TOP II: Ausbeutung junger Ärztinnen und Ärzte

2. Tag: Mittwoch, 23. Mai 2001 Vormittagssitzung

Dr. Priesack, Referent:

Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin offiziell vom Vorstand der Bundesärztekammer eingeladen worden. Mein Verwaltungsdirektor hat eine Dienstbefreiung nicht befürwortet. Gestatten Sie mir daher eingangs das Eingeständnis, dass ich zornig bin.

(Beifall)

Vielleicht geht es Ihnen heute so wie uns in Kiel vor zehn Jahren: Es geht einfach nichts voran, es wird nur lamentiert. Wir hatten dieses ständige Lamentieren über Marathondienste ohne Ruhepausen, unbezahlte Überstunden, absurde bürokratische Bevormundung und mangelhafte Ausbildungsmöglichkeiten gründlich satt.

(Beifall)

Ärztinnen und Ärzte unserer Chirurgischen Abteilung in einem kommunalen Schwerpunktkrankenhaus beschlossen 1990, gemeinsam nicht länger zu jammern und sich zu ducken. Wir forderten die Einhaltung uns zustehender geltender Arbeitsregeln - zunächst konstruktiv und kooperativ, schließlich offensiv. 1991 erstritten wir vor dem Arbeitsgericht Kiel die Begrenzung der Bereitschaftsdiensteinsätze. Nun war endlich Schluss mit bis zu 14 Nachtdiensten im Monat. Mit maximal 26 Stunden Dienst statt bisher 32 bis 36 Stunden konnten die Assistenten jetzt nach Hause gehen. Ein erster ermutigender Schritt war getan: Zwei Berufsanfänger wurden neu eingestellt.

Die übrigen Fachabteilungen beneideten uns um diese Entlastung. Sie hatten die gerichtliche Konfrontation mit der Krankenhausleitung nicht gewagt.

1993 erzwangen die Einführung des gedeckelten Budgets und das neue Arbeitszeitgesetz, dass reguläre Assistentenstellen in billige Arzt-im-Praktikum-Stellen heruntergebrochen werden mussten. Statt routinierter Stationsärzte mussten nun nicht nur Ärzte im Praktikum ohne ausreichende Berufserfahrung einspringen, sondern selbst Medizinstudenten mussten helfen, intravenös Krebsmedikamente und Blutkonserven zu verabreichen, damit die Behandlung von Patienten noch gewährleistet blieb.

Die Zunahme nächtlicher Notfälle führte 1995 in der Unfallchirurgie zu gefährlichen Versorgungsengpässen, da niedergelassene Kollegen sich nicht in der Lage sahen, nachts und an Wochenenden ihren Sicherstellungsauftrag zu erfüllen. Als schließlich ambulante Notfallpatienten unversorgt von uns abgewiesen werden mussten, drohte die Klinikleitung mit Repressalien.

Unser Protest gegen diese unzumutbare Situation veranlasste schließlich die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Frau Heide Simonis, auf unsere Einladung hin zu der Zusage, einen Nachtdienst in der Chirurgie zu begleiten.

(Beifall)

Diesen Besuch der Ministerpräsidentin wusste die Klinikleitung mit einem geschickten Trick und einer rechtswidrigen Abmahnung zu verhindern.

Trotz weiterer Einschüchterungsversuche beharrten wir auf der Einhaltung geltender Arbeitsregeln. Trotz offenkundiger Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz sah das zuständige Gewerbeaufsichtsamt keinen Grund zur Beanstandung.

Im Oktober des vergangenen Jahres weckte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs unsere Aufmerksamkeit. Spanische Ärzte hatten die Umsetzung der Europäischen Arbeitsschutzrichtlinie auch für Ärzte erstritten. Nach diesem EuGH-Urteil dürfen auch Ärzte pro Siebentagewoche nicht mehr als 48 Stunden in der Klinik beschäftigt werden. Überstunden und Bereitschaftsdienstzeiten gelten danach als volle Arbeitszeit.

In dieser Zeit gelangte zufälligerweise ein verzweifelter Hilferuf junger Ärztinnen und Ärzte anonym an die Kieler Presse. Kolleginnen und Kollegen einer internistischen Abteilung sahen sich wegen der ständig zunehmenden Überlastung nicht mehr in der Lage, die nötige Behandlungssicherheit für die Patienten zu gewährleisten.

Ein letzter Versuch der Klinikleitung, die Öffentlichkeit durch eine Abmahnungsdrohung auszuschließen, scheiterte. Schließlich mussten Politiker und Klinikleitung vor einer empörten Öffentlichkeit unhaltbare Zustände in einem Krankenhaus mit über 650 Betten einräumen.

Es folgten hastige Korrekturen. Sie konnten die unhaltbaren Zustände nur marginal verbessern. Das Budget lässt keinen Spielraum.

Unsere Geduld war nun endgültig zu Ende. Wachsender Unmut in unserem Krankenhaus mündete in dem Entschluss, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs auch für uns zu erstreiten. Auch wir fordern die volle Anerkennung von Überstunden und Bereitschaftsdienstzeiten als volle Arbeitszeit. Jetzt unterstützen mehr als 50 Ärztinnen und Ärzte unseres Hauses, vom Leitenden Oberarzt bis zum AiP, diesen Entschluss.

