In einer Sozialunion gibt es nur zwei Möglichkeiten - deshalb haben wir sie erbittert auch im Amsterdamer Vertrag abgelehnt, in dem Fall mit voller Unterstützung des bayerischen Ministerpräsidenten -: Entweder müssen wir unser Sozialsystem runterfahren - dazu hat uns die Kommission letzte Woche schon aufgefordert -, oder andere fahren ihren Standard hoch, und die Deutschen zahlen ihn; das nennt man Transferunion.

Beides wollen wir nicht. Genau das würde aber im Gesundheitswesen stattfinden. Wenn ein spanischer Arzt - das ist nicht vorwurfsvoll gesagt; jeder von uns würde genauso handeln, weil er rational handelt - weiß, daß der deutsche Patient die deutschen Krankenkassensätze erstattet bekommt, dann steht nirgendwo - das entspricht auch nicht biblischer Erfahrung -, daß seine Barmherzigkeit so groß sein muß, daß er freiwillig unterhalb dieser Sätze bleibt. Und wenn man - was die Kassen wollen - Harmonisierung durch die Absenkung der Sätze erzwingt, haben Sie, wie mir ein führender Medizinproduktehersteller in Oberfranken heute gesagt hat, die Rückwirkung, daß Sie diese Niedrigpreise in die Bundesrepublik Deutschland importieren. Aber mit Niedrigpreisen aus Griechenland, Spanien oder Portugal können Sie ein hochwertiges Gesundheitswesen in Deutschland nicht mehr finanzieren.

(Beifall)

Im Krankenhausbereich ist es am schlimmsten. Wir müssen die Krankenhäuser hier in Köln und auch die ärztliche Bereitschaft weiter bereithalten, rund um die Uhr und am Wochenende. Wir können hier nicht sagen, daß, weil sich vielleicht 3 Prozent der Bevölkerung im Ausland behandeln lassen, die Aufwendungen im Krankenhausbereich um 3 Prozent schrumpfen. Wir haben also die Aufwendungen hier plus die Kosten für die Krankenbehandlungen im Ausland. Was das für das deutsche Gesundheitswesen bedeutet, muß ich Ihnen nicht sagen. Ich möchte nur, daß nicht ein böses Erwachen entsteht.

Deshalb hoffe ich, daß wir das durchsetzen, was wir anstreben, nämlich so weiterzufahren, wie wir es jetzt haben, und daß wir die Frage, wie es sich mit dem freien Dienstleistungsverkehr, mit dem freien Warenverkehr, mit der Freizügigkeit im Spannungsverhältnis zu der von uns heute nicht gewollten Sozialunion verhält, politisch gestaltend auf den nächsten europäischen Gipfeln miteinander besprechen. Es kann nicht sein, daß der Europäische Gerichtshof nach dem Zufallsprinzip Kompetenzen auf Europa überträgt, obwohl der Deutsche Bundestag und der Bundesrat zum Amsterdamer Vertrag vor wenigen Wochen entschieden haben: Es bleibt bei der nationalen Kompetenz der Gesundheitspolitiken, und eine Harmonisierung der Gesundheitspolitik findet nicht statt.

(Beifall)

Auch ich weiß, daß nicht morgen massenhafter Medizintourismus entstehen wird. Es beginnt nicht mit der Darmoperation in Mailand, sondern es beginnt mit - gestatten Sie mir den Begriff, ohne daß ich da jetzt Briefe bekomme - der weichen Medizin. Das fängt an mit psychotherapeutischer Behandlung bei schöner Sonne und mit Krankengymnastik. Ich habe gesagt, daß sich jetzt niemand angesprochen fühlen soll. Spätestens, wenn eine sizilianische Heilmethode zu Lasten der deutschen Krankenversicherung abgerechnet wird, werden die Leute sagen: Konntet ihr nicht erkennen, was da auf uns zukommt? Da wollen natürlich die Harmonisierer in Europa sofort wieder die Macht, das zu harmonisieren. Dann sind plötzlich Dinge, die in Deutschland verteufelt worden sind, wie die Kostenerstattung beim Zahnersatz, das Vorbildmodell für ganz Europa.

