TOP I : Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik
2. Tag: Mittwoch, 23. Mai 2001 Vormittagssitzung

Dr. Jungmann, Saarland:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Diskussion über die PID handelt es sich meiner Meinung nach um eine verschobene Abtreibungs- und Tötungsdiskussion. Eigentlich waren wir mit § 218 StGB schon lange fertig. Aber offenbar sind wir damit bewusst und/oder unbewusst doch noch nicht fertig. Wenn wir wirklich der Meinung sind, dass der Mensch mit der Verschmelzung von Samen- und Eizelle zu existieren beginnt, ist die "Entsorgung" von - aus welchen Gründen auch immer - unerwünschten Embryonen Vernichtung von menschlichem Leben. Verschiebungen in der Annahme menschlicher Existenz können natürlich nach Beliebigkeit vorgenommen werden: die Nidation, die Dreimonatsfrist, kurz vor der Geburt, kurz nach der Geburt, vielleicht die Initiationsphase, vielleicht auch das Kindesalter. Es wurden ja auch schon in früheren Kulturen Kinder straffrei umgebracht.

Aber auch später können Menschen problemlos getötet werden, beispielsweise in Kriegen, durch die Todesstrafe oder durch die so genannte Euthanasie bei unheilbarer Krankheit und Sterbewunsch.

Wir müssen uns dieser Beliebigkeit der PID bewusst werden. Ich fürchte, dass diese Diskussion an uns bereits vorbeigegangen ist. Eigentlich sollte die PID-Diskussion eine gesellschaftliche Diskussion sein: Wie steht die Gesellschaft zur Tötung menschlichen Wesens, insbesondere der noch nicht als Menschen identifizierten Wesen, ob behindert oder nicht? Die noch nicht eindeutigen menschlichen Wesen entstehen ja im Vagen, im Ungewissen, als Zellen, als Zellhaufen, als Abstraktion, als Vorstellung, als etwas Potenzielles, das sich mehr und mehr materialisiert. Die Anfänge sind Fantasie: Fantasie vom behinderten Kind, Fantasie vom gesunden Kind oder einfach Fantasie vom störenden Kind, Zweifel und Ängste.

Wir brauchen Mut und Entscheidungskraft, auch das behinderte Kind in Kauf zu nehmen, überhaupt Schicksal in Kauf zu nehmen. Selektion "unwerten Lebens", erst recht spekulierten "unwerten Lebens", weckt nicht nur unglückliche Assoziationen an die Nazi-Denk- und -Fühlweise. Es wird eine Gesellschaft seelisch nicht zur Ruhe kommen können, ebenso wenig wie die unabgeschlossene Abtreibungsdiskussion. Lassen wir die PID und die Entsorgung von lebensunwürdigen befruchteten Eizellen ebenso wie die so genannte Euthanasie von terminal kranken Menschen!

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Vielen Dank, Herr Kollege Jungmann. - Das Wort hat Herr Kollege Massing, Westfalen-Lippe.

© 2001, Bundesärztekammer.