Prof. Dr. Dr. h. c. Karsten Vilmar, Präsident:
 

Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir setzen unsere Beratungen fort. Wie ich in der Pressestelle erfahren habe, soll - es wird versucht, eine Bestätigung zu erhalten - Milosevic die Bedingungen der Nato angenommen haben, so daß zu hoffen ist, daß der Krieg beendet werden kann.

(Beifall)

Die Pressestelle bemüht sich darum, nähere Informationen und eine Bestätigung zu erhalten. Da es eine Sondersendung im Fernsehen zu dieser Frage geben soll, nehme ich an, daß diese Meldung einige Substanz hat. Allerdings hat Herr Milosevic in der Vergangenheit schon vieles verkündet. Wir werden dazu im Verlauf des Ärztetages weiteres hören. Sobald ich nähere Nachrichten bekomme, werde ich Ihnen das mitteilen, weil uns dies ja in den vergangenen Wochen alle sehr berührt hat.

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt III auf: Rehabilitation. Dazu begrüße ich Herrn Professor Dr. Gerrit Zilvold, den Ärztlichen Direktor von "Het Roessingh" in Enschede in den Niederlanden. Ich freue mich, daß er uns in das Thema einführen wird.

(Beifall)

Wir halten es für zweckmäßig, daß zunächst Herr Professor Zilvold vorträgt und im Anschluß daran Herr Henke. Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen Ihnen bisher sieben Umdrucke vor, die wir im Anschluß an die Referate beraten und verabschieden wollen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn die Debatte nicht allzu sehr ausgedehnt würde. Ich habe Verständnis dafür, daß wir den Tagesordnungspunkt I ausführlich diskutiert haben. Aber jetzt müssen wir versuchen, wieder etwas in den Zeittakt zu kommen.

Ich erhalte soeben folgende Pressemeldung:

Belgrad: Serbisches Parlament nimmt Friedensplan an

Der Abgeordnete Zarko Jokanovic von der Neuen Demokratischen Partei erklärte, das serbische Parlament habe die Prinzipien des G-8-Friedensplans angenommen, "weil sie eine Grundlage für Frieden und ein Ende des Bombardements bieten". Mit dem Friedensplan werde die territoriale Integrität und die Souveränität Jugoslawiens bekräftigt, und die Vereinten Nationen erhielten die Rolle zurück, die ihnen zustehe. "Dies ist eine Basis, die Kosovo-Probleme weiter zu lösen", sagte Jokanovic.

Lediglich Abgeordnete der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei des stellvertretenden Ministerpräsidenten Vojislav Seselj hätten gegen die Annahme gestimmt. Sie hat 82 Sitze im Parlament. Die Mehrheit im Abgeordnetenhaus hat die Sozialistische Partei von Staatspräsident Slobodan Milosevic.

Im Anschluß an die Parlamentssitzung wollen der finnische Präsident Martti Ahtisaari und der russische Balkan-Beauftragte Viktor Tschernomyrdin ihre Verhandlungen mit Milosevic wiederaufnehmen. Am 23. März hatte das serbische Parlament einen Friedensplan des Westens abgelehnt; am Tag darauf begann die Nato mit ihren Luftangriffen auf Jugoslawien.

Wir hoffen, daß das wirklich bald zum Abschluß kommt.

(Beifall)

Ich bitte nun Herrn Professor Zilvold, sein Referat zu halten und uns in die wichtige Thematik der Rehabilitation einzuführen. Sie haben das Wort, Herr Professor Zilvold.

Prof. Dr. Zilvold, Referent:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte dem Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer Rudolf Henke und dem Dezernat V der Bundesärztekammer, insbesondere Herrn Dezernent Dr. Maas und Frau Referentin Dr. Schoeller, für die Einladung danken, hier das einleitende Referat halten zu dürfen. Bereits Anfang dieses Jahres haben wir uns in Düsseldorf verabredet, um mein heutiges Referat vorzubereiten. Es war auch Herr Professor Jochheim als Mitglied des Ausschusses für Rehabilitation anwesend. Von ihm ging die Initiative zu unserem Treffen aus. Ich würdige ihn als den Pionier auf dem Gebiet der Rehabilitation in Deutschland. Wir haben in den Niederlanden schon viele Jahre lang seine Verdienste beobachtet. Er wurde Ehrenmitglied der niederländischen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation. Die deutsche Ärzteschaft hat Herrn Professor Jochheim 1998 mit der Verleihung der Paracelsus-Medaille geehrt.

