Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 19. Mai 1998, 15.00 Uhr

Gürzenich der Stadt Köln
(Musikalische Umrahmung: Ursula Schoch)
 
Dr. Dr. h. c. Karsten Vilmar, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Herr Minister Seehofer! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ärztekammer Nordrhein und ihrem Präsidenten Jörg Hoppe danke ich zunächst für die freundliche Begrüßung, die exzellente Vorbereitung und die Einstimmung mit einer Violine.

Sicher soll die Ärzteschaft mit einer Stimme sprechen; das ist richtig. Aber ich habe den Eindruck, daß bei manchen Entwicklungen die Violine nicht ausreicht und da eine gut konzertierte Blasmusik, hin und wieder mit Paukenschlägen, doch wirkungsvoller ist.

(Heiterkeit)

Wir werden das gemeinsam weiter tun, und wir hoffen, daß wir dann auch in der Politik Gehör finden.

Wichtig scheint mir auch der Hinweis auf die Ausführungen von Herrn Taupitz zu den Veränderungen der Selbstverwaltung. Wir werden darauf in anderem Zusammenhang noch zurückkommen.

Der Bürgermeisterin Canisius danke ich für die Ausführungen zu den Kölner Gesundheitstagen und insbesondere ihren Appell - den ich gerne gehört habe -, daß Eigeninitiative und Eigenverantwortung gestärkt werden müssen, um die Gesundheit zu erhalten.

(Zustimmung)

Ich glaube, es sollte einmal klar unterstrichen werden, daß Eigenverantwortung nicht immer der Griff in die Tasche des Nächsten ist, sondern daß Eigenverantwortung viel umfassender ist als der Griff in das Portemonnaie.

Bei Ihrer Rede, Herr Sendler, kam mir der Gedanke, daß Sie in Anbetracht der Ausführungen von Herrn Hoppe eigentlich der ideale Sparringspartner sind, um Streitkultur zu pflegen. Wir haben viele kontroverse Ansichten. Es würde schon reizen, diese einmal eingehender miteinander zu besprechen. Sie sagten, die Ärzteschaft möge das mit Augenmaß einbringen, was sie für richtig hält. Ich meine, wir haben das seit vielen Jahren getan. Es ist leider viel zuwenig darauf gehört worden. Es ist ja hier nicht nur der Bund gemeint - da haben wir auch schon etwas anderes erlebt, gerade an dieser Stelle -, sondern auch die Länder sind gemeint. Es wäre wünschenswert, wenn auch die Länder künftig mehr auf das achten würden, was die Ärzteschaft dort vorbringt, denn wir brauchen einen Konsens zwischen Bund und Ländern, eine Mehrheit für Vernunft, eine Mehrheit für vernünftige Regelungen. Wir sollten nicht versuchen, zu globalisieren und zu dirigieren, wir sollten nicht aus dem mündigen Bürger den entmündigten Patienten machen.

(Beifall)

Wenn Sie ausgeführt haben, daß es notwendig sei, das Krankenhaus in den Griff zu bekommen, dann ist das genau das Beispiel, das gegen staatliche Planung spricht. Denn seit 1972 besteht eine staatliche Krankenhausbedarfsplanung, und jetzt beklagen Sie selbst diese Auswirkungen. Das ist schon bemerkenswert.

(Beifall)

Aber wie gesagt: Sie haben an die Streitkultur erinnert, und wir sollten das in anderem Zusammenhang an anderer Stelle fortsetzen.

Ihnen, Herr Minister Seehofer, danke ich sehr herzlich für Ihre ganz klaren Bekenntnisse zu einem freiheitlichen Gesundheitssystem, zu einem pluralistischen Gesundheitssystem. Mir zeigt das, daß die vielen Gespräche, die wir geführt haben, nicht vergeblich waren.

(Beifall - Heiterkeit)

Das ist aber eben auch ein Teil der Streitkultur. Wir haben uns - ohne das im einzelnen zu analysieren - an das gehalten, was schon die alte Philosophenschule in Griechenland, die Peripatetiker, gemacht hat: Wir haben erst einmal den Ausführungen des anderen zugehört, haben sie oftmals sogar in Kurzfassung wiederholt, um zu dokumentieren, daß sie verstanden worden sind, und haben dann gemeinsam um einen vernünftigen Weg gerungen. Ich glaube, das war der richtige Weg. Wir haben vernünftige Entwicklungen eingeleitet, die wesentlich umfassender hätten sein können, wenn sich nicht über etliche Jahre ein Wahlkampf hingezogen hätte.

