Dienstag, 28. Mai 2002, 10.00 Uhr
Kvaerner Warnow Werft
(Musikalische Umrahmung: PERCUSSION PROJEKT ROSTOCK)
Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:
Lieber Herr Ehrenpräsident Scholz! Sehr verehrte Frau Ministerin
Schmidt! Sehr verehrte Frau Ministerin Bunge! Meine Damen und Herren
Abgeordneten aus Bund und Land! Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister
Pöker! Sehr geehrte Paracelsus-Medaillen-Träger nebst
Familienangehörigen! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst, Andreas Crusius,
herzlichen Dank für die Einladung der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern,
in diese schöne Stadt zu kommen. Nach Eisenach mit einer Eröffnungsveranstaltung
in der Kirche jetzt die Eröffnungsveranstaltung in einer Werfthalle
- das zeigt die ganze Spannbreite. Darüber könnte man
einen eigenen Vortrag halten. Vielen herzlichen Dank dir und deinem
Vorstand!
Herr Oberbürgermeister, wir gratulieren zu dieser schönen
und - wenn man ehrlich ist - auch wieder relativ weit entwickelten
Stadt. Wir genießen die Qualität der Luft in dieser Stadt
im Moment ganz besonders.
(Heiterkeit)
Wir wünschen Ihnen weiteres Wohlergehen und viel Erfolg bei
der Entwicklung Ihrer Stadt, insbesondere bei der Erfüllung
Ihres Hauptwunsches, die Arbeitslosigkeit zu senken.
Frau Ministerin Bunge, wir haben die Tagungsorte für den Deutschen
Ärztetag noch nie nach den Farben der Regierung in dem jeweiligen
Land ausgesucht.
(Beifall)
Ihre Ansprache sagt mir: Bei Überschriften über das,
was man wichtig findet und zu lösen erforderlich findet, sind
wir uns fast immer einig. Die Schwierigkeiten beginnen erst, wenn
man auch noch das Ziel definieren will. Richtig schwierig wird es,
wenn man den Weg beschreiben muss. Da werden wir wahrscheinlich
immer die Diskussionen benötigen. Das hat Ihre Ansprache und
auch die von Frau Ministerin Schmidt gezeigt.
Eine Verweigerungshaltung seitens der Ärzteschaft hat es nie
gegeben und wird es nicht geben. Die Anregung des Runden Tisches
kam ja aus der Ärzteschaft, wenn ich das so sagen darf. Frau
Ministerin Schmidt hat sie aufgegriffen. Die Zeit, die zur Verfügung
stand, um ihn zu nutzen, ist genutzt worden. Wenn es möglich
ist, wird diese Einrichtung fortgeführt. Ich glaube, das ist
sehr wichtig. Darauf komme ich später noch einmal zurück.
Frau Ministerin Schmidt, wir verkennen nicht, dass Sie etwas auf
den Weg gebracht haben. Vieles von dem, was Sie heute gesagt haben,
zeigt, dass wir nicht ohne Überzeugungskraft geblieben sind.
Wenn das auch noch nach der Wahl gilt, sind wir ein gutes Stück
weiter.
Nächstes Jahr wiederzukommen hat auch Herr Minister Seehofer
1998 versprochen. Daran kann ich mich noch gut erinnern.
(Heiterkeit - Beifall)
Aber wie sagt man in Bayern so schön? - Schau'n wir mal, dann
seh'n wir schon!
Trotz allem, was Sie gesagt haben, herrscht im Lande eine eigenartige
Stimmung. Ich spüre es beispielsweise bei Interviews und sonstigen
Gelegenheiten im vorpolitischen Raum. Ich glaube, das liegt an Folgendem:
Es ist jetzt ein gutes Jahr her, dass dem deutschen Gesundheitswesen
vom Sachverständigenrat ohne Konzertierte Aktion für das
Gesundheitswesen beschieden wurde, zu teuer und ineffizient zu sein.
Die Leistungen seien eher "mittelmäßig" und
in vielerlei Hinsicht "bruchstückhaft", lautete das
Verdikt.