Herr Henke und Herr Dr. Maas haben sich die Mühe gemacht, uns in Enschede zu besuchen, um das niederländische Reha-System kennenzulernen und mich zu beraten.

Ich entschuldige mich für mein mangelhaftes Deutsch; diese schwierige Sprache ist nicht meine Muttersprache, allerdings die Sprache meiner Ehefrau. Ich bin fast 35 Jahre lang mit einer bezaubernden Hamburgerin verheiratet und deshalb ein langjähriger Germanophile. Ich möchte mich nun kurz vorstellen. Ich bin von dem entsprechenden europäischen Spezialistenverband als Arzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation anerkannt. Neuerdings wurde auch unsere Klinik als europäische Ausbildungs- bzw. Weiterbildungsklinik anerkannt. Unsere Klinik ist an 15 europäischen Projekten beteiligt. Zwei dieser Projekte werden von uns geführt. Dabei arbeiten wir zusammen mit Kollegen aus Dänemark, Finnland, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, Irland, Großbritannien. Leider sind nur selten deutsche Kliniken in diesen europäischen Projekten vertreten, wenn es um Rehabilitation und Rehabilitationstechnik geht.

"Het Roessingh" befindet sich in Enschede/Twente. Dieses Institut existiert bereits seit 50 Jahren. In den Niederlanden gibt es die spezielle Richtung Rehabilitation seit 45 Jahren. Bei uns gibt es 24 Rehabilitationszentren mit einer regionalen Funktion. "Het Roessingh" ist eines der vier großen Zentren. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß wir als großes Zentrum im Laufe der Jahre imstande waren, bestimmte Spezialisierungen aufzubauen. Deshalb hat "Het Roessingh" nicht nur eine regionale, sondern auch eine nationale Funktion, aber nur für ganz bestimmte Dinge, die mit der Rehabilitationstechnik verbunden sind, Stichworte: funktionelle Elektrostimulation, Pain Management.

Auf dem Gebiet der Neuentwicklung von Prothesen und Orthesen arbeiten wir mit der Technischen Universität, Fakultät Maschinenbau, sowie einigen wichtigen Firmen eng zusammen, beispielsweise mit der Firma Otto Bock aus Duderstadt.

Behinderungen entstehen auf verschiedene Art und Weise: Ein Unfall, eine Krankheit oder angeborene Anomalien können das Leben eines Menschen entscheidend verändern. In einem Rehabilitationszentrum werden Körperbehinderte - Erwachsene und Kinder - behandelt und betreut, damit sie später wieder möglichst selbständig in der Gesellschaft leben können.

In den Niederlanden hat die Rehabilitation immer mit chronischen Problemen im Bereich des Haltungs- und Bewegungsapparates zu tun. Die am häufigsten vorkommenden Diagnosegruppen sind: Querschnittslähmung, Amputationen, neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose und Muskelkrankheiten, zerebrovaskuläre Erkrankungen, traumatologische Erkrankungen - oft eine Kombination von Schädelhirnverletzung und komplizierten Knochenbrüchen; hier handelt es sich um die sogenannten Politraumatisierten - und kongenitale Erkrankungen wie angeborene Anomalien, Spina bifida und Muskelerkrankungen.

Auch werden in "Het Roessingh" chronische Schmerzpatienten behandelt, aber immer mit Behinderungen auf dem Gebiet des Haltungs- und Bewegungsapparates. Hier handelt es sich um das sogenannte Pain Management.

Je nach dem Ausmaß der Behinderung werden manche Patienten eine zeitlang stationär behandelt. Andere kommen täglich oder einige Male pro Woche halbtags zur ambulanten Behandlung. Man versucht, die Rehabilitation in der Umgebung des Kranken stattfinden zu lassen. Aus diesem Grund sind die Ärzte für Rehabilitation und andere Mitglieder des Behandlungsteams auch in Krankenhäusern im Bezirk tätig. Es gibt in unserer Region sieben Allgemeinkrankenhäuser, die wir bedienen.