Sie haben recht: Es vollzieht sich ein Paradigmenwandel, und die Sparpolitik kann uns nicht weiterhelfen. Wir müssen eine humane Medizin betreiben, und das wird nicht möglich sein mit Dirigismus, Budgetierungen und weiteren einengenden Bestrebungen und Bestimmungen. Die gesetzliche Krankenversicherung hat auch nicht die Aufgabe, Einkommensunterschiede der Bürger auszugleichen. Sie ist keine Umverteilungsmaschinerie.

(Beifall)

Wenn der Staat glaubt, ausgleichend tätig werden zu sollen und zu müssen, dann müßte er dies über Steuern machen und dürfte es nicht der gesetzlichen Krankenversicherung zuweisen.

(Beifall)

Wir werden Ihr Partner sein, wenn es darum geht, weitere Bürokratisierung zurückzuweisen. Wir wehren uns gegen Diffamierungskampagnen. Wir wehren uns gegen Rationierung. Wir sind sehr froh, daß Sie es nun auch mit ermöglicht haben, daß die Qualitätssicherung der ärztlichen Berufsausübung durch die Regelungen im SGB V Sache der Ärzteschaft wird.

Wir hoffen, daß diese Dinge auch weiterhin fortgesetzt werden können, damit wir vernünftige Regelungen in der Gesundheitspolitik und in der Gestaltung unserer sozialen Sicherungssysteme erreichen können. Denn es ist nicht so - das ist der Punkt, in dem ich Ihnen nicht zustimme -, daß alle Reformen erfolgt sind. Das, was der Bundesgesetzgeber in der politischen Situation hat machen können, ist zweifellos geschehen. Aber wir haben an vielen Stellen weiteren Reformbedarf, in den Ländern, in den Gemeinden, in den Krankenhäusern. Das sollten wir mit politischer Argumentation, aber vor allen Dingen mit dem erforderlichen Sachverstand gemeinsam angehen, um Lösungen zu finden, die dann auch den Erwartungen und den Bedürfnissen der Bürger gerecht werden.

19 Wochen vor den Wahlen zum 14. Deutschen Bundestag, die auch für das Gesundheitswesen als Richtungswahlen gewertet werden, haben die Delegierten und viele andere, die die Meinung hören, die hier geäußert wird, Gelegenheit, über die Entwicklung der vergangenen Jahre Bilanz zu ziehen. Ich hoffe, sie tun es. Ich hoffe auch, daß die verantwortlichen Politiker viele Vorstellungen und Forderungen der Ärzteschaft für die Gestaltung des Gesundheitswesens hören.

Das gemeinsame Ziel aller Ärztinnen und Ärzte ist es doch, auch künftig eine gute individuelle ärztliche Versorgung der Patienten zu sichern und die Erkenntnisse der Wissenschaft ebenso wie neue technische Möglichkeiten zu nutzen. Das gilt trotz vieler heterogener Interessen, die es in der Ärzteschaft zweifellos gibt. Aber in diesem Ziel sind wir uns einig. Wir betrachten auch die Versorgung als Gesamtversorgung und nicht immer nur röhrenförmig auf einen Sektor gerichtet. Denn nur so sind letzten Endes Diagnostik, Therapie und Rehabilitation für die Patienten noch sicherer zu machen, nur so ist auch die Prävention wirksam zu gestalten, und nur so ist die im internationalen Vergleich außerordentlich hohe Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitswesens zu wahren.

Die erweiterten Möglichkeiten der Wissenschaft und Technik eröffnen uns große Chancen. Sie sind freilich auch mit Risiken verbunden. Das erfordert eine ethische Neubewertung vieler dabei erkennbar werdenden Probleme. So ist zu klären, wo und welche Grenzen gezogen werden müssen. Dazu gehören auch Fragen der Finanzierbarkeit und der Gestaltung unserer gesetzlichen Krankenversicherung in einem sich wirtschaftlich rasch verändernden Umfeld. Werden die in der Vergangenheit bewährten Versicherungs- und Versorgungsstrukturen auch künftigen Belastungen gewachsen sein, oder werden sie darunter zusammenbrechen? Das ist doch die ganz entscheidende Frage, die uns nun schon seit Jahren bewegt. Wir haben uns deshalb gemeinsam entschlossen, hier die tragenden Elemente durch Umbau und Rationalisierung vor Überlastung zu schützen und sie zu festigen.