Für viele Menschen, die Tag für Tag drohende Rationierung
durch persönliches Engagement kompensieren und damit oft bis
an den Rand ihrer Belastungsfähigkeit gehen, waren die plakativen
und für uns höchst unwissenschaftlich anmutenden Äußerungen
allerdings nur sehr schwer erträglich!
(Beifall)
Insofern habe ich Ihre heutigen Worte bezüglich der Rücktransportversicherung
als eine Passage mehr an diese Berater und nicht so sehr an uns
verstanden.
(Beifall)
Bei einer seriösen Gesamtbetrachtung hätten selbst die
härtesten Kritiker einräumen müssen: Es gibt höchstens
eine Handvoll Länder auf dieser Welt, die einen ähnlich
hohen Qualitätsstandard in der medizinischen Versorgung bieten,
wie es in Deutschland derzeit noch möglich ist.
(Beifall)
Warum auch sonst sollten Patienten aus England, die im eigenen
Land zwei Jahre auf eine vermeintlich nicht lebenswichtige Operation
warten, in deutschen Krankenhäusern behandelt werden? Warum
finden zunehmend mehr Patienten aus Holland in grenznahen Gebieten
den Weg in unsere Kliniken? Und warum genießen gerade deutsche
Ärztinnen und Ärzte einen so guten Ruf, dass sie von anderen
europäischen Ländern regelrecht abgeworben werden?
(Beifall)
Meine Antwort darauf lautet: weil wir in Wirklichkeit ein sehr
leistungsfähiges und im internationalen Vergleich keineswegs
rückständiges Gesundheitswesen haben.
Wir appellieren deshalb an alle für das Gesundheitswesen Verantwortlichen,
unser System nicht weiter kaputtzureden.
(Beifall)
Vor allem sollte niemand mehr den populistischen Selbstdarstellungen
- ich kann es nur so nennen - expertokratischer Heilsverkünder
auf den Leim gehen,
(Beifall)
die mit äußerst zweifelhaften internationalen Vergleichen
das deutsche Gesundheitswesen schon auf der Intensivstation sehen.
Denn die Länder, die uns noch vor kurzem in einem Ranking
der Weltgesundheitsorganisation als Musterknaben vorgehalten worden
sind, müssen jetzt kräftig zulegen, verglichen mit dem
damaligen Zeitpunkt der Messungen: In Frankreich - ehemals Ranking-Spitzenreiter
- ist der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt
von damals 8,6 Prozent auf jetzt über 10,2 Prozent gestiegen;
Großbritannien ist auf dem besten Wege - Tony Blair tut das
Seine -, seinen Ausgabenanteil von 6,5 Prozent auf über 9 Prozent
zu steigern. Und in Finnland hat die Regierung eine Arbeitsgruppe
unter der Führung der ehemaligen Ärztekammerpräsidentin
eingesetzt, die in den nächsten 18 Monaten eine Reform für
das Gesundheitswesen vorlegen soll, mit der bemerkenswerten Vorgabe,
dass dort der Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 6,5 Prozent auf
9 Prozent steigen darf!
Das sind die tatsächlichen Entwicklungen, an denen niemand
vorbeisehen darf, der sich ernsthaft mit Gesundheitspolitik im europäischen
Vergleich auseinander setzen will. Alles andere ist mehr populistisch
denn wissenschaftlich, ist schlichtweg unlauter!
(Beifall)
So zweifelhaft also internationale Vergleiche sind, so unseriös
sind auch die Konzepte dieser Politikberater. Diese Expertokraten
wollen doch nur das eine: auf Biegen und Brechen den Kassenversorgungsstaat,
die Schematisierung der medizinischen Behandlungsabläufe und
die bedingungslose Durchökonomisierung unseres Gesundheitswesens!
Das, meine Damen und Herren, sind die Pfeiler, auf denen die Zuteilungsmedizin
aufgebaut werden soll, frei nach dem Motto: Egal was kaputtgeht,
Hauptsache, Patienten und Ärzte bleiben draußen!