Unser Zentrum für Rehabilitation beschäftigt etwa 20 Fachärzte. Außerdem sind zwölf Assistenzärzte tätig, die als Facharzt weitergebildet werden. Diese Weiterbildung dauert vier Jahre. In den meisten anderen europäischen Ländern dauert sie fünf Jahre. Zum Teil arbeitet man im Zentrum, entweder stationär oder ambulant, und fast alle Fachärzte arbeiten auch in den Allgemeinkrankenhäusern unserer Region. Im Allgemeinkrankenhaus sieht man Patienten, die vom Hausarzt überwiesen wurden. Diese werden ambulant betreut.

Daneben werden auch die Patienten, die klinisch aufgenommen wurden, in anderen Abteilungen - Neurologie, Chirurgie usw. - konsiliarisch gesehen. Gemeinsame Visiten werden mit Neurochirurgen, Neurologen, Orthopäden, Plastischen Chirurgen durchgeführt. Dabei werden die Patienten selektiert, die in die Reha-Behandlung genommen werden.

Auch in 16 Pflegeheimen unserer Region sind wir konsiliarisch aktiv. Mit den meisten anderen Fachärzten führen wir gemeinsame Sprechstunden durch, beispielsweise mit den Gefäßchirurgen und den Dermatologen auf dem Gebiet des diabetischen Fußes. Zusammen mit den Plastischen Chirurgen werden handoperierte Patienten gemeinsam besprochen, und meistens werden die Patienten in das sogenannte Händeteam übernommen und behandelt.

Der Arzt für Rehabilitation ist letztverantwortlich für die Behandlung, die von einem multidisziplinären Behandlungsteam durchgeführt wird. Die Mitarbeiter dieses Teams verfügen über spezialistische Kenntnisse in einem bestimmten Bereich. Außer den Ärzten für Rehabilitation, Krankenpflegern und Physiotherapeuten sind Ergotherapeuten, Logopäden, Sozialarbeiter, Psychologen, Kreativtherapeuten, Beschäftigungstherapeuten, Sportpädagogen und Rehabilitationstechniker im Team anwesend.

Es gibt fünf Problemgebiete. Impairment oder Störung entsteht nach einer Krankheit. Die meisten Spezialisten versuchen, diese Störung zu beseitigen. Wenn aber die Genesung nicht gelingt, bleiben Behinderungen zurück, und das ist gerade das Interessengebiet des Rehabilitationsarztes. Die Probleme, mit denen Behinderte konfrontiert werden, können verschiedener Art sein. Oft sind es sogar mehrere Probleme auf einmal. In der Rehabilitationsmedizin werden folgende fünf Problembereiche nach dem SASPK-Modell integriert behandelt:

Erstens somatische Probleme, Probleme körperlicher Art, beispielsweise Lähmungen und Kontrakturen.

Zweitens Aktivitäten des täglichen Lebens: Körperpflege, Anziehen, Fortbewegen, Essen und Trinken verursachen mitunter Probleme.

Drittens soziale Probleme: Das bezieht sich auf die Gebiete des Wohnens und der Arbeit. Bei der Verarbeitung der Krankheit können sich Schwierigkeiten ergeben, und der Patient ist nicht imstande, diese Probleme selbst zu lösen, weil er dazu nicht die entsprechenden sozialen Fähigkeiten hat.

Viertens psychische Probleme: Charakterveränderungen durch die Krankheit kommen oft vor; die definitiven Krankheitsfolgen können ernsthafte psychische Probleme hervorrufen. Bei Kindern kommt es deswegen oft zu Erziehungsproblemen, und bei den Eltern kommt es zur Verarbeitungsproblematik.

Fünftens Kommunikationsprobleme: Bei Gehirnschäden kommen oft Störungen des mündlichen oder schriftlichen Sprachgebrauchs oder des Sprachverständnisses vor.

Nach Inventarisierung der Probleme in diesen fünf diagnostischen Gebieten wird die Rehabilitationsdiagnose gestellt. Als nächster Schritt wird der Behandlungsplan aufgestellt. Hierbei werden zur Realisierung des Plans die verschiedenen Therapeuten unter der Führung des Rehabilitationsarztes eingeschaltet.