Zu berücksichtigen sind dabei die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Veränderungen in der Demographie, die Auswirkungen des gemeinsamen Marktes in der Europäischen Union mit Einführung einer gemeinsamen Währung und dem daraus resultierenden weltweiten Wettbewerb. Notwendig ist eine Gesamtanalyse der herkömmlich getrennten Versorgungsbereiche in Praxis und Klinik. Wir haben neulich im Ministerium intensiv darüber gesprochen. Denn die bislang meist sektorale Betrachtung hat ebenso wie manche vorwiegend ideologisch geprägte Vorstellung in aller Regel nur zu einem Kurieren an Symptomen geführt und dadurch sogar gravierende Fehlentwicklungen bewirkt.

In die Überlegungen einbezogen werden müssen die Konsequenzen, die sich für die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ergeben. Sie sind viel weitergehend als bisher. Es muß unser Bestreben sein, hier zu erreichen, daß Bürger und Bürgerinnen der europäischen Mitgliedstaaten ihre in einem Staat erworbenen Ansprüche an sozialer Sicherung auch in einem anderen Staat realisieren oder sie dahin transferieren können. Das muß aber im Wege der Konvergenz und darf nicht im Wege der Harmonisierung geschehen.

Mit Ihnen, Herr Minister Seehofer, sind wir - wenigstens ich - der Meinung, daß das nicht allein durch Richterrecht gestaltet werden kann, sondern daß wir hier politisch tätig werden müssen und entweder national oder in Europa die entsprechenden Regelungen haben müssen.

(Beifall)

Das ist dringend überfällig, denn nur so werden wir dann auch die Qualität der Versorgung in Europa sichern können und den Menschen wirklich die Freiheiten ermöglichen, an die wir bei der Gründung der Europäischen Union und bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die ja nicht allein eine Wirtschaftsgemeinschaft für Käse und Wein sein sollte, gedacht hatten.

Die Wahrung der Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland und in Europa hängt natürlich in hohem Maße auch davon ab, welche Konsequenzen wir aus der weiterhin starken Zunahme der Zahl älterer Menschen ziehen. Nach dem zweiten Altenbericht der Bundesregierung ist in Deutschland in den nächsten vier Jahrzehnten mit einer Verdoppelung der Altenquote zu rechnen. Damit verbunden ist eine starke Verschiebung des Verhältnisses der Zahl der noch nicht oder nicht mehr Erwerbstätigen zu der Zahl der Berufstätigen und damit der Zahl der Beitragszahler. Diese Entwicklung wird noch dadurch verstärkt, daß die Rentenzahlung heute im Alter von durchschnittlich 60 Jahren wesentlich früher als noch vor drei Jahrzehnten beginnt, während der Start in das Berufsleben wegen längerer Ausbildungszeiten später erfolgt, bei vielen Akademikern erst mit rund 35 Jahren. Wir fürchten, daß bei Ärzten, die dann schon 35 oder 40 Jahre sind, danach die Arbeitslosigkeit folgt. Hier müssen wir dringend Lösungen bekommen. Ich bitte Sie, sich dieser Thematik weiterhin intensiv anzunehmen.

Trotz der seit langem erkennbaren Entwicklungen wie auch der Veränderungen aus dem europaweiten Wettbewerb, die sich nach Einführung des Euro als gemeinsamer Währung noch weiter verstärken und darüber hinaus durch weltweite Konkurrenz beeinflußt werden, konnten dringend notwendige Reformen wegen des langen Bundestagswahlkampfes bislang leider nicht durchgeführt werden. Offensichtlich hatte hier Parteitaktik Vorrang vor dem Allgemeinwohl. Diese Feststellung kann auch nicht dadurch übertönt werden, daß angesichts des heranrückenden Wahltermins notwendige Reformen gerade von denen besonders lautstark angemahnt werden, die sie bislang verhindert haben.

(Beifall)

Offensichtlich hofft man dabei doch auf ein flächendeckendes Kurzzeit- und ein fehlendes Langzeitgedächtnis.

Um endlich zu langfristig tragfähigen Reformen zu kommen, müssen die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland wie in Europa berücksichtigt werden. Ein Kurieren an Symptomen hilft niemandem, sondern verschlimmert die Lage. Dies wissen wir doch gerade als Ärzte ganz genau. Denn notwendige Eingriffe werden durch weiteres Abwarten immer größer und schmerzhafter, bis schließlich gar keine Erfolgschance mehr besteht. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat dies leider schmerzhaft gezeigt. Wir hatten eine Fülle von Gesetzesvorhaben, aber es hat letzten Endes keine grundlegende Änderung dadurch stattgefunden.

