Top I: Gesundheits- und Sozialpolitik

Prof. Dr. Kossow, Niedersachsen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! "Freiheit für Grönland - das Packeis muss weg!" oder "Weg mit der Kostenverantwortung für Ärzte!" - das sind Slogans von gleicher Qualität. Es ist ja nicht so, dass 30 oder 40 Prozent mehr Geld im Gesundheitswesen, wenn wir sie denn bekämen, dazu führten, dass wir uns keine Gedanken mehr über die Grenzen der Rationierung machen müssen, und zwar gemeinsam mit der Politik.

Welche Grenzen gibt es für die Lohnnebenkosten? Es gibt eine große Koalition, die diese Grenze bei 40 Prozent ansetzt. Das bedeutet bei wachsenden Rentenkosten sinkende Beiträge für die GKV. Also müsste an die Stelle der LohnnebenkostenFinanzierung eine SteuerFinanzierung treten. Aber wo liegt die Grenze dort? Bei 60 Prozent? Bei 75 Prozent?

Machen wir uns nichts vor: Die Ressourcen sind endlich. Auch für den Autobahnbau und andere öffentliche Aufgaben sind die Ressourcen endlich. Es sterben auch Leute, weil die A 31 nach Emden seit Jahren nicht gebaut wird. In jeder Gesellschaft ist die Rationierung in Bezug auf öffentliche Aufgaben und auch in Bezug auf öffentlich zu garantierende private Aufgaben eine Selbstverständlichkeit. Mit Kultur müssen solche schmerzhaften Rationierungsaufgaben möglichst in öffentlicher Diskussion und dann im Konsens zwischen den politischen Parteien geregelt werden. Oder sollen wir etwa die private Finanzierung überall vorsehen?

Sie wissen, dass von der derzeitigen Bundesregierung die Selbstbeteiligung vermindert wurde. Das war meiner Meinung nach ein Fehler. Aber auch bei der höheren Selbstbeteiligung unter Herrn Seehofer wurden fast 70 Prozent davon befreit.

Wenn wir die private Finanzierung in den Vordergrund stellen, taucht sehr schnell die Frage auf: Wie viel Klassendifferenz bei der GesundheitsVersorgung und bei der Krankheitsbehandlung ist in einem Sozial- und Rechtsstaat überhaupt zulässig? Wie viel davon verträgt eine Bürgergesellschaft?

Dann sind wir wieder bei der Frage an die Ärzte: Wie viel Medizin könnt ihr für eine begrenzte Menge Geld liefern? Das ist eine medizinische Frage. Niemand möge sich die Illusion machen, dass wir als Ärzteschaft einer Antwort auf diese Frage ausweichen können. Nein, das Einzige, was wir erreichen können, ist, dass die Regierung mit notwendigen Rationalisierungen und möglichen Rationierungen nicht mehr fahrlässig, unfair und gegen rechtsstaatliche Gründe umgeht.

Das tut sie jedoch beispielsweise dann, wenn Europarechtlich gesehen durch Verträge der Bundesrepublik Deutschland aufgrund einer Arzneimittelzulassung in Europa der freie Arzneimittelverkehr garantiert wird, was die Folge hat, dass dies für das deutsche Sozialrecht einen ungesteuerten Zugang von nicht finanzierten Arzneimitteln bedeutet, die letzten Endes durch Regressforderungen gegenüber Ärzten finanziert werden müssen.

So handelt die Regierung auch, wenn sie das Haftungsrecht durch eine Qualitätssicherung mit den entsprechenden Auflagen indirekt immer weiter verschärft, was zum Ergebnis hat, dass die von der Politik gesetzten Qualitätsnormen entweder nicht oder zulasten der Dienstleistenden finanziert werden. Gegen diese Ungerechtigkeit müssen wir uns wehren: vor Gericht, in der politischen Diskussion und auch in den Gremien der Bundesärztekammer und der KBV.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Schönen Dank, Herr Kossow. - Als nächster Redner bitte Herr Bicker, Nordrhein.


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