(Beifall)
Aber da machen wir nicht mit und da werden auch unsere Patienten
nicht mitmachen - das kann ich Ihnen versprechen! Wir kennen die
Kranken, meine Damen und Herren, nicht nur die Statistiken!
(Beifall)
Perfide an dieser Ideologie ist auch, dass die Tätigkeit von
Ärztinnen und Ärzte durch einheitliche Behandlungsprogramme
planwirtschaftlich vorgeschrieben werden soll; zugleich aber sollen
wir uns in einem ruinösen Wettbewerb der Leistungserbringer
behaupten. Was ist da noch freier Arztberuf und wo bleibt da der
Patient?
Nach unserer Auffassung muss der medizinische Versorgungsbedarf
entscheidend sein und nicht das ökonomische Interesse der Krankenkassen.
(Beifall)
Patienten sind keine Kunden, sondern Bedürftige mit dem berechtigten
Anspruch auf qualitativ hochstehende medizinische Versorgung. Wartezeiten
von einem Jahr oder mehr für eine Operation wollen sie nicht.
Zuteilungsmedizin, meine Damen und Herren, ist in der Bevölkerung
nicht mehrheitsfähig und darf deshalb auch in der Politik nicht
mehrheitsfähig werden!
(Beifall)
Deshalb sind wir in den letzten Monaten so vehement gegen die Expertokraten
zu Felde gezogen. Wir dürfen es einfach nicht zulassen, dass
unter politisch abenteuerlichen Versprechungen, aber bei einer strikten
Budgetierung der Finanzmittel, eine Zweiklassenmedizin in Deutschland
salonfähig wird, vielleicht sogar noch eine Mehrklassenmedizin.
Es ist deshalb bemerkenswert, sehr verehrte Frau Bundesgesundheitsministerin,
dass Sie die Einsicht zum Ausdruck gebracht haben, Budgetierung
führe auf Dauer zu Rationierung. Ich hoffe, es bleibt dabei
auch nach dem 22. September, wo auch immer dann die Aktionen stattfinden.
(Beifall)
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, natürlich haben
auch wir nichts gegen eine bessere Versorgung chronisch Kranker
durch strukturierte Behandlungsprogramme. Die Ärzteschaft selbst
hat die Entwicklung von Leitlinien als Orientierungshilfe vorangetrieben.
Eine schematische Checklistenmedizin aber, wie sie sich manche Kassenfunktionäre
mit den Disease-Management-Programmen vorstellen - das spüren
wir sehr deutlich -, lehnen wir strikt ab!
(Beifall)
Behandlungsprogramme können nie mehr als eine Hilfestellung
zur qualifizierten Behandlung sein.
Wir haben bei dem im Koordinierungsausschuss jüngst verabschiedeten
Diabetesprogramm zu zeigen versucht, wie man einen Behandlungskorridor
im Konsens mit den entsprechenden Fachgesellschaften auf der Grundlage
konsentierter Leitlinien erstellen kann - wohlgemerkt: einen Behandlungskorridor.
Ich freue mich über die Anerkennung.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe nach wie vor die
große Gefahr, dass die Behandlungsprogramme nicht im Sinne
ärztlicher Leitlinien verstanden werden, sondern als Verwaltungsdekrete
einer kassengesteuerten Medizin missbraucht werden sollen. Das müssen
wir verhindern!
(Beifall)
Gerade die Koppelung der Disease-Management-Programme an den Risikostrukturausgleich
hat zu einer unheilvollen Verquickung von Medizin und Ökonomie
geführt.
(Beifall)
Die Gefahr ist groß, dass demnächst Patienten nur noch
als Kosten- und Normgrößen im Finanzausgleich der Krankenversicherungen
behandelt werden. Schließlich ist ja derjenige Patient für
eine Kasse wirtschaftlich interessant, der gerade so eben die Einschreibekriterien
der Disease-Management-Programme erfüllt, ohne nennenswerte
Leistungen in Anspruch zu nehmen. Der "gesunde Chroniker"
wird also zum lukrativsten Versicherten.