Mit dem 2. GKV-NOG sind - bei aller Kritik - jetzt doch Möglichkeiten für die Selbstverwaltung eröffnet worden, die konsequent genutzt werden müssen, wenn wir in Zukunft Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit erhalten wollen. Doch auch die Selbstverwaltung kann eben nicht alle Probleme selbst lösen, wenn der Staat es versäumt - ich denke da insbesondere auch an die Länder -, die Rahmenbedingungen zu schaffen. Selbstverwaltung kann nicht die Probleme lösen, für die es aus der Sache heraus keine Lösung gibt.

Zu den wichtigsten Aufgaben der Selbstverwaltung wird es aber auch in Zukunft gehören, bei den politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern ebenso zielstrebig wie hartnäckig Veränderungen und überfällige Reformen im Gesundheitswesen anzumahnen, um eine möglichst gute Versorgung sicherzustellen.

Wir haben unsere Vorstellungen mit Politikern der Koalition, aber auch der Opposition erörtert. Es besteht jetzt die Chance, daß man demnächst manches davon wird verwirklichen können, wenn nach diesem jahrelangen Wahlkampf wieder Vernunft einkehren sollte. Ich hoffe nur, daß man das bei allen politisch Verantwortlichen auch zur Kenntnis nimmt, habe allerdings Bedenken, daß dies überall geschieht. So muß man beispielsweise in einem Papier "Perspektiven sozialdemokratischer GKV-Politik" der SPD-Gesundheitsminister lesen - Sie sprachen es bereits an, Herr Minister Seehofer -:

Beim Gesundheitswesen handelt es sich um einen Wirtschaftszweig mit einer besonderen Ausgabendynamik, die mit dem spezifischen Status der Ärzte als Leistungsanbieter zusammenhängt. Wie kein weiterer Wirtschaftsbereich wird der Medizinkomplex von den Leistungsanbietern dominiert. Ärzte haben das gesellschaftliche Mandat, den Gesundheitszustand ihrer Patienten zu definieren und daraus Therapien abzuleiten. Ich frage: Wer soll das denn sonst machen, wenn nicht Ärzte?

(Beifall)

Dann geht es weiter:

Sie sind dadurch in der Lage, die Nachfrage nach den von ihnen angebotenen Leistungen wesentlich zu steuern und zu bestimmen. Dann heißt es - das haben Sie bereits zitiert -: Wird dieser Anbieterdominanz im Gesundheitswesen nicht durch Budgetierungen und andere Begrenzungen wirksam begegnet, sind überproportionale Ausgabenschübe bei tendenziell sinkender Leistungsqualität die Folge. Ich kann dazu nur feststellen: Ich habe als Unfallchirurg eigentlich nie erlebt, daß sich Menschen die Treppe heruntergestürzt oder vor Autos geworfen haben, weil wir so hübsche Operationsschwestern und so blankes Osteosynthesematerial haben, das wir gerne auf den Markt bringen möchten. Das ist eine völlig falsche Einstellung.

(Beifall)

Es ist schon mehr als bedrückend, wenn man feststellen muß, daß sich in dem gesamten Papier der SPD kein Gedanke zu den Konsequenzen aus der Entwicklung der Medizin in den vergangenen 30 Jahren findet, die es doch vielfach erst ermöglicht hat, vorzeitigen Tod zu verhindern, oft allerdings um den Preis der Dauerbehandlungsbedürftigkeit. In dem Papier findet sich kein Wort zu den demographischen Veränderungen, der Zunahme der Zahl der älteren Menschen, deren Multimorbidität, kein Wort über die Bedeutung des Gesundheitswesens für den Arbeitsmarkt, der angeblich allen immer so am Herzen liegt, und als Wirtschaftsfaktor, keine Analyse der sich aus diesen Entwicklungen zusammen mit der Veränderung der wirtschaftspolitischen Rahmendaten in Deutschland und Europa ergebenden Konsequenzen. Dazu kann man nach den Gesetzen der Logik nur feststellen: Wenn die Prämissen falsch sind, müssen auch die Schlußfolgerungen falsch sein.

