TOP V: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer
4. Tag: Freitag, 25. Mai 2001 Nur Vormittagssitzung

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Wir kommen zum Antrag 66. Es geht um die Neuordnung des Gesundheitswesens. Der Antrag stammt von Herrn Dr. Ikonomidis aus Bayern und Herrn Dr. Saueressig aus Baden-Württemberg. Der Text lautet:

Der 104. Deutsche Ärztetag beauftragt die Bundesärztekammer dazu, die Bundesregierung zu einer echten Erneuerung in der Gesundheitspolitik zu ermutigen, indem eine Entstaatlichung eingeleitet wird. Folgende Maßnahmen sind erforderlich:

1. Einführung einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht nach marktwirtschaftlichen Prinzipien.

2. Die GKV-Kassen werden zu Teilen des Marktes.

3. Sozial Schwache werden aus Steuermitteln versichert.

Die Begründung lautet:

Die Herausforderungen im Gesundheitswesen sind nur zu lösen, wenn das System der Krankenversicherung dem sonstigen marktwirtschaftlichen System angepasst wird.

Gibt es dazu eine Gegenrede? - Bitte, Herr Kossow.

Prof. Dr. Kossow, Niedersachsen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie bitten, den Antrag abzulehnen oder ersatzweise an den Vorstand zu überweisen.

(Zuruf: Nein!)

- Es kann ja jemand beantragen, den Antrag an den Vorstand zu überweisen. Meine Position ist die Gegenrede und für eine Ablehnung zu votieren.

Die Gründe sind ganz einfach: Es gibt nur ein Land auf der Welt, wo der Inhalt dieses Antrags lupenrein umgesetzt ist. Das sind die USA. Sie haben einen wesentlich größeren volkswirtschaftlichen Ertrag als wir und können sich dieses System trotzdem nicht leisten. Sie versorgen ein Viertel ihrer Bevölkerung auf der Grundlage eines marktwirtschaftlichen Versicherungssystems überhaupt nicht. In keinem anderen Land der Welt gibt es so etwas wie eine frei handelbare Dienstleistung im Gesundheitswesen auf der Grundlage eines freiwirtschaftlichen Versicherungsprinzips, wie es hier gefordert wird.

Ich möchte Sie auch vor dem Experiment warnen, und zwar aus einigen grundsätzlichen Überlegungen heraus, die teils rechtsformaler Natur sind. Wir hätten nämlich in Gestalt des Arztrechts den Eingriff des Staats auf den Arztberuf immer noch, wenn der Antrag angenommen würde. Der ärztliche Beruf ist beispielsweise kein Gewerbe etc.

Es gibt auch einige ökonomische Überlegungen, die hinter dieser Problematik stehen, weshalb man den Antrag ablehnen muss. Es gibt viele Krankheiten und damit auch Krankheitsverhütungsmethoden, die nur staatlich und gesamtgesellschaftlich funktionieren. Das ist beispielsweise bei fast allen Infektionskrankheiten der Fall. Diese sind per se nicht marktwirtschaftlich zu regeln, weil jemand, der sich beispielsweise an einer Pockenimpfung gar nicht beteiligt und selber nie eine Pockenimpfung bezahlt, dennoch einen Vorteil davon hat, wenn die Gesellschaft diese Leistungen erbringt.

Sie haben also im Gesundheitswesen für die große Gruppe der Infektionskrankheiten die Gesetzmäßigkeit, dass auch derjenigen profitiert, der gar keine Güter tauscht. Das hat zwingend zur Folge, dass Sie die gesellschaftliche Organisation trotz der freiwirtschaftlichen Organisation des Gesundheitswesens hinterher zurückrufen müssen.

Wenn Sie die heute abgestimmten Anträge einmal Revue passieren lassen, sehen Sie bitte einmal die Anträge daraufhin durch, wo sie an den Staat und damit an die Organisationen der Gesellschaft appellieren, damit etwas verbessert wird. Damit haben Sie heute schon selbst bewiesen, dass Sie ein gesellschaftlich gestütztes Gesundheitswesen haben müssen. Dann kann man keinen Antrag annehmen, der einen Dienstleistungstausch im Gesundheitswesen auf freiwirtschaftliche Grundlage stellen will, und zwar ausschließlich auf diese Grundlage.

(Beifall)

Es gibt einen weiteren Grund: Die meisten Risikofaktorenerkrankungen sind nur über viele Jahrzehnte behandelbar. Wer mit der Veranlagung zu Diabetes, Fettstoffwechselstörungen usw. geboren wird, bekommt diese genetische Veranlagung in den Endpunkterkrankungen erst sieben Jahrzehnte später und manchmal auch noch danach. Den Schlaganfall bei einer Neigung zur Hypertonie bekommt man vorzugsweise nach dem 70. Lebensjahr.

Das heißt, dass über diese ganzen vorhergehenden Jahrzehnte eine Risikokalkulation bei freiwirtschaftlichen Versicherungsverträgen mitgeführt werden müsste, was praktisch gar nicht machbar ist. Es reicht nicht aus, Finanzrückstellungen zu bewegen, sondern man muss auch Risikopotenziale individuell bewegen. Erinnern Sie sich bitte daran, was dies für den Datenschutz bedeuten würde.

Es gibt nur eine kleine Gruppe von Dingen, die so genannten Individualgüter - angefangen von der Form der Brille bis hin zu der Frage, ob man sich die Ohren chirurgisch stärker anlegen lassen sollte oder nicht -, die man privatwirtschaftlich regeln kann. Wenn man dafür eine Versicherung findet, kann man das auch über die Versicherungswirtschaft privatwirtschaftlich regeln. Das ist aber ein so kleiner Teil der gesamtwirtschaftlichen Leistungen im Gesundheitswesen, dass es sich praktisch nicht lohnt, darüber zu reden.

Fazit: Wir kommen um die schwierige Auseinandersetzung mit dem Staat über die Frage, auf welche Weise wir das Gesundheitswesen organisieren sollen, nicht herum. Selbstverständlich brauchen die Ärzte da eine stärkere Mitsprache. Aber auf keinen Fall können wir dieses den Regulatorien eines Marktes überlassen.

Vielen Dank.

(Beifall - Zuruf: Vorstandsüberweisung!)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Danke schön. - Jetzt bitte Herr Dr. Ikonomidis als Verteidiger seines Antrags.

Dr. Ikonomidis, Bayern:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht wirklich nicht mehr komplizierter, als es Herr Kossow ausgeführt hat. Wir wollen den Staat doch nicht aus seiner Pflicht gegenüber seinen Bürgern entlassen. Wenn dieser Staat Impfungen für richtig hält und ein staatliches Gesundheitswesen aufrechterhält, dann ist das seine Sache.

In den Vereinigten Staaten gibt es nicht die allgemeine Versicherungspflicht. Das ist den Bürgern freigestellt. Deshalb gibt es ja auch diese Probleme.

Hier aber geht es darum, dass wir mit diesem Antrag alle Bürger zu einer Krankenversicherung verpflichten wollen. Es geht darum, die Schwachen durch solidarisch aufgebrachte Steuermittel abzusichern. Das ist wahre Solidarität - nicht die heute geltende, aber falsch verstandene Solidarität, die ja zu einer Selbstbedienung entartet ist.

Die GKV-Kassen erfahren ja keine Nachteile. Die Politik will auch heute den Wettbewerb unter ihnen. Sie sollen ihn haben. Wenn die Kassen gut sind, dann werden sie erfolgreich sein.

Ich bitte Sie um Annahme des Antrags.

Danke schön.

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Vielen Dank. - Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache Nr. V-66. Ich habe den Geschäftsordnungsantrag auf Vorstandsüberweisung gehört.

(Zuruf: Antrag auf Nichtbefassung!)

- Dieser Antrag ist der weitestgehende Antrag. Wer möchte sich mit dem Antrag abstimmungsmäßig nicht befassen? - Wer ist für die Befassung mit diesem Antrag? - Das Erste war die Mehrheit. Damit ist Nichtbefassung beschlossen.

© 2001, Bundesärztekammer.