Ich möchte Ihnen jetzt den Patienten Ralf X. vorstellen. Er litt an Multipler Sklerose, die 1978 festgestellt wurde. Er war von einem multinationalen Unternehmen nach Südafrika geschickt worden und dort Direktor einer chemischen Fabrik. Wegen Gehproblemen wurde er zur Untersuchung auf der neurologischen Station eines Akademischen Krankenhauses in Amsterdam eingeliefert. Dort wurde die Diagnose Multiple Sklerose gestellt, und der Patient wurde damit wieder nach Hause entlassen. Man hatte ihm die Diagnose mitgeteilt und ihn nach Hause geschickt, aber als er zu Hause angekommen war, konnte er nicht mehr aus seinem Auto steigen. Seine Frau wußte nichts Besseres zu tun, als das Rehabilitationszentrum anzurufen. Sie hat mit mir den Fall besprochen. Ich habe den Patienten sofort in meine Klinik gebeten und ihn dort klinisch aufgenommen.

In den verschiedenen Problemgebieten haben sich im Laufe der Jahre viele Probleme ergeben. Unter dem somatischen Aspekt weise ich darauf hin, daß die Parese in den Beinen zunahm. Zunächst haben wir Schienen verschrieben, später konnte der Patient nur noch im Rollstuhl sitzen, den er zuerst noch selbständig bedienen konnte, während er danach einen elektrischen Rollstuhl benötigte. Auch die Situation hinsichtlich der Arme wurde immer schlechter. Zuletzt konnte er auch diese nicht mehr benutzen. Seine Augen sind bis zuletzt nicht schlechter geworden. Die urologische Problematik nahm um so mehr zu. Ich mußte den Patienten jedesmal überreden, sich in urologische Behandlung zu begeben. Zusammen mit den Neurologen wurde die Strategie festgelegt. Die Medikamente wurden in Koordination mit dem Patienten verschrieben.

ADL: Allerhand Hilfsmittel wurden vom Arzt verschrieben und in Zusammenarbeit mit dem Ergotherapeuten und den Technikern angefertigt. Es erfolgten Anpassungen im Haus - Toilette, Badezimmer -, und es wurde ein Spezialbett präventiv gegen Dekubitus angeschafft. Als der Patient später seine Hände nicht mehr gut benutzen konnte, hat er einen Apparat bekommen, mit dessen Hilfe er die Umgebung durch seine Stimme beherrschen konnte. Bedienung von Lampen und Telefon, Öffnen der Tür, Auflegen von Schallplatten - fast alles konnte der Patient mit dieser Apparatur bedienen. An seiner Brille haben wir einen Laserstrahl montiert, so daß er durch die Berührung von Tasten mit dem Computer schreiben konnte.

Zum sozialen Aspekt: Dieser Patient hatte seiner Firma sehr viel Geld eingebracht, weil er als Chemiker mehrere Erfindungen gemacht hatte. Nun wollte man ihn entlassen. Bis zuletzt war er geistig vollkommen in Ordnung, und er hat noch bis kurz vor seinem Tode in Fachzeitschriften publiziert. Persönlich habe ich dafür sorgen können, daß er von seiner Firma nicht entlassen wurde und daß man auch einen Teil der Anpassungen und der Versorgung, die er brauchte, bezahlt hat. Er ist nie ins Pflegeheim gekommen; auch nachts hatte er eine Pflegerin, die dafür sorgte, daß er im Bett gedreht wurde, damit kein Dekubitus auftrat.

Vor seiner Krankheit hatte er das Sagen zu Hause, und seine Frau hat gemacht, was er wollte. Wegen seiner Krankheit änderte sich das Rollenspiel zwischen den Eheleuten. Es entstand eine ernsthafte Eheproblematik, die dann schließlich zu einer Scheidung führte. Die Machtlosigkeit in dieser Situation war für ihn ein großes Problem, das auch seine Psyche sehr beeinflußte. Natürlich haben wir in dieser Hinsicht manchmal Sozialarbeiter und Psychologen eingeschaltet, aber er ließ sich von diesen Therapeuten nichts sagen, so daß oft der Arzt persönlich eingreifen mußte.