(Beifall)
Was aber ist mit dem Patienten, der an den geplanten Behandlungsprogrammen
nicht teilnehmen will oder die Voraussetzungen nicht alle erfüllt
oder aber aus dem Programm aussteigt oder gar aussteigen muss? Bekommt
dieser Patient dann eine Medizin zweiter Klasse?
Was ist mit all den anderen chronisch Kranken, für die es
keine Disease-Management-Programme gibt? Geht die Finanzierung der
bisherigen Programme nicht gerade zulasten dieser Kranken? Das sind
alles wichtige Fragen.
(Beifall)
Auch verursachen ja die Programme an sich Kosten, und zwar in enormer
Höhe. Allein die Dokumentation der Disease-Management-Programme,
so wie sie einigen Kassen vorschwebt, würde einen gigantischen
Verwaltungsaufwand nach sich ziehen. Fachleute sprechen von 2,5
Milliarden Euro. Betriebs- und Ortskrankenkassen müssen mit
bis zu 1 500 Vollzeitkräften allein zur Verwaltung dieser Programme
rechnen.
Meine Damen und Herren, hat das wirklich noch etwas mit Gesundheitspolitik
zu tun? Ist das nicht irgendwo purer Verwaltungswahn? - Ich glaube:
ja.
(Beifall)
In den Arztpraxen kann der zusätzliche Verwaltungsaufwand
aus Kostengründen nicht durch mehr Personal kompensiert werden.
Die Zeit, die zum Ausfüllen der Dokumentationsbögen benötigt
wird, ist verlorene Zeit für die Patientenbetreuung. So muss
man es sehen.
(Beifall)
Überschrift: Die Verwaltung von Krankheiten wird offensichtlich
wichtiger als die Behandlung von Kranksein. Das kann es nicht sein;
da stimme ich Herrn Professor Lasch zu.
(Beifall)
Das ist - das muss man so sehen - ein echter Paradigmenwechsel
in unserem Gesundheitswesen. Das ist eine, wenn man so will, philosophisch-soziologisch
aufzuarbeitende Materie: Was steckt dahinter? Warum macht man so
etwas? Wenn das so weitergeht, haben wir bald mehr Kontrolleure
als Kontrollierte im Gesundheitswesen!
(Beifall)
In den USA ist rechnerisch jedem Patientenbetreuer ein Verwalter
zugeordnet. In Deutschland betrug das Verhältnis bis vor kurzem
noch 10 : 1. Aber auch hier sind wir auf dem besten Weg in amerikanische
Verhältnisse.
Meine Damen und Herren, Bürokratisierung und Schematisierung
medizinischer Behandlungsabläufe stehen in diametralem Gegensatz
zu den grundlegenden Rechten der Patienten auf Autonomie und Selbstbestimmung.
Und wenn allenthalben von Patientenrechten geredet wird, dann gilt
es hier anzusetzen und einer umfassenden Programmatisierung der
Krankenbehandlung eine klare Absage zu erteilen.
Wir Ärzte sind keine Erfüllungsgehilfen, weder einer
Staats- noch einer Checklistenmedizin!
(Beifall)
Bei aller Liebe, die wir in der letzten Zeit gezeigt haben, um
zu dokumentieren, dass wir bereit sind, Gesetze auch dann zu erfüllen,
wenn sie nicht optimal sind - wir sind ja anständige Staatsbürger
-, eines tun wir nicht: Wir lassen uns nicht unter politischen Druck
setzen, nicht im Koordinierungsausschuss und schon gar nicht bei
der Erarbeitung von ärztlichen Leitlinien! Deshalb müssen
wir die Geduld aufbringen, für KHK und COPD-Asthma usw. etwas
Gutes zu produzieren und nicht irgendetwas.
(Beifall)
Professor Lasch hat es gesagt: Was Politisierung, Bürokratisierung,
Programmatisierung und Ökonomisierung mittlerweile aus unserem
Beruf gemacht haben, ist nicht mehr zu verantworten und ist schon
heute für viele Patienten in der Gesundheitsversorgung spürbar.