(Beifall)

Dies trifft dann folgerichtig auch auf viele der in drei Stufen für die nächste Legislaturperiode von den SPD-Gesundheitspolitikern vorgesehenen Gesetzesvorhaben zu.

Richtig dagegen ist die Feststellung in dem Papier, daß die gesetzliche Krankenversicherung auf Grund der Politik der Koalition seit Ende 1995 gesundheits- und ordnungspolitisch am Scheideweg steht und daß es bei der Bundestagswahl um eine Richtungsentscheidung, um die "Systemfrage" geht.

Ich hoffe, daß wir heute hier viel Entscheidungshilfe bekommen haben, und ich wünsche, daß viele Ärzte die gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft intensiv lesen und sie mit den Vorstellungen der Parteien vergleichen. Dann wird ihnen die Richtungsentscheidung weiter erleichtert.

(Beifall)

Eine solche Entscheidung hat aber nicht nur Folgen für die künftige Gestaltung des Gesundheitswesens, sondern auch für unsere Alters- und Hinterbliebenenversorgung. Wer, wie die SPD, den als Angestellten tätigen Ärztinnen und Ärzten die im Sozialgesetzbuch VI § 6 Abs. 1 Satz 1 geregelte Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen der Mitgliedschaft in einem ärztlichen Versorgungswerk nehmen will, muß mit dem energischen Widerstand aller Ärzte rechnen.

(Beifall)

Geradezu absurd wird diese Forderung aber, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß das Befreiungsrecht doch erst Ende 1995 mit Zustimmung der SPD als Friedensgrenze zwischen der GKV und den Versorgungswerken gefestigt wurde.

(Beifall)

Auch die Glaubwürdigkeit des niedersächsischen Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder steht auf dem Spiel, der kürzlich noch vor der Kammerversammlung der Tierärztekammer Niedersachsen erklärt hat, er halte es für sinnvoll, daß die als Angestellte tätigen Angehörigen der freien Berufe vom Anfang ihrer Berufstätigkeit an Mitglied im Versorgungswerk sein könnten. Bundeskanzler Helmut Kohl hat sich ebenfalls klar für den Erhalt des Befreiungsrechts ausgesprochen. In einem für Juni geplanten Gespräch mit dem Kanzler werden wir dies und andere Vorschläge und Forderungen der Ärzteschaft zur Entwicklung der Gesundheits- und Sozialpolitik und zum Bestand der ärztlichen Versorgungswerke nochmals erläutern.

Wer - das muß man immer wieder ganz deutlich sagen - die Finanzierung der Rentenversicherung systemgerecht verändern will, darf nicht nach den als Angestellte tätigen Ärztinnen und Ärzte als neue Beitragszahler schielen, sondern muß die Rentenversicherung umfassend von versicherungsfremden Belastungen befreien und diese aus Steuermitteln finanzieren.

(Beifall)

Mit allem Nachdruck und mit großem Ernst sei deshalb an dieser Stelle nochmals betont: Hände weg von den Versorgungswerken!

(Beifall)

Vorrangiges Ziel der künftigen sozial- und gesundheitspolitischen Gesetzgebung muß es sein, den seit Einführung der Sozialversicherung geltenden Grundsätzen Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität wieder mehr Geltung zu verschaffen. Wir alle sollten uns auf das besinnen, was wirklich notwendig, zweckmäßig und ausreichend ist, wirtschaftlich erbracht werden kann und deshalb von der Solidargemeinschaft bezahlt werden muß. Dies umfaßt keineswegs alles, was in der Medizin heute wissenschaftlich und technisch möglich ist. Der Versicherte zahlt nämlich seine Beiträge für eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung im Krankheitsfall. Als Kranker kann er damit auch nur auf eine solche ausreichende Hilfeleistung von der Solidargemeinschaft Anspruch haben.

Allerdings ist die rechtliche Betrachtung nur eine Seite der Medaille. Das wissen wir nur zu genau, denn im ärztlichen Alltag erweist sich diese Formulierung als wenig hilfreich. Jeder Patient erwartet doch aus seiner subjektiven Empfindung heraus eine optimale und keineswegs nur eine ausreichende Behandlung, zumal ihn Politiker, Krankenkassen und sicher auch wir Ärzte jahrelang in dieser Einstellung bestärkt und unterstützt haben.

Wir werden uns an diese Dinge nach der Wahl sehr genau erinnern.

