2. Tag: Donnerstag, 21. Mai 1998

Vormittagssitzung

Dr. Dr. h. c. Vilmar, Präsident:

Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne den zweiten Arbeitstag dieses 101. Deutschen Ärztetages und hoffe, daß Sie die gestrigen abendlichen Veranstaltungen einschließlich einer Schiffsexkursion gut überstanden haben und wir heute hier zügig in unseren Beratungen fortfahren können.

Ich mache Sie aufmerksam auf das gerade erschienene Buch "Fortschritt und Fortbildung in der Medizin", Band 22. Es enthält die Berichterstattung über unser 22. Interdisziplinäres Forum "Fortschritt und Fortbildung in der Medizin", das jährlich von der Bundesärztekammer veranstaltet wird, um Themen vorzugeben, neue Entwicklungen daraufhin zu prüfen, was in die Fortbildung einbezogen werden soll, was praxisrelevant ist und was vielleicht auch obsolet geworden ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt III auf:

Patientenschutz und moderne Kommunikationstechniken

Zu diesem wichtigen Thema begrüße ich als Referenten Herrn Professor Dr. Wilhelm van Eimeren, Institut für medizinische Informatik und Systemforschung des GSF-Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit GmbH in Oberschleißheim, Herrn Dr. Thomas Giesen, Sächsischer Datenschutzbeauftragter, und Herrn Dr. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Ärztekammer Hamburg und als solcher Mitglied des Vorstands der Bundesärztekammer.

Dazu liegt Ihnen die Ärztetags-Drucksache Nr. III-1 vor, ein Vorstandsantrag, in dem wir uns - auch mit Unterstützung der Referenten - bemüht haben, die relevanten Fragen in einer Entschließung zusammenzufassen, die wir nach den Referaten und nach der Diskussion hier verabschieden und der Öffentlichkeit kundtun wollen.

Ich erteile zunächst Herrn Professor Dr. van Eimeren das Wort. Bitte.

 
Prof. Dr. van Eimeren, Referent:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Thema lautet: Chancen und Notwendigkeit der Telematik. Wenn Sie so wollen, beschäftige ich mich vor allen Dingen mit den positiven Seiten dieses Themas.

Warum Telematik in der Medizin? Die Gesundheitssysteme der Industrienationen stehen vor großen Herausforderungen, sie müssen Leistungen und deren Finanzierung umstrukturieren. Mehr Leistung aus weniger Geld zu kitzeln ist dabei die erste Generalforderung. Das frei werdende Geld für eine weitere Verbesserung der Versorgung einzusetzen und somit ein Wachstum der Versorgung zu ermöglichen ist die zweite Generalforderung.

Solange sich die Lohnausgaben im Gesundheitswesen, verglichen mit anderen Wirtschaftsbereichen, überdurchschnittlich entwickeln - oder anders ausgedrückt: solange sich die Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen stärker entwickelt als das Bruttoinlandsprodukt -, ist nicht einmal der gegebene Stand der Versorgung sichergestellt. Das heißt, zunächst Wege aufzuzeigen, wie man eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens ohne einen weiteren Ausbau von Personal erreichen kann. Das Dilemma, ein personalintensiver Wirtschaftszweig zu sein, darf nicht als Charakteristikum des Gesundheitsmarktes auf Dauer hingenommen werden.

Wo lägen denn Reserven für eine höhere Produktivität? Eine Reihe von Studien haben die beträchtlichen Zeitaufwendungen - bis zu 50 Prozent der Arbeitszeit - belegt, die von der Arbeitszeit der Ärzte, aber auch seitens anderen medizinischen Personals, wie beispielsweise Krankenschwestern, auf die Suche, die Erfassung, die Aufbereitung und die Weitergabe von schriftlichen Patienteninformationen entfällt.

Je nach der Qualität der papiergeführten Krankengeschichten und der Organisation der Dokumentenflüsse kann allein auf die Suche nach früheren Befunden von Patienten bis zu 20 Prozent der Arbeitszeit entfallen. Zu diesem Aspekt des Arbeitsaufwands der Informationshandhabung treten die Störungen im Informationsfluß hinzu, die entweder zu Fehlern im Verständnis, zur erneuten Erhebung bereits erhobener Information oder zum Handeln unter Verzicht auf möglicherweise schon vorliegende wichtige Informationen führen.