Das gilt sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor.
Hier ist es ja nun das erklärte politische Ziel, mehr Wettbewerb
zu schaffen, für mehr Transparenz zu sorgen und mit Verrechnungseinheiten
- das sind die Fallpauschalen nämlich - angeblich leistungsbezogen
zu vergüten, eben mit dem neuen DRG-System. Wieder eine importierte
Idee, wieder ein Mehr an Dokumentations- und Arbeitsaufwand und
wieder im Hauruckverfahren! Ich sage: Das kann nicht gut gehen und
das wird auch nicht gut gehen!
(Beifall)
Wir haben mehrfach und eindringlich davor gewarnt, die deutschen
DRGs im geplanten Terminschema flächendeckend einzuführen.
Besser wäre es gewesen, die DRGs zunächst in Modellversuchen
auf Simulationsbasis zu starten.
Denn den größten Umstrukturierungsprozess der Krankenhauslandschaft
- ich scheue mich auch vor dem Begriff "Revolution im Gesundheitswesen"
nicht - in einem medizinisch nicht vertretbaren Zeitplan durchzuführen
heißt, dass nicht die effizienten Krankenhäuser, sondern
diejenigen Einrichtungen belohnt werden, die am schnellsten in das
System übergehen.
Qualitätsverbesserungen werden auch nicht dadurch erreicht,
dass Patienten von einem Versorgungssektor zum nächsten geschickt
werden. Da sind wir uns einig. Aber einen solchen "Drehtüreffekt"
wird es geben, wenn es zu immer kürzeren Verweildauern im Krankenhaus
kommen muss und gerade entlassene Patienten möglicherweise
mit neuen Diagnosen wieder eingewiesen werden.
Ich mag den Ausdruck nicht, aber alle verstehen, was gemeint ist:
Die "blutige Entlassung" ist dann keine Horrorvision,
sondern systemimmanent. Die Menschen verhalten sich so, wie die
Gesetze es vorschreiben. Wir wissen es doch: Wir sind bei der dualen
Finanzierung mit dem Selbstkostendeckungsprinzip beschimpft worden,
dass diejenigen, die das anwenden müssen, sich so verhalten
haben, wie die Anwendung es erfordert: die Patienten möglichst
lange im Krankenhaus zu halten, denn jeder Pflegetag war im wirtschaftlichen
Sinne ein wichtiger Tag. Auch hier wird man im mentalen Bereich
ganz schnell umschalten und dafür sorgen, dass es mit dem neuen
Gesetz anders läuft, sodass man überleben kann.
Wieder liegt es an der einzelnen Ärztin und dem einzelnen
Arzt, den ungeheuren wirtschaftlichen Druck des Systems gegenüber
dem einzelnen Patienten abzufedern. Wieder wird ärztliches
Ethos politisch und ökonomisch missbraucht! Das muss man einfach
so sagen.
(Beifall)
Sie müssen sich bitte nicht wundern, sehr verehrte Frau Ministerin:
Wir haben keine Lust mehr, nur noch das Feigenblatt der Menschlichkeit
in einem Prozess gnadenloser Durchökonomisierung des Gesundheitswesens
zu sein!
(Beifall)
Gerade weil das neue System doch nach dem Willen seiner Erfinder
auf die Leistung abstellen soll, ist für mich nicht nachvollziehbar,
wieso die Belastungen des Krankenhauspersonals mit Bereitschaftsdiensten
und Überstunden auch künftig weitgehend ignoriert werden
sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass dieses Gesetz so gut wie nichts
zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern
beiträgt, halte ich für skandalös!
(Beifall)
Die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit muss endlich eingehalten
werden, ebenso das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, nach
dem Bereitschaftsdienst Arbeitszeit ist. Man kann das so sagen,
dass die innere Einstellung einen durchaus auch andere Zeiten richtig
scheinen lässt. Aber wir haben andere Zeiten als früher.
Wir haben heute eine ganz andere Haftungsrechtsprechung. Man muss
mit Recht Angst haben, