Prof. Dr. Hoppe, Vizepräsident:

Meine Damen und Herren! Wir setzen unsere Beratungen fort.

Zunächst darf ich darauf hinweisen, daß auf Ihren Plätzen die Bände I und II des Sondergutachtens 1997 des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen - "Gesundheitswesen in Deutschland - Kostenfaktor und Zukunftsbranche" - liegen. Ich darf bei dieser Gelegenheit sehr herzlich begrüßen Herrn Professor Dr. rer. pol. Klaus-Dirk Henke, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, der uns nachher ein Referat halten und unsere Kenntnisse vergrößern wird, damit wir uns mit diesem Thema sachkundig in der Diskussion auseinandersetzen können.

(Beifall)

Nachdem Herr Präsident Dr. Vilmar und Herr Dr. Montgomery ihre Referate vor der Mittagspause gehalten haben, fahren wir nun fort mit dem Referat von Herrn Dr. Günther Jonitz aus Berlin. Herr Dr. Jonitz ist Vizepräsident der Ärztekammer Berlin. Bitte sehr, Herr Dr. Jonitz.

 

Dr. Jonitz, Referent:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie finden auf Ihren Plätzen eine Publikation mit dem Titel "Ende eines Traumberufs". Herr Vilmar hat darauf bereits Bezug genommen. Es handelt sich um eine Umfrage im Beritt der Ärztekammer Berlin. Es geht um die Situation der Ärzte im Krankenhaus. Ich empfehle Ihnen besonders die Lektüre der offenen Fragen im zweiten Teil des Buchs. Sie finden sehr gute Stimmungsbilder aus dem Krankenhaus. Es ist sehr selten, daß man solche Stimmungsbilder in schriftlicher Form dargestellt bekommt.

Wie vorhergesagt, haben sich die Arbeitsbedingungen für Krankenhausärztinnen und -ärzte in den letzten fünf bis zehn Jahren grundlegend geändert. Die Niederlassungssperre und befristete Verträge versperren den Ärztinnen und Ärzten eine langfristige berufliche Perspektive. Standen früher einer fünf- bis siebenjährigen intensiven Zeit als Assistenzarzt zirka 30 Berufsjahre als niedergelassener Arzt gegenüber, so droht dem nachgeordneten Arzt der Gegenwart die Arbeitslosigkeit, sobald sein befristeter Arbeitsvertrag endet. Aus dem "Durchlauferhitzer" Krankenhaus ist eine Produktionsstätte von hochqualifizierten Arbeitslosen geworden. Das ist ein grundlegender Systemwandel im Krankenhaus.

Durch diese Perspektivlosigkeit wurde der Grundkonsens im ärztlichen Dienst im Krankenhaus gekündigt - eine Art immaterielle Entschädigung für zahlreiche Überstunden, Mehrarbeit, Arbeitsbelastung und viele Ungerechtigkeiten im Krankenhaus ist damit entfallen. Die Arbeitsbelastungen im Krankenhaus, die letztendlich selbstverständlich übernommen wurden, denn kein Arzt läßt seine Patienten im Stich, wurden immer ertragen mit der Aussicht auf eine freiere und selbstbestimmte Arbeit in der Praxis oder auf eine eigenverantwortliche Stelle im Krankenhaus. Ein Assistenzarzt sagte neulich: Das ist das Schöne in der Medizin: Was uns aufrechterhält, ist der Traum von einem besseren Leben.

Es gibt kein besseres Leben mehr. Die Arbeitsbedingungen von Assistenzärztinnen und -ärzten sind einmalig: 70 bis 80 Prozent aller Assistenzärztinnen und -ärzte haben befristete Arbeitsverträge mit einer Laufzeit von ein bis zwei Jahren. Diese können am Ende der Laufzeit ohne jede Begründung und ohne jegliche Möglichkeit der Gegenwehr beendet werden. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes führt dazu, daß man um keinen Preis unangenehm auffallen will. Konflikte bleiben verborgen, Mißstände und Mehrarbeit können klaglos auf den ärztlichen Dienst abgewälzt werden.