Bei Patientenüberweisungen, Patientenaufnahmen und Patientenentlassungen und ähnlichen Vorgängen, bei denen der Status des Patienten umfassend zusammengestellt und beschrieben wird, fehlen in hohem Prozentsatz - in manchen Studien hierzu in bis zu 80 Prozent der Fälle - entscheidende Informationen.

Kann man vom systematischen Einsatz klinischer Dokumentations- und Kommunikationssoftware eine wesentliche Verbesserung in dieser Situation erwarten? Im Zusammenhang mit patientenorientierten Ablauforganisationen oder anderen arbeitsorganisatorischen Neuerungen, insbesondere im Krankenhaus, werden in Studien Kostenreduktionen im Ressourcenverbrauch von 15 bis 20 Prozent gemeldet bei gleichzeitig beträchtlichen stationären und ambulanten Verweilzeitverkürzungen. Dabei wurde eine Erhöhung des Patientendurchsatzes um bis zu 300 Prozent beobachtet. Viele neue Organisationskonzepte sind ohne telematische Mittel gar nicht durchführbar. Andererseits ist es auch wichtig, zu erkennen, daß entsprechende Organisation und Dokumentation das notwendige Rückgrat für den Erfolg bilden und nicht allein das Aufstellen von Geräten und die Installation von Programmen schon den Erfolg sichern.

In einer aktuellen USA-bezogenen Marktanalyse werden allein über die Integrationsleistung der Telematik, also allein über die Verbesserung der Informationsflüsse zwischen den Versorgern, jährliche Einsparungen in Höhe von 36 Milliarden Dollar erwartet, knapp 5 Prozent der nationalen Ausgaben für Gesundheit. Interessant ist dabei, daß Telekonsultation und Telefortbildung davon 235 Millionen Dollar ausmachen, also lediglich 6,5 Prozent.

CAPP CARE, eine Preferred-Provider-Organisation in den USA, stellt ihren 110 000 Kontraktärzten klinische Leitlinien zur Nutzung bei der Patientenbetreuung zur Verfügung und schreibt sie ihnen auch vor. Sie stellt sie auf einem tragbaren Praxiscomputer den Ärzten zur Verfügung. Sie reklamiert mit diesem Vorgehen bis zu 40 Prozent niedrigere Kosten bei gleichbleibender Qualität.

Natürlich ist Telematik mit Aufwand verbunden. Es stellt sich die Frage: Rechnet sich dieser Aufwand? Kostenstudien zur Telematik wurden bisher vornehmlich in den USA durchgeführt. Hintergrund solcher Studien war gelegentlich auch die berechtigte Sorge, durch Telematik in der Medizin könnten sich die Ausgaben auch erhöhen, und sei es nur, weil damit medizinisch gerechtfertigte Dienstleistungen auch an solche Patienten gelangen, die davon bisher nicht profitierten. Natürlich wurde auch eine ungerechtfertigte Leistungsausweitung befürchtet.

Studien, die sich auch den Auswirkungen von Telematik auf die Qualität der Leistungen stellten, zeigen, daß die in den Studien erfaßten telematisch gestützten Leistungen zu zwei Dritteln der Kosten eine gleiche Qualität wie die herkömmlichen erreichen. Im Falle des Verbleibens von Patienten in einem Krankenhaus niedrigerer Versorgungsstufe kann ein solches Haus nach einer US-Studie 150 000 Dollar im Jahr mehr in seinem Budget verbuchen, und zwar nach Abzug der Telematikaufwendungen.

Wo steht nun die medizinische Telematik in Deutschland? Die Entwicklung des Rechnermarktes in der niedergelassenen Praxis wurde durch die Einführung der Versicherten-Chipkarte erheblich befördert. Das gleiche gilt für die gesetzlichen Regelungen über den elektronischen Datenträgeraustausch zwischen den Leistungserbringern und der gesetzlichen Krankenversicherung.

Es ist in Deutschland noch so, daß der größte Teil der patientenbezogenen Information auf herkömmlichen Datenträgern - beispielsweise Papier, Film - erfaßt, weitergegeben und archiviert wird.

Aber auch für die elektronisch gespeicherten Informationen gilt, daß sie zumeist nur nach lokalen Gesichtspunkten gestaltet sind, also meistens nicht für Kommunikation zur Verfügung stehen, Medienbrüche somit unvermeidbar sind. Keiner von Ihnen im Saal, der klinisch tätig ist, sei es niedergelassen oder im Krankenhaus, kooperiert mit einem rechnerlosen Labor. Wenige von Ihnen sind in der Lage, Labordaten elektronisch entgegenzunehmen und weiterzuverarbeiten.

Was wären denn die ersten Schritte in die Zukunft? Ich will hier bewußt nicht näher auf die notwendigen Infrastrukturleistungen eingehen, die gleichsam die Plattform bilden, um auch die einfachste elektronische Anwendung im Versorgungsnetz denkbar zu machen. Es ist klar, daß die kommunikations- und sicherheitstechnischen sowie die vertraglichen und finanziellen Grundlegungen erfolgt sein müssen, um beispielsweise eine Anwendung wie das elektronische Rezept überhaupt realisieren zu können. Andererseits werden in Deutschland Weiterentwicklungen der Versorgung diskutiert, die meines Erachtens erst mit dem Einsatz der Telematik die erwarteten Vorteile voll einspielen könnten. Ich denke da zum Beispiel an den Einsatz klinischer Leitlinien oder die Realisierung von vernetzten Strukturen.

Erst die telematische Vernetzung der Versorger erlaubt ohne größeren täglichen Aufwand an Zeit und Personal die Einweisungs- und Entlassungsplanung, die Verfolgung der Überweisungs- und Konsultationsvorgänge zum Praxisklientel, die problemnahe Betreuung chronisch Kranker - etwa der Patienten mit Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes, Krebs -, die Koordinierung rehabilitativer und pflegerischer Programme, die Überwachung präventiver Maßnahmen von Impf- bis Früherkennungsprogrammen sowie eine schnelle Reaktion bei Rückrufaktionen.

Ist das nun einfach oder kompliziert? Lassen Sie mich mit einigen Beispielen lebendig machen, wie der Alltag in Zukunft aussehen wird.

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Diabetespatienten. Die Angaben über die Netzhaut werden telemetrisch an ein Grading Center übertragen, das diese Netzhaut beurteilt und Ihnen die Information gibt, daß es sich bei dieser Netzhaut um eine nicht proliferierende Retinopathia diabetica handelt. Sie stellen die Daten für eine Überweisung zum Augenarzt zusammen. Dafür gibt es Programme, die im Münchner Raum getestet wurden.

Sie geraten auf Abwege und wollen sich selbst ein bißchen augenärztlich schlau machen. Sie sind gerade dabei, dies zu tun, da kommt die Mitteilung, daß Sie bei Ihrem Patienten mit einer schweren Herzkomplikation konfrontiert sind. Sie müssen diesen Patienten also in ein Krankenhaus einweisen. Sie gehen an den Rechner. In den USA müßten Sie bei der Versicherung nachfragen, ob die Bedingungen, die Sie beschreiben, eine Kostenübernahme rechtfertigen. Möglicherweise lautet die Antwort: für zwei Tage in Ordnung.

Sie wählen auf dem Rechner das Krankenhaus an, das Ihnen und dem Patienten geeignet erscheint. Sie bekommen von dort das Datum mitgeteilt und die Aufnahme des Patienten in das Krankenhaus bestätigt. Sie haben also ein festes Datum für die Einweisung des Patienten in das Krankenhaus.

Wo sieht die internationale Literatur die Chancen des Telematikeinsatzes in der Medizin? Man kann hierzu medizinische, ökonomische und organisatorische Erwartungen trennen. Medizinisch erwartet man eine Verbesserung der professionellen Versorgungsqualität durch schnellere und leichtere Verfügbarkeit medizinischen Wissens. Dies führt zu geringeren Fehlerraten auf Grund besserer klinischer Dokumentation. Eine Verbesserung kann auch über die Telekonsultation mit anderen Spezialisten erfolgen, über den Zugriff auf medizinische Wissensbanken - beispielsweise Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Krankheiten, Arzneimitteldatenbanken -, durch die Vernetzung der regionalen Versorgungseinrichtungen und damit eine effiziente Grundlegung für eine integrierte Versorgung, durch eine verbesserte Rückkopplung zwischen Forschung und Praxis sowie durch eine verbesserte und verbessert nutzbare Fortbildung.