Ein Wort zur Kommunikation: Sprechen konnte der Patient bis zuletzt ohne Probleme. Er wurde nie disartrisch, aber schreiben konnte er nachher nicht mehr. Damit das möglich war, mußten wir Geräte entwickeln.

Das Team war interdisziplinär zusammengestellt aus Neurologen, Urologen, Hausarzt und Rehabilitationsarzt. Natürlich spielte auch der Hausarzt eine wichtige Rolle, weil der Patient bis zuletzt zu Hause verblieb. Regelmäßig haben wir uns getroffen, um das Programm zu besprechen.

Interprofessionell mußten wir den Behandlungsplan regelmäßig revidieren. Anfangs war er ein sehr schwieriger Patient, er war unmöglich. Am Ende seines Lebens war er ein liebenswürdiger Mensch geworden, weil er gelernt hatte, daß man, wenn man abhängig ist, mit Liebenswürdigkeit gegenüber seiner Umgebung mehr erreicht als mit autoritärem Benehmen.

Zuletzt konnte er nur noch seinen Kopf bewegen, nach draußen gucken, Vögel beobachten und Musik hören. Kurz vor seinem Tod haben wir das Thema Euthanasie besprochen, aber bis zuletzt fand er das Leben der Mühe wert.

Er fing stationär bei uns an, wurde dann wieder ambulant behandelt, auch vom Behandlungsteam. Wenn es ihm besser ging, brauchte er nur alle drei Monate bei mir in der Sprechstunde zur Kontrolle zu erscheinen. Zwischendurch wurde er aufgenommen, einmal nach einem Aneurisma aortae, aber auch dann, wenn er einmal Grippe hatte und dadurch eine Art Schub erlebte. Dann mußte er kürzere oder auch längere Zeit stationär aufgenommen werden, um ihn soviel wie möglich wieder auf das alte Niveau zu bringen. In den 20 Jahren der Behandlung ist zwischen Patient und Arzt ein fast freundschaftliches Band entstanden.

Nach Darstellung dieses Beispiels komme ich zu einigen Schlußfolgerungen und Thesen:

Erstens. Der Patient steht immer im Mittelpunkt des Rehabilitations-Behandlungsplans. Ohne die Mitarbeit von Ralf hätten wir nie etwas erreichen können. Es hat manchmal sehr viel Energie gekostet, ihn in den Behandlungsplan einzubeziehen. Oft hatte er auch andere Ideen, die wir dann, wenn sie realistisch waren, in den Behandlungsplan einpassen mußten.

Zweitens. Der Rehabilitations-Behandlungsplan ist interdisziplinär und interprofessionell: interdisziplinär, weil die Krankheit oft die Gebiete eines Facharztes überschreitet - dann muß der Behandlungsplan koordiniert werden, und das macht der Rehabilitationsarzt -, interprofessionell, weil der Behandlungsplan nicht ein Zusammenzählen von ein bißchen Physiotherapie, Psychologie oder Technik ist, sondern vom Rehabilitationsarzt zu einem Totalplan gestaltet werden muß.

Drittens. Hieraus wird klar, daß der Rehabilitations-Behandlungsplan koordiniert werden muß. Dies muß man lernen.

Viertens. Bei der Weiterbildung zum Rehabilitationsarzt ist viel Zeit dafür einzuräumen, daß man diese Rolle als Koordinator auch wirklich erfüllen kann. Kontaktfähigkeit ist notwendig und eine Eigenschaft, die Voraussetzung ist bei der Annahme von Assistenzärzten für die Weiterbildung zum Facharzt. Natürlich hat diese Koordinationsrolle auch Konsequenzen für die weitere fachtechnische Ausbildung. Man muß Gesprächspartner von Fachärzten in angrenzenden Gebieten sein können. Man muß genügend Kenntnisse auf dem Gebiet der Neurologie, der Orthopädie, der Röntgenologie und der Traumatologie haben. Die meisten der auszubildenden Assistenzärzte haben mehrere Jahre auf diesem Gebiet gearbeitet, bevor sie bei uns als Assistenzarzt überhaupt angenommen werden.

Aber auch mit den Therapeuten muß man mit Autorität reden können. Man muß genügend Kenntnisse auf den Gebieten der Physiotherapie, der Ergotherapie und der Logopädie besitzen, damit man diesen Therapeuten ein richtiges Rezept vorlegen kann, was sie genau machen müssen.