Die Zusammenhänge zwischen notwendig, zweckmäßig und ausreichend wurden auch bei der oft heftigen öffentlichen Reaktion auf den von der Selbstverwaltung, hier: der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, erarbeiteten Katalog "Individuelle Gesundheitsleistungen", den sogenannten IGEL-Katalog, erkennbar. Herr Sendler, es ergibt sich für meine Begriffe weder aus dem Gesetz, noch dürften es die beitragszahlenden Rentner oder Arbeitslosen einsehen, daß sie mit ihrem Geld zum Beispiel für tropenmedizinisch gewiß sinnvolle Impfungen bei Menschen aufkommen sollen, die zur Großwildjagd oder Fotosafari nach Afrika reisen,

(Beifall)

oder daß sie das Entfernen von Tätowierungen bezahlen sollen, die sich irgend jemand aus einer Bierlaune heraus in irgendeiner Kaschemme hat anbringen lassen.

(Beifall)

Dies sind Leistungen, die nicht in die Solidargemeinschaft gehören.

Grundsätzlich zu begrüßen ist die Absicht der Gesundheitsministerkonferenz, die Weiterbildung zum Allgemeinarzt fördern zu wollen. Dazu sollen die Krankenkassen ab 1. Januar 1999 bis zum 31. Dezember 2000 eine Anschubfinanzierung leisten, für die es bislang jedoch - Sie, Herr Minister Seehofer, haben darauf hingewiesen - an den rechtlichen Voraussetzungen im SGB V fehlt. Leider wird auch dieses Initiativprogramm mit Vorschriften belastet, die Weichenstellungen für eine Systemveränderung nach sich ziehen könnten. Ich bin Ihnen, Herr Minister Seehofer, deshalb sehr dankbar, daß Sie kürzlich in dem Gespräch in der saarländischen Landesvertretung, aber auch heute hier mit Nachdruck darauf hingewiesen haben, daß für eine rasche Lösung dieser Problematik ein Verzicht auf alle systemverändernden Vorschriften erforderlich ist.

(Beifall)

Die Delegierten werden sich mit dem vorliegenden Konzept beschäftigen und zu prüfen haben, ob damit die Konditionen in dem Beschluß des 100. Ärztetages erfüllt sind. Wir werden sehr genau darauf achten.

Deutlich zu verbessern wäre die allgemeinmedizinische Versorgung allerdings auch, wenn die heute in rund 60 Prozent der Zulassungsbezirke bestehenden Zulassungssperren für Allgemeinärzte aufgehoben würden und die Allgemeinärzte sich dort niederlassen könnten.

(Beifall)

Endlich klargestellt wurde gesetzlich, daß Qualitätssicherung in der Medizin ohne die Ärzteschaft nicht möglich ist. Wir sind Ihnen für diese Klarstellung im Gesetz und Ihre Ausführungen heute hierzu sehr dankbar. Seit Inkrafttreten dieses Gesetzes bemüht sich jetzt aber die Ärzteschaft, die notwendigen vertraglichen Regelungen zu schaffen. Es wäre dringend nötig, daß hier auch die Verhandlungspartner endlich zu konstruktiven Lösungen kommen. Diese konstruktiven Lösungen müssen natürlich auch mit beinhalten, daß die Finanzierungsfrage geregelt wird, denn die für die Finanzierung der Qualitätssicherung anfallenden Kosten können auf die Dauer nicht aus Honorar- oder Kammerbeiträgen gezahlt werden.

(Beifall)

Im Gegensatz zu Regelungen in der Industrie, wo die Qualitätssicherung je nach Bereich 2 bis 20 Prozent des Fertigungspreises erfordert, waren sie nämlich auch niemals in den Preisen für ärztliche Leistungen enthalten.

Für die Bundesärztekammer ergeben sich weitere wichtige Aufgaben auch aus dem zum 1. Dezember 1997 in Kraft getretenen Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen, dem Transplantationsgesetz. Dort hat nach § 16 die Bundesärztekammer die Aufgabe, in Richtlinien den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft für die verschiedenen Probleme festzustellen, die sich natürlich von einer Listenmedizin unterscheiden, denn sie müssen medizinisch-wissenschaftlich begründet werden. Daß der Gesetzgeber in die ärztliche Selbstverwaltung offensichtlich hohes Vertrauen setzt, geht aus der Formulierung in diesem Paragraphen hervor, die ich wörtlich zitiere:

Die Einhaltung des Standes der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft wird vermutet, wenn die Richtlinien der Bundesärztekammer beachtet worden sind. Ich hoffe, daß wir hiermit gute und für die Zukunft tragfähige Lösungen geschaffen haben, die es dann auch ermöglichen, den Patienten noch besser zu helfen, und in Zusammenarbeit mit allen an der Transplantation beteiligten Kliniken - das sind nicht nur die Transplantationszentren, sondern auch die Krankenhäuser, in denen Explantationen vorgenommen werden - eine Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland erreichen können.

Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Dynamik des Fortschritts in der Medizin verbietet es, das Gesundheitswesen planwirtschaftlich, dirigistisch und budgetierend verwalten zu wollen, sondern verlangt danach, flexibel und offen für Innovationen Gestaltungen vorzunehmen und neue Gestaltungsmöglichkeiten zu überlegen. In diesem Zusammenhang sei auf das Sondergutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen verwiesen, in dem es heißt - ich zitiere -:

Das Gesundheitswesen stellt einen erheblichen Wirtschafts- und Wachstumsfaktor in der Volkswirtschaft dar. Es dient nicht nur der Erhaltung, Wiederherstellung und Förderung von Gesundheit, sondern trägt mit den direkt und indirekt rund 4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und den von ihnen erbrachten Dienstleistungen zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und vor allem zu wünschenswerten Wirkungen auf den Arbeitsmärkten bei. Sie, Herr Minister Seehofer, haben in jüngster Zeit wiederholt betont - leider nicht so sehr in den früheren Jahren -, das Gesundheitswesen künftig medizinisch orientieren zu wollen und nicht nach fiskalischen Gesichtspunkten auszurichten.

Das aber scheint mir bei den SPD-Gesundheitsministern überhaupt nicht auf Gegenliebe zu stoßen. Denn dort wird schnell der Ruf nach einem gefälligen Sachverständigen laut. Es sei, so heißt es,

unmittelbar nach der Bundestagswahl erforderlich, den notwendigen Diskussionsprozeß und die Mobilisierung auch von wissenschaftlichem Sachverstand etwa durch konkrete Arbeitsaufträge an einen personell veränderten Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen oder die Einsetzung einer entsprechenden Enquete-Kommission zu organisieren. Heißt das eigentlich, daß man an Stelle objektiver Sachverständiger hier an Gefälligkeitsgutachter denkt?

Die Risiken neuer Entwicklungen dürfen niemals den Blick für die sich daraus auch für den Patienten ergebenden Chancen trüben. Die Ärzteschaft und ihre Selbstverwaltungskörperschaften werden freilich in den kommenden Jahren auch durch viele wegen der Entwicklung von Wissenschaft und Technik neue, bislang ungelöste ethische und rechtliche Probleme gefordert sein. Erinnert sei an die prädiktive genetische Diagnostik oder die somatische Gentherapie, für die durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer Richtlinien erarbeitet worden sind. Betont wird dabei, daß jede genetische Untersuchung freiwillig bleiben muß und die erhobenen Daten vertraulich bleiben müssen.

Anerkannt wird ausdrücklich das

Recht auf Nichtwissen und die informationelle Selbstbestimmung der Patienten. Dies gilt zum Beispiel auch für viele mit der In-vitro-Fertilisation und dem Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik zusammenhängenden Fragen, wie zum Beispiel der Gefahr einer Menschenauswahl. Die Ausweitung der medizinischen Indikation im Abtreibungsrecht ist ein Paradebeispiel dafür, daß politische Formelkompromisse mehr Schaden anrichten können, als Politiker oft wahrhaben wollen.

(Beifall)

Die Entwicklungen der Molekularbiologie lassen erwarten, daß sich in wenigen Jahren das Verständnis über die Entstehung und Behandlung mancher Krankheiten grundlegend wandeln wird und damit auch eine wirksamere Prävention als heute möglich wird. Weitere Forschung ist deshalb unverzichtbar, zu der auch - unter strengen Kriterien - Forschung an Nichteinwilligungsfähigen gehört, um nämlich deren Krankheiten wirksam behandeln oder gar verhindern zu können.

Bei allen Regelungen sind die bewährten Grundsätze des Genfer Gelöbnisses des Weltärztebundes vom September 1948 ebenso wie die Deklaration von Helsinki zur biomedizinischen Forschung am Menschen zu beachten. Mit der Menschenwürde ist es beispielsweise unvereinbar, wenn etwa Versuche zur Klonierung angestrebt werden. Für sie ist ein weltweites Verbot notwendig.