Es kann zu einer Verbesserung der sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen im Sinne von Telematik zur Erreichung einer größeren Nähe zwischen Versorgten und Versorgern bzw. zu einer besseren Patienteninformation kommen.

Die ökonomischen Erwartungen ließen sich so beschreiben, daß der Patient auf einer einfacheren Versorgungsstufe behandelt werden kann, was mehr Haus- als Facharzt, mehr ambulant als stationär und mehr Allgemein- als Spezialkrankenhaus heißen kann. Man erwartet den Wegfall von Doppeluntersuchungen, unnötigen Untersuchungen und auch verspäteten oder unwirksamen Behandlungsansätzen.

Gleichzeitig läßt sich eine bessere Auslastung - auch der Bereitschafts- und Notdienste - und eine stärkere Konzentration von Versorgungseinrichtungen auf ausgewählte Expertisenfelder erreichen.

Schließlich erwartet man hier wie sonstwo in der Wirtschaft einen niedrigeren medizinisch-administrativen Aufwand. Hierzu zählen die medizinischen Verwaltungsvorgänge der Dokumentation, Befunderstellung, Vorbefundsuche, Überweisungs-, Einweisungs- und Entlassungsbriefe, Rezepturen und vieles mehr.

Jedenfalls außerhalb von Ballungsräumen werden zudem für den Versicherten geringere Fahrtkosten und Arbeitsausfallzeiten erwartet.

Als organisatorische Konsequenzen einer intensiven medizinischen Telematik erwartet man eine Milderung der professionellen Isolierung im Rahmen der Möglichkeiten von Diskussionsforen im Internet sowie weitere Effekte, auf die ich jetzt nicht näher eingehen möchte.

Warum wird die medizinische Telematik in Deutschland kaum eingesetzt? Wo liegen die Hindernisse? Die Integration der Versorgung setzt Infrastrukturleistungen voraus, die ähnlich der bei anderen Kommunikationsgebieten sich für den einzelnen erst rentieren, wenn genügend andere investiert haben. Die Investition lohnt sich um so mehr, je mehr Anwender und je mehr Anwendungsgebiete angeschlossen sind.

Ein gegliedertes System wie das deutsche Gesundheitssystem kann sich hier nicht so leicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Ohne die Schaffung neuer Strukturen wird es nicht recht vorangehen. Es fehlen neue Strukturen, in denen Standards, Investitionen und exemplarische Anwendungsfelder vorgedacht bzw. ausgewählt und von den Partnern aus Versorgung, Krankenversicherung und Industrie dann gemeinschaftlich definiert werden. Erst auf dieser Basis könnte dann die Telematikindustrie um den Endkunden werben, ohne daß man eine Fragmentierung der Information auf Insellösungen befürchten müßte. Auch Formen der Fehlentwicklung und des Mißbrauchs müssen vermieden werden.

Die von mir hier herausgearbeiteten Chancen schließen Risiken nicht aus. Die sicher denkbaren Risiken lassen sich aber eingrenzen. Somit ist die Notwendigkeit der Telematik in der Medizin der Zukunft unabweisbar.

Ich fasse meinen Beitrag folgendermaßen zusammen. Telematik in der Medizin steigert Qualität und Wirtschaftlichkeit sowohl der medizinischen Versorgung als auch der Gesundheitsverwaltung. Telematik unterstützt die Stärken der Struktur wie freie Arztwahl, schneller Zugang zu Gesundheitsleistungen, hohe Verantwortung primär Behandelnder, problem- und gemeindenahe Versorgung unter Berücksichtigung unterschiedlicher Versorgungsebenen.

Telematik hilft, die Schwächen der Struktur zu überwinden, beispielsweise durch Schaffung von Schnittstellen zwischen verteilter ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung sowie Nutzung und Analyse institutioneller medizinischer und administrativer Daten für Anforderungen des Managements.

Um dieses zu erreichen, ist es notwendig, eine strategische Partnerschaft aller Selbstverwaltungsorganisationen zum gemeinsamen Ausbau einer elektronischen Kommunikationsplattform im Gesundheitswesen zu bilden. Dazu möchte ich Sie aufrufen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)