Dasselbe gilt für Psychologen und Techniker. So werden orthopädische Schuhe beispielsweise immer in Zusammenarbeit mit dem Orthopädie-Schuhmachermeister gefertigt. Er erhält ein Rezept, und er muß mir darlegen, ob er die Schuhe nach diesem Rezept anfertigen kann. Arzt und Schuhtechniker betrachten in Anwesenheit des Patienten die Problematik, und erst dann, wenn Einigkeit über das anzufertigende Produkt besteht, werden die Schuhe hergestellt. Zwischendurch wird auch noch kontrolliert, ob das entsteht, was verabredet ist.

Fünftens. Der Rehabilitations-Behandlungsplan folgt den Indikationen. Erst einmal muß die Krankheit Folgen für den Haltungs- und Bewegungsapparat haben, und zwar als Behinderung; sodann werden diese Behinderungen nach dem SASPK-Modell inventarisiert. So entsteht der Rehabilitations-Behandlungsplan.

Sechstens. Die Rehabilitations-Diagnose wird also über das SASPK-Modell gestellt, aber der Rehabilitationsplan muß regelmäßig evaluiert werden. Wie aus dem Beispiel mit dem Patienten Ralf klar wird, muß nach jedem Schub oder jeder Operation der Rehabilitationsplan revidiert werden.

Siebtens. Der Rehabilitationsarzt ist aktiv im Akutkrankenhaus. Ich nenne als Beispiel Kinder mit Spina bifida: Sobald sie geboren sind, behandelt der Rehabilitationsarzt mit. Dasselbe ist der Fall bei Schädelhirntraumen und Querschnittslähmungen. Sobald wie möglich kommt der Patient in der Akutphase ins Rehabilitationskrankenhaus, wo das Personal viel besser ausgerüstet ist, um diesen Patiententyp zu behandeln. Der Rehabilitationsarzt im Akutkrankenhaus überweist also zum Rehabilitationskrankenhaus, oft weil er da den Patienten besser behandeln kann.

Als Querschnittspatient kommt man beispielsweise schon nach zehn Tagen ins Rehabilitationskrankenhaus. Die Fachärzte des Akutkrankenhauses - Neurologen, Neurochirurgen - kommen auch in unser Institut, um dort konsiliarisch tätig zu sein.

Die Behandlung der Patienten ist Teamarbeit. Diskussionen über "Das ist mein Patient!" sind nicht im Interesse des Patienten. Sobald es möglich ist und der Patient wieder zu Hause sein kann, wird er in seine eigene Wohnumgebung entlassen. Ein Rehabilitationskrankenhaus darf vom Patienten nie weiter entfernt sein als 40 bis 60 Kilometer. Sobald es möglich ist, wird der Patient am Wochenende nach Hause entlassen, damit er mit seiner Familie auch beim Rehabilitationsprozeß verbunden bleibt.

Die Familie wird auch auf die Abteilung eingeladen und instruiert, wie sie den Patienten zu Hause behandeln muß. Ambulant wird das gleiche Programm verschrieben wie im Krankenhaus. Wenn der Patient keine Behandlung mehr braucht, kommt er zur Kontrolle - natürlich nur dann, wenn noch Behinderungen vorhanden sind. Aber dieses gilt für die meisten Schädelhirnbeschädigten, Muskelkrankheiten, Amputationen usw.

In den meisten Rehabilitationskrankenhäusern wird regelmäßig eine Resultatmessung durchgeführt, die sogenannten outcome measurements, beispielsweise bei 88 Prozent der CVA-Patienten. Dies ist natürlich nur möglich, wenn Behandlungsprotokolle vorhanden sind. Qualitätsmanagement ist nicht nur notwendig für das Management des eigenen Krankenhauses, damit man weiß, ob Menschen und Mittel effizient eingesetzt werden; mehr und mehr fragen auch die Kostenträger, ob wir beweisen können, warum diese Art von Behandlung gerade bei uns geschehen muß und nicht bei dem Therapeuten an der Ecke, wo es viel billiger ist. Daß die Rehabilitation Erfolg hat, weiß man, weil die Zielsetzung durch die SASPK-Diagnostik gut umschrieben ist. Die Behandlungen finden gut dokumentiert statt, und das Behandlungsresultat läßt sich gut umschreiben.

Die Rehabilitation in dieser Art ist auch gut vergleichbar. Man kann klarmachen, warum der Behandlungsplan so wie von uns beschrieben stattfinden muß, warum er nicht mono-disziplinär stattfinden darf, weil dann nämlich bestimmte Gebiete der Behinderung unbehandelt blieben. Die Rehabilitation nach diesem Rezept hat also Erfolg, ist vergleichbar und dadurch auch abzugrenzen von anderen Interventionen.

Die Rehabilitation ist untrennbar verbunden mit der Akutmedizin: Im Akutkrankenhaus ist die Rehabilitation eine Frühförderung. Es ist notwendig, daß der Rehabilitationsarzt konsiliarisch mitbehandeln kann, beispielsweise bei Querschnittsgelähmten, bei Neugeborenen, als Frührehabilitation im Akutstadium, zusammen mit unserem Behandlerteam. Wir haben unser eigenes Behandlerteam im Akutkrankenhaus: Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Sozialarbeiter, Techniker können wir vom Rehabilitationskrankenhaus einschalten. Die Patienten können von der Rehabilitationsabteilung im Akutkrankenhaus behandelt werden.

Es ist die Mission des Rehabilitationsarztes, seine Kollegen auf drohende Behinderung hinzuweisen, wie bei der Neurochirurgie, der Plastischen Chirurgie und der Neurologie. Genannt wurden von mir das Händeteam und das diabetische Fußteam, wo Gefäßchirurg, Dermatologe und Rehabilitationsarzt den Patienten gemeinsam sehen. Die Rehabilitation als Frühbehandlung ist notwendig als Prävention für Behinderungen. Dieses ist nur möglich durch interdisziplinäre Zusammenarbeit. Meine nächste These lautet: Die Rehabilitation mit ihren Folgen und Erfolgen ist ärztliche Pflicht. Der Patient und seine Familie spielen eine wesentliche Rolle beim Erfolg des Rehabilitationsprozesses. Die Rehabilitation soll darum wohnortnah stattfinden. In einem dicht besiedelten Land wie den Niederlanden ist das kein Problem. In den skandinavischen Ländern ist es schwieriger. In Deutschland aber ist meiner Meinung nach eine wohnortnahe Rehabilitation realisierbar. Der Bedarf in den Niederlanden an Rehabilitationsärzten beträgt 30 Ärzte pro eine Million Einwohner. Auch in anderen europäischen Ländern - wie Frankreich, Italien, England, Belgien - und auch in den Vereinigten Staaten gibt es ähnliche Zahlen. Es gibt dort also viele Tausende von Rehabilitationsfachärzten.

Ich hoffe doch sehr - dies ist auch meine Motivation, hier zu sprechen -, daß das wichtigste Land in Europa, und so betrachte ich die Bundesrepublik, es sich nicht leisten kann, bei diesen Entwicklungen nicht voranzugehen. Ich wünsche, daß die Bundesrepublik im Gleichschritt mit den Entwicklungen in den anderen europäischen Ländern fortschreitet. Das ist notwendig für die Menschen mit einer Disability nach einer Störung. Sie sind abhängig von der Qualität der Sorge, die ihnen zuteil wird.

Ich hoffe, einen kleinen Beitrag dazu geliefert zu haben, Ihnen zu verdeutlichen, daß Deutschland als eine wichtige europäische Nation die Pflicht hat, im Interesse seiner Bürger, die eine Behinderung haben, eine führende Rolle bei der Weiterentwicklung der Rehabilitationsmedizin zu spielen.

Danke schön.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Karsten Vilmar, Präsident:

Herzlichen Dank, Herr Professor Zilvold, für diese Ausführungen, die, glaube ich, die Bedeutung der Rehabilitation jedem klargemacht haben. Wir haben auch einen guten Eindruck darüber bekommen, was Sie in den Niederlanden aufgebaut und geleistet haben und leisten.

Das Wort hat nun der nächste Referent zu diesem Thema, Herr Rudolf Henke. Im Anschluß daran werden wir uns den Anträgen zuwenden. Bitte, Herr Henke, Sie haben das Wort.


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