(Beifall)

Die Krankenhausleitung lehnte unsere Forderung ab. Vor dem Arbeitsgericht Kiel werden wir nun mit Unterstützung des Marburger Bunds Schleswig-Holstein Klage erheben. Wir sind fest von unserem Erfolg überzeugt. Wir fordern Arbeitsbedingungen, die für jeden Busfahrer und für jeden Piloten selbstverständlich sind.

(Beifall)

Unser Entschluss steht fest und wir werden notfalls durch alle Instanzen klagen.

(Beifall)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir uns hier nichts vor: Der politisch verordnete Paradigmenwechsel ist längst vollzogen. Nicht Gesundheit ist das höchste Gut, sondern Beitragsstabilität durch Budgetdiktat.

(Beifall)

Schon erfolgt die medizinische Versorgung nur noch innerhalb der Grenzen gedeckelter Budgets durch planwirtschaftliche Verteilung des verordneten Mangels. Rationierte Medizin in Krankenhaus und Arztpraxis ist längst Realität. Bei sinkender Versorgungsqualität wird die Gefährdung von Patienten billigend in Kauf genommen. Geltendes Arbeitsrecht wird aus Kostengründen ignoriert. Bisher erfolgreich will man die Krankenhausmisere aussitzen.

Das aber bezahlen unsere Ärztinnen und Ärzte mit einer nicht zu verantwortenden Ausbeutung. Repressalien und Arbeitsplatzverlust verhindern Proteste. Wir werden es nicht länger hinnehmen!

(Beifall)

Wir wollen nicht, dass junge Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal von Krankenhausleitung, Krankenkassen und Politikern nur noch als unerwünschter Kostenfaktor abgehandelt werden. Wir wollen nicht, dass unsere Berufsanfänger für eine Wochenarbeitszeit von bis zu 70 und 80 Stunden lediglich auf Sozialhilfeniveau entlohnt werden, wenn nicht einmal Zeit für ein normales Familienleben bleibt.

(Beifall)

Wie wollen Ärztinnen und Ärzte bei diesem Gehalt teure Fortbildungsveranstaltungen besuchen, wenn ihnen selbst bescheidene Reisekostenzuschüsse vorenthalten werden und sie für Fortbildung auch noch Urlaub beantragen müssen?

(Beifall)

Wir wollen nicht länger alte, gebrechliche Patienten als kostspielige Fallpauschalen im Eilverfahren durchschleusen, weil Krankenkassen uns den Regress androhen, wohl wissend, dass Pflegeheime die aufwendige Nachsorge personell gar nicht bewältigen können.

(Beifall)

Wir wollen nicht als Arztroboter entwürdigt billigte Dumpingmedizin produzieren.

Eines muss endlich klargestellt werden: Ärztinnen und Ärzte wollen sich nicht länger als Abhängige von Politik und Kassen zu Erfüllungsgehilfen eines verordneten Mangels missbrauchen lassen!

(Beifall)

Es wird endlich Zeit, dass Politiker und Krankenkassen die Verantwortung dafür übernehmen, welche medizinisch notwendigen und wirtschaftlich tragbaren Gesundheitsleistungen uns künftig noch zustehen. Dies müssen sie auch unverblümt sagen. Jahrelange gesundheitspolitische Versäumnisse und Fehlentscheidungen rächen sich nun. Deutsche Krankenhäuser sind schon lange kein attraktiver Arbeitsplatz mehr. Unser ärztlicher Nachwuchs orientiert sich schon längst an attraktiven Angeboten aus Ausland, Wirtschaft, Management und Medien. Warum wohl fliegen approbierte Ärzte lieber als Piloten bei der Lufthansa?

Die angebliche Medizinerschwemme entpuppt sich nun als Ammenmärchen. Kinderärzte, Radiologen und Allgemeinärzte finden schon jetzt keinen ausreichenden Nachwuchs mehr.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen in Arztpraxen, Krankenhäusern, Gesundheitsdiensten, Reha- und Kurkliniken, Betrieben und Krankenkassen! Erst dann, wenn sich die deutsche Ärzteschaft geschlossen, vom AiP über den Assistenzarzt, den Oberarzt und den Chefarzt bis zum niedergelassenen Kollegen, darauf besinnt, selbstbewusst dafür zu streiten, dass unter fairen Arbeitsbedingungen mit angemessener Vergütung eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung sichergestellt werden kann, werden junge Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal wieder mit Begeisterung und hoher Einsatzfreude ihre schöne, aber auch anspruchsvolle Tätigkeit ausüben. Dieses Ziel können und dieses Ziel müssen wir gemeinsam erreichen.

(Beifall)

Dies sind wir uns, den Patienten und unseren jungen Ärztinnen und Ärzten, das bin ich nicht zuletzt einem guten Krankenhaus in Kiel, welches gerade einen hohen Preis zahlt, schuldig.

Ich danke Ihnen.

(Lebhafter Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Vielen Dank. - Jetzt bitte Herr Montgomery. Er fasst die Diskussion zusammen. Bitte schön.

© 2001, Bundesärztekammer.