Aus dem anerkannten Stationsarzt ist in sehr vielen Fällen der Ausputzer der Station oder der "Patienten-Dispatcher" geworden, der sich bemüht, allen Anforderungen seiner Umgebung gerecht zu werden, seien es Anordnungen von Vorgesetzten, von Stationsschwestern, Bitten von Patienten und Angehörigen, Anfragen von Krankenkassen oder der Verwaltung. Der mundtot gemachte Assistenzarzt wird überfrachtet mit arztfremden Tätigkeiten. Die Formularflut in den Arztzimmern ist enorm. Die ICD-9 ist von 53 auf 1500 Seiten erweitert worden. Formulare nehmen inzwischen mehr Zeit in Anspruch als die reine Patientenversorgung. Was aus diesen Formularen folgt, weiß der Arzt nicht. Es wird ihm nicht gesagt, es gibt keine Rückmeldung. Die Formulare verschwinden in der Administration und bleiben damit für den Arzt ohne jeden Sinn.

Für einen Krankenhausarzt ist es nahezu beglückend, zu erfahren, daß externe Unternehmensberater die Zeit für eine chirurgische Visite mit ein bis zwei Minuten pro Patient, die Zeit für die Betreuung von schwerstkranken Bestrahlungspatienten mit elf Minuten kalkulieren. Braucht der Arzt länger, ist er unwirtschaftlich, und Unwirtschaftlichkeit wird bestraft.

Aus dieser Mischung aus höchster Einsatzbereitschaft und Abhängigkeit kann nur dann Ausbeutung werden, wenn der Krankenhausarzt keine Verbündeten hat. Der unmittelbare Verbündete des nachgeordneten Arztes sollte der vorgesetzte Arzt sein. Dort gibt es aber nur geringes Verständnis für die Sorgen der eigenen Kolleginnen und Kollegen. Man hört, daß die Zeiten früher auch hart gewesen seien, Bereitschaftsdienste seien überhaupt nicht bezahlt worden, aus ihnen sei ja auch etwas geworden.

Derartige Vergleiche hinken, denn die damaligen Perspektiven sind nicht mehr gegeben. Soweit ich informiert bin, sind auch wissenschaftliche Vergleiche einer Behandlung heute mit einer Behandlung früher als unwissenschaftlich abzulehnen.

Bei einer Befragung in einem Berliner Krankenhaus lehnten es 75 Prozent aller Chefärzte rundweg ab, Überstunden gegenzuzeichnen, selbst wenn diese ganz klar notwendig waren. Krankenhausgeschäftsführer sprechen gerne von "freiwillig geleisteten" Überstunden, die für das Haus "natürlich praktisch" sind. Von Ethik sprechen oft diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten das meiste Geld verdient haben und zu den aktuellen Sparmaßnahmen am wenigsten beitragen.

Eine über 90 Jahre alte Krankenschwester kommentierte diese Zustände folgendermaßen:

Zu meiner Zeit war das Thema "Überstunden der Ärzte" schon brennend, denn daß z. B. ein Bereitschaftsdienst auch eine Schufterei von A bis Z sein kann, davon haben die Grünentischmänner keine Ahnung. Und was den Umgang und die Verantwortung mit kranken Menschen angeht, davon können sie sich keinen Begriff machen und wollen sich wohl keinen machen, denn das hätte Folgen, die ihnen unlieb wären. Nur für ihre eigenen Belange haben sie Interesse.

Frauen hatten immer einen schwereren Stand in der Medizin und sind von dieser Abhängigkeit besonders betroffen. Ärztinnen stehen immer noch unter der Erwartung, eine besondere Leistungsfähigkeit beweisen zu müssen. Klagen von Frauen über Arbeitsbelastung werden erst recht abqualifiziert.

In die Zeit der Weiterbildung fällt oft die Phase der Familienplanung. Während dieser Zeit wird - aus Kostengründen - die Stelle erst einmal nicht besetzt, die anderen Kolleginnen und Kollegen müssen diese Arbeit mitmachen. Die Methode, im Krankenhaus Stellen für Schwangerschaftsvertretung nicht zu besetzen, ist weitest verbreitet. Sie ist schlicht frauenfeindlich.