Das wollte ich noch zu Europa gesagt haben. Wehret den Anfängen, meine Damen und Herren!

Herr Hoppe, es freut mich, daß Sie sich freuen. Auch ich konnte mir vor sechs Jahren in Dresden nicht ausmalen, daß es so kommen würde: Ich bin jetzt in der Tat der dienstälteste Bundesgesundheitsminister. Nur deshalb - nicht wegen der vor uns stehenden Termine - möchte ich den Anlaß wahrnehmen, nach einer doch beachtlichen Wegstrecke der Bundesärztekammer, an der Spitze Herrn Dr. Vilmar, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Herrn Dr. Schorre und auch seinem Vorgänger, Herrn Dr. Oesingmann, sehr herzlich für die nicht immer spannungsfreie, aber im großen und ganzen doch von Vertrauen geprägte Zusammenarbeit in diesen sechs Jahren zu danken. Es war nicht immer leicht; ich würde sagen, es war auch nicht verkehrt, wenn wir gelegentlich unterschiedliche Positionen gehabt haben, denn zuviel Harmonie ist verdächtig. Es gibt eine alte Lebensweisheit: Wenn alle das gleiche denken, denkt niemand mehr gründlich.

Deshalb lade ich uns ein, daß wir auch in der Zukunft diese Art des Diskussionsstiles, der Diskussionskultur, der Zusammenarbeit pflegen. Es war angenehm. Ich glaube, wir haben eine ganze Menge in der richtigen Richtung auf das Gleis gesetzt. Bitte quälen Sie mich nicht anschließend, Herr Dr. Vilmar, und sagen: Das habe ich Ihnen alles schon vor zehn und zwanzig Jahren gesagt, das hätten Sie alles schon früher machen können. Ein bißchen Barmherzigkeit wäre schon angebracht.

(Beifall - Heiterkeit)

Was uns auch ein bißchen gelungen ist: ein Stück mehr Partnerschaft wenigstens anzustoßen. Ich würde mir das nicht nur innerhalb der Ärzteschaft, zwischen Ärzteschaft und Politik, sondern auch zwischen Ärzten und Krankenkassen wünschen. Das bedeutet nicht Interessensidentität, sondern einen bestimmten Geist, eine bestimmte Kultur beim Austragen der Interessensgegensätze.

Wohin das führen kann, hat die Diskussion zu den Herzklappen, die für meine Begriffe in den letzten drei Jahren erstaunlich verlaufen ist, gezeigt. Mir ist nicht bekannt, daß das bis jetzt zu einer Konsequenz geführt hätte, jedenfalls nicht zu einer relevanten Konsequenz. Aber es ist gelegentlich eine ganze Berufsgruppe pauschal diskreditiert und diskriminiert worden, wie mit dem Vorschlag der Kassenpolizei. Deshalb haben Sie da - wie auch in der Vergangenheit - meine volle Unterstützung: Wenn man den Verdacht hat, daß die Phantasie größer ist als das Wissen, gilt die Unschuldsvermutung des Grundgesetzes. Wir müssen allen Bestrebungen entgegentreten, eine ganze Berufsgruppe wegen einzelner Fehltritte pauschal zu diffamieren.

(Beifall)

Wir müssen den eingeschlagenen Weg beharrlich und dauerhaft weitergehen. Es gibt kein Zurück mehr zum gesundheitspolitischen Neandertal. Ich möchte ein humanes, modernes, leistungsfähiges Gesundheitssystem, das offen ist für den Fortschritt. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß die einen im Herzen die Ungewißheit tragen, ob das nach dem 27. September möglich ist, und andere das vielleicht sogar als Drohung verstehen. Der nächste Deutsche Ärztetag findet in Cottbus statt. Ob Sie wollen oder nicht: Sie werden mich wieder erleben.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender lebhafter Beifall)