(Beifall)

Wir setzen uns im Weltärztebund dafür ein, und ich habe Hoffnung, daß wir im Herbst in Ottawa zu einer entsprechenden Deklaration kommen werden.

Zu begrüßen sind die Bestrebungen in der sogenannten Bioethikkonvention des Europarates, Mindestnormen zu vereinbaren, die in den einzelnen Staaten nicht unterschritten werden dürfen. Dabei wurden viele deutsche Vorschläge berücksichtigt. Es wäre deshalb unverständlich, wenn gerade Deutschland diese Konvention nicht zeichnen würde, zumal es nach der Konvention durchaus zulässig und möglich ist, engere gesetzliche Regelungen, wie sie in Deutschland beispielsweise im Embryonenschutzgesetz schon bestehen, aufrechtzuerhalten oder sogar neu zu kodifizieren. Ich finde es merkwürdig, daß man, statt froh darüber zu sein, daß es gelingen wird, europaweit Mindestnormen zu kodifizieren, bei uns wieder einmal nach der Einstellung handelt, daß offenbar am deutschen Wesen die Welt genesen muß.

Wir sollten uns also zur Zeichnung entschließen. Daher die Bitte an Sie, Herr Minister Seehofer, sich in der Bundesregierung dafür einzusetzen, daß die Bioethikkonvention gezeichnet wird.

Die ethische Verantwortung gegenüber dem Menschen wie der Gesellschaft erfordert mehr denn je auch eine intensive Kooperation mit den Vertretern der verschiedenen Wissensgebiete im Interesse des einzelnen Patienten ebenso wie zur Gestaltung einer vernünftigen Gesundheits- und Sozialpolitik. Die Dynamik der weltweiten faszinierenden Entwicklungen, auch in der Medizin, läßt sich nicht aufhalten. Telekommunikationstechniken werden dabei den Informationsfluß in bisher ungeahnter Weise verbessern und beschleunigen. Das erfordert national wie international Regelungen, um im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung und der Telekommunikation den Patientenschutz zu sichern, wozu neben dem Datenschutz auch die Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht gehört.

Trotz aller Fortschritte der Medizin bleibt das Leben endlich. Das ist uns allen und den Ärztinnen und Ärzten in besonderer Weise bewußt. Die ethische Verantwortung der Ärzte schließt nämlich eine schlichte Kosten-Nutzen-Rechnung aus. Wir benötigen auch keine neue Ethik, wie manchmal gesagt wird, sondern wir müssen zum Teil faszinierende neue Entwicklungen auf Grund bewährter ethischer Prinzipien neu beurteilen. Ärztinnen und Ärzte wollen auch nicht Schiedsrichter über den Wert eines Menschenlebens sein. Wir haben gerade in Deutschland damit bittere Erfahrungen hinter uns. Es bleibt vielmehr unsere humanitäre Pflicht, auch unheilbar Kranken und Sterbenden so wirksam wie möglich beizustehen.

(Beifall)

Den Patienten dürfen wir trotz vieler neuer Möglichkeiten nicht nur als Techniker des Fortschritts imponieren. Wir dürfen uns nicht nur als Somatotherapeuten verstehen und alles andere Psychotherapeuten, womöglich Psychologischen Psychotherapeuten, überlassen - bei aller Erkenntnis, daß auch diese in unserem Gesundheitswesen notwendig sind -, sondern wir müssen als Ärzte Helfer sein, die ihr Möglichstes tun, um die Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen und Leiden zu lindern.

Uns entbindet die Verantwortung bei der Behandlung des einzelnen Patienten dennoch nicht von der ethischen Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Unter Zurückstellung von Partikularinteressen, seien sie noch so verständlich, müssen wir aus der Verpflichtung gegenüber den Kranken und der Allgemeinheit die Kooperation verstärken, um gemeinsam ärztliche Argumentation in die politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse einbringen zu können. Das gilt bei Stimmentscheidungen wie bei ausgedehnteren Argumentationen.

Wir sollten deshalb auf unsere Leistungsfähigkeit vertrauen, um mit Sachverstand und Zuversicht an der Lösung der vielen großen und faszinierenden Zukunftsaufgaben mitzuwirken.

Ich danke Ihnen.

(Lebhafter Beifall)

 
Damit ist der 101. Deutsche Ärztetag eröffnet.

Ich bitte Sie nun, sich zum Singen der Nationalhymne von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne)

 
Es findet nun der Empfang der Bürgermeisterin Canisius im Foyer statt.