(Beifall)

Wer Kinder betreut, möchte gerne halbtags arbeiten. Dies wäre in vielen Fällen machbar, wenn sich zwei eine Stelle teilen. In der Wirklichkeit steht dem der Anspruch entgegen, daß die Krankenhausärztinnen und -ärzte immer im Dienst sind - Zitat eines Chefarztes: Meine Mitarbeiter arbeiten 14 Stunden am Tag, und was sie in ihrer Freizeit machen, geht mich nichts an - und daß nur derjenige, der voll arbeitet, ein guter Mitarbeiter ist.

Aus dieser Mischung von Abhängigkeit und Ignoranz verkehren sich ärztliche Tugenden in ihr Gegenteil, aus ärztlichen Primärtugenden werden Kardinalfehler: aus der Einsatzbereitschaft wird Ausbeutung, aus der unbezahlten Überstunde wird der Arzt zum Nulltarif. Wenn der Assistenzarzt umsonst arbeitet, warum nicht auch Ober- und Chefärzte? Berufsverbände beklagen die Tatsache, daß neu berufene Chefärzte 90 Prozent ihrer Nebeneinnahmen an das Haus abführen müssen. Der Ausverkauf von Kollegen durch Kollegen hat die Chefarztebene erreicht.

Nachgeordnete Ärztinnen und Ärzte sind in höchstem Maße erpreßbar. Dies ist unter dem ökonomischen Druck für Krankenhausleitungen praktisch. Auswirkungen eines undifferenzierten Spardrucks werden über Einsparungen im ärztlichen Dienst kaschiert. Probleme und Mißmanagement werden nicht aufgearbeitet, sondern deren Folgen werden auf den ärztlichen Dienst abgeleitet. Es gibt in manchen Krankenhäusern das Bonmot: Die Krankenhausleitung ist eher eine Ableitung, weil sie von extern auf das Krankenhaus zukommende Probleme nicht lösen kann, sondern nach unten ableitet.

Wer sparen muß, kann dies am einfachsten über den ärztlichen Dienst tun. Befristete Verträge braucht man nicht zu verlängern. Die Fluktuation - in die Arbeitslosigkeit - kann gesteuert werden. Aus Krankenhausärztinnen und
-ärzten wird eine betriebswirtschaftliche Manövriermasse. "Sie müssen das verstehen, Herr Jonitz: Wenn ich eine Arztstelle nicht besetze, habe ich auf einen Schlag über 100 000 DM gespart" - so sagte mir ein Verwaltungsleiter.

Dagegen sorgen die Pflegeberufe dafür, daß berufsfremde Tätigkeiten sorgfältig als solche deklariert und abgelehnt werden. Auffangen darf diese der Krankenhausarzt. Unter dem Hinweis, daß die Pflege vorgeht, unterbleibt aber die Unterstützung des Arztes. Dieser darf morgens zu Beginn seiner Tätigkeit eine halbe Stunde lang Blutentnahmen vorbereiten, Infusionen aufziehen und Befunde einsortieren. Der Stationsarzt wird zum Stationssekretär und zur akademisch gebildeten Arzthelferin.

Dieser Mißbrauch von Abhängigkeit führt direkt in die weiche Rationierung, in den schleichenden Qualitätsverlust. Ein Zitat aus einer Krankenhausfachzeitschrift:

Mit ca. 65 bis 70 Prozent stellt der Personalbereich den Hauptblock der Kosten dar ... Für die Krankenhausleitung bleibt die qualitative Besetzung (zum Beispiel AiP an Stelle Assistenzarzt) der Stellen, die Anzahl der Stellen und Teile der variablen Personalkosten (Bereitschaftsdienste) beeinflußbar. Die Einhaltung des extern vereinbarten Personalbudgets, vermindert um eine kalkulierte Sicherheitsrate, ist der Hauptansatzpunkt jedes Kostenmanagements.

Meine Damen und Herren, das heißt zum Beispiel, daß im Bereitschaftsdienst zwei an Stelle von drei Ärzten Dienst tun oder daß die Krankenkassen zwar 150 Arztstellen bezahlen, tatsächlich nur 140 besetzt werden. Die "kalkulierte Sicherheitsrate" ist die verminderte Sicherheit bei der Patientenversorgung. Geht etwas schief, ist der Arzt schuld. Wer schuld ist, ist leicht zu ermitteln. Was schuld ist, steht nicht im Mittelpunkt des Interesses.

Die Krankenhäuser müssen sparen. Aber oft wird nicht dort gespart, wo es sinnvoll wäre, sondern es wird dort gespart, wo es möglich ist, bei den Ärzten. "Dummsparen" hat ein Verwaltungsleiter dies einmal genannt.

Schlechte Auswirkungen werden in diesem System nicht gemeldet. Die letztendlich Betroffenen schweigen. Wer sich beschwert, hat Sanktionen zu erwarten. Es gibt keine "gleich langen Spieße" im Krankenhaus. Diese Politik, von Herrn Seehofer lange Jahre propagiert, hat im sensibelsten Bereich des Gesundheitswesens ein Loch. Alles, was im Gesundheits- und Sozialwesen irgendwo schiefgeht oder nicht mehr geleistet werden kann, landet irgendwann im Krankenhaus und trifft dort auf den jüngsten Arzt mit der höchsten Arbeitsbelastung. Solange von dort keine Klagen kommen, ist die Welt in Ordnung. Wenn aber Klagen kommen, wird der Vertrag nicht verlängert, der Assistent fliegt raus, er hat ja versagt. Also kommen keine Klagen.

Für den ärztlichen Dienst hat das Professor Eichhorn beschrieben, Leiter des DKI, revolutionärer Umtriebe sicherlich unverdächtig. Er hat ausgeführt:

Dabei steht fest, daß hierarchisch geführte Diskussionen (Chefarzt-Oberarzt-Assistenzarzt) wenig dazu beitragen können, das Verhalten der ärztlichen Mitarbeiter positiv zu beeinflussen. Autoritäres Verhalten, verbunden mit negativen Anreizen, wird immer dazu verleiten, aufgetretene Probleme nicht auszuweisen.

So wird aus einem Systemfehler das individuelle Versagen eines einzelnen Arztes. Dieses System ist perfide.

Der Spardruck auf die Krankenhäuser ist enorm und undifferenziert. Er betrifft wirtschaftliche und unwirtschaftliche Einrichtungen gleichermaßen. Einsparungen und, bei profitorientierter Trägerschaft, der Gewinn sind alles. Wer zu lange Verluste macht, geht vom Markt. Da die Qualität der Patientenversorgung schlechter meßbar ist als die Einnahmen-Ausgaben-Rechnung, bleibt sie unberücksichtigt. Unter diesen Umständen Qualitätsmanagement zu betreiben ist eine sehr schwierige Aufgabe.

Das Primat im Krankenhaus hat nicht mehr die Patientenversorgung, sondern die Ökonomie. In der Kurzformel bleibt folgende Aussage:

Vergessen Sie alle Humanität. Es geht nur noch um Wirtschaftlichkeit.

Dies sagte ein ärztlicher Leiter in einer Abteilungsbesprechung nach den Pflegesatzverhandlungen. Treffender kann man die Situation nicht beschreiben.

(Beifall)

Um wieviel weniger kann man unter diesen Umständen gestiegenen Ansprüchen gerecht werden! Der medizinische Anspruch ist gestiegen. Mit den wachsenden Möglichkeiten der Medizin steigt der Aufwand. Die Multimorbidität nimmt zu. Dies ist in der Arbeitsbelastung im Bereitschaftsdienst deutlich spürbar. Die Bereitschaftsdienste der 90er Jahre sind mit denen der 70er Jahre nicht vergleichbar. Kein Arzt spielt mehr Billard im Nachtdienst. Es liegen richtig kranke Menschen auf der Normalstation. Die Genesenden sind längst - ich ironisiere jetzt: vom MDK - entlassen.

Die Erwartungen der Patienten orientieren sich selbstverständlich an den Möglichkeiten der Medizin.

Parallel dazu sind die juristischen Anforderungen ebenfalls gestiegen. Dokumentationspflichten - Formulararbeit - gehen bis zu Risiken von 1 : 14 Millionen. Facharztniveau wird von den Gerichten vorausgesetzt. Trotzdem machen AiPler alleine Bereitschaftsdienst. Sie stehen vor dem Dilemma, als inkompetent dazustehen, wenn sie den Hintergrunddienst zu früh anrufen, oder Fehler zu machen, wenn er zu spät gerufen wird. Die Arbeit des Arztes im Praktikum soll "unter Anleitung und Aufsicht" erfolgen. Dies scheint auch über mehrere Kilometer zu gelingen.

Das Primat der Ökonomie über die Humanität führt derzeit dazu, daß Krankenhäuser keine Gesundheitszentren - das ist ein frommer Wunsch -, sondern vielmehr Gesundheitsfabriken werden. Patienten werden ablaufoptimiert, prozeßgesteuert und nach Fallpauschalen und Sonderentgelten geordnet durchgeschleust. Nachgeordnete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden verbraucht und nach vier Jahren ausgetauscht. Das Krankenhaus wird zum Verschleißbetrieb für medizinisches Personal und bietet damit eine wenig erfreuliche Perspektive.

Fluktuationsraten von Ärzten und Schwestern in Universitätskliniken, aber auch in privat geführten Häusern, auch in sogenannten Vorzeigeobjekten, erreichen gerne 25 Prozent und mehr. Das bedeutet alle vier Jahre eine komplett neue Mannschaft auf der Stationsebene. In keinem anderen Unternehmenszweig ist ein ähnlicher Verschleiß vorhanden, nicht einmal in der Fußballnationalmannschaft.

(Beifall)

Fassen wir zusammen: Die Anforderungen nehmen zu, die Fallzahlen nehmen zu, die Liegezeiten nehmen ab, und die Arztzahlen nehmen ab. Weniger Ärztinnen und Ärzte behandeln mehr Patienten in kürzerer Zeit bei gestiegenem Anspruch. Die Qualität im Gesundheitswesen stirbt zentimeterweise.

Dieser Mißbrauch ärztlicher Arbeitskraft führt zu einer Dissoziation unseres Berufsstands in Besitzende und Nichtbesitzende. Die Besitzenden wähnen sich im Recht oder auf der sicheren Seite. Sie übersehen aber, daß über den Ausverkauf unseres Berufsstands das Engagement und die Leistungsbereitschaft unserer Kolleginnen und Kollegen verlorengehen und, wenn nichts geschieht, ein beispielhaftes Gesundheitswesen in den Niedergang geführt wird.

Meine Damen und Herren, die Zeiten haben sich geändert. Die Anforderungen haben sich geändert. Fast alles im Krankenhaus hat sich geändert. Nur die unreflektierte hierarchisch-militärische Struktur im ärztlichen Dienst mit zum Teil skurrilen Abhängigkeiten und Privilegien und das Krankenhausmanagement sind grundlegend gleichgeblieben. Wir können aber nicht mit den Personen und den Methoden von gestern die Probleme von heute und morgen lösen. Dies ist das eigentliche Problem im Krankenhaus.

(Beifall)

Noch ist es der Einsatzbereitschaft der Krankenhausärztinnen und -ärzte bis zur Selbstverleugnung zu verdanken - ich kenne Ärzte, die ihren gesamten Jahresurlaub 1997 und 20 Ausgleichstage für Überstunden noch auf dem Plan haben -, daß die Patienten von dieser Entwicklung nicht viel spüren. Sie merken nur, daß der Arzt keine Zeit hat, ein bißchen müde und vielleicht ein bißchen hektisch ist. Schleichende Qualitätseinbußen sind aber nicht zu vermeiden. Wer den Bericht der Schlichtungsstelle der norddeutschen Ärztekammern gelesen hat, weiß, daß der Anteil der Klagen über Behandlungsfehler im Krankenhaus steigt.

In kaum einem anderen Bereich unserer Gesellschaft werden Sie höher qualifizierte und motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden als im Bereich der Gesundheitsversorgung. Diese Motiviation wird nicht genutzt, sondern verheizt.

(Beifall)

Wie bringt der Faktor "Arbeit" seine höchste Leistungsfähigkeit? Nach Reinhard Mohn, dem Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann-Stiftung, braucht man folgende Voraussetzungen. Man braucht zum ersten Sinnhaftigkeit. Dies ist bei der ärztlichen Tätigkeit im Krankenhaus fast immer gegeben. Das ist auch gut so.

Ferner braucht man Gerechtigkeit. Dies ist im ärztlichen Dienst nicht gegeben. Die Arbeitsbedingungen sind ungerecht. Berufsrecht, Arbeitsrecht und Tarifrecht stehen in wesentlichen Teilen nur auf dem Papier. Praktisch kein Krankenhaus hält das Arbeits-, Tarif- oder Arbeitszeitrecht ein. Deutsche Krankenhäuser werden nur unter flächendeckender Mißachtung geltenden Rechts betrieben.

(Beifall)

Diese Eigenschaft haben wir mit der Mafia gemeinsam.

Die deutlich gestiegenen Belastungen sind ungleich verteilt. Sparmaßnahmen betreffen fast ausschließlich nachgeordnete Ärztinnen und Ärzte. Für leitende Ärzte mit alten Verträgen hat sich praktisch nichts geändert. Die Zahl der Häuptlinge bleibt gleich, die der Indianer wird abgebaut. Die Arbeit wird aber im wesentlichen von Indianern erledigt.

Nach Reinhard Mohn bedarf es ferner humaner Arbeitsbedingungen. Die Arbeitsbedingungen für die Krankenhausärztinnen und -ärzte sind aber inhuman. Bereitschaftsdienste von 32 Stunden am Stück wurden bereits 1982 vom Bundesarbeitsgericht als mit den Grundsätzen der Menschenwürde unvereinbar deklariert.

Es bedarf ferner Mitsprachemöglichkeiten. Der ärztliche Dienst wird per Befehl und Gehorsam geführt, Konflikte werden über den Austausch der Mitarbeiter, durch innere Emigration oder Verbannung geregelt. Da spielen sich zum Teil wirklich komische Geschichten ab. Je größer die Klinik ist, desto größer ist in der Regel die Skurrilität. Über medizinische Angelegenheiten wird in der Regel hierarchisch entschieden. In der letzten Instanz hat der Chef immer recht; das steht in seinem Dienstvertrag so drin.

Mitbestimmungsgremien sind für den ärztlichen Dienst fast unerreichbar. Welcher Arzt kann es sich leisten, regelmäßig ganze Tage im Personal- oder Betriebsrat zu verbringen?

Ebenfalls wichtig ist eine Perspektive. Man möchte nicht auf der Stelle treten. Es gibt derzeit keine erfreuliche Perspektive, weder innerhalb noch außerhalb des Krankenhauses. Noch nie war die Bereitschaft, dafür Geld bereitzustellen, so gering wie derzeit.

Wer einen leistungsfähigen ärztlichen Dienst im Krankenhaus will, muß umdenken. Der Arbeitsplatz Krankenhaus muß ein Dauerarbeitsplatz werden. Wir können uns keine 50 000 bis 60 000 hochkarätigen arbeitslosen Ärztinnen und Ärzte leisten. Pro Studium muß mit Investitionen in Höhe von
400 000 DM gerechnet werden. Wir müssen hochqualifizierten Ärztinnen und Ärzten eine Zukunftsperspektive im Krankenhaus bieten. Wir müssen die Arbeit auf mehr Schultern und anders verteilen.

Der steigende medizinische Anspruch erfordert eine permanente hohe ärztliche Qualifikation. Die Patientenversorgung der Gegenwart erfolgt durch viele hochqualifizierte Ärztinnen und Ärzte und nicht einzig und allein durch einen Arzt. Die Patienten haben einen Anspruch darauf. Ein Arzt für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie und Transfusionsmedizin im Assistenzarzt-rang leistet hochkarätige Arbeit, wenn man ihn läßt. Er braucht aber auch eine andere Führung als ein frisch approbierter 26jähriger.

Der Arbeitsplatz Krankenhaus muß im Hinblick auf die eigentliche ärztliche Leistung reformiert werden. Zuerst kommt die angemessene und sinnvolle Patientenversorgung, dann kommen die Kosten. Das Geld folge der Leistung. Wir brauchen ein ärztliches Controlling, das es uns ermöglicht, zu erkennen, welche Leistungen mit welchem medizinischen Ergebnis veranlaßt wurden. Nur dann ist erkennbar, auf welche Leistungen wir Ärztinnen und Ärzte verzichten können, ohne dem Patienten zu schaden. Die Abschaffung des "Routinethorax vor OP" ist nicht dadurch um zehn Jahre verzögert worden, weil sich Assistenzärztinnen und -ärzte dem widersetzt haben.

Die derzeitigen Reformbemühungen führen lediglich dazu, daß ein bestehendes schlechtes System optimiert wird. Dies kann nicht Sinn der Reform im Krankenhaus sein.

Die ärztliche Arbeit muß entfrachtet werden. Die Bürokratie ist auf das notwendige Mindestmaß zu beschränken. Statt Stationsärzte mit Formularen zu bewerfen, um herauszufinden, was los ist, sollte man die Betroffenen direkt fragen. Wer sich nur auf die Informationen auf dem Dienstweg verläßt, erfährt lediglich die halbe Wahrheit. Eine Oberarzt- oder Assistentenbesprechung kann sehr ergiebig sein.

Wir brauchen eine weitaus bessere Administration im Krankenhaus, eine, welche die gleiche soziale Ethik den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber vorlebt, wie sie von diesen ihren Patienten gegenüber verlangt wird. Wer seine Mitarbeiter wie Ballast behandelt, braucht sich über den Verfall der inneren Einstellung seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zu wundern. Wer auf die Frage anläßlich eines Managementtrainings, was er tue, damit seine Mitarbeiter ihn mögen, antwortet: "Meine Assistenten sollen mich nicht lieben, sie sollen mich hassen", hat seinen Beruf als Vorgesetzter verfehlt.

Wir müssen die Patientenorientierung und die Mitarbeiterorientierung mit Inhalt füllen. Wir haben - um Professor Köbbering zu zitieren - zwar immer das Wohl des Patienten im Auge gehabt, aber wir Ärzte haben selber definiert, was für den Patienten das beste ist. Für die Mitarbeiterorientierung gilt, daß nicht immer der Chef allein weiß, was für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut ist. Eine 30jährige Assistenzärztin ist kein Kind, ein 45jähriger Oberarzt kein Schuljunge.

Ärztliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind keine Kostenfaktoren im Krankenhaus, sondern das eigentliche Kapital.

"Führung im Krankenhaus" ist neu zu definieren. Die derzeitige Technik der unhinterfragten hierarchischen Führung führt zum Mißbrauch des eigenen Berufsstands und zur Zementierung bestehender Mängel. Das Feudalsystem und das Führerprinzip haben ausgedient. Wir brauchen Krankenhausleitungen, die in der Lage sind, die Qualität ihrer Mitarbeiter zu beurteilen, und nicht einfach glauben, was berichtet wird. Dazu gehört auch die Beurteilung der Führungsqualität der Mitarbeiter. Führung ist, was unten ankommt, und nebenbei Hauptfaktor für gute Qualität in allen Bereichen der Gesellschaft.

Wir brauchen ausgeruhte Ärztinnen und Ärzte. Das bedeutet mehr Stellen. Das Arbeitszeitgesetz ist kein Anschlag auf die ärztliche Ethik zur Verhinderung der Leistungsfähigkeit, sondern die Grundvoraussetzung dafür. Fragen Sie Ihre Patienten oder sich selbst, ob sie bzw. Sie von einem Arzt behandelt werden möchten, der seit 20 Stunden kein Auge zugetan hat.

Dies gilt auch für Universitätskliniken, zumindest solange dort kranke Menschen behandelt werden und nicht nur Karnickel.

Es ist eines der unerklärlichen Phänomene der Gesundheitspolitik, daß für die Instandhaltung der Gemäuer eines Krankenhauses eher Geld bereitgestellt wird als für die Instandhaltung der ärztlichen Arbeitskraft.

(Beifall)

Das Problem im Krankenhaus ist nicht der reine Mangel an Geld, sondern der Mangel an Umsetzung neuer Ideen. Vielleicht reicht die Diskussion auf diesem Ärztetag aus, um einiges in Bewegung zu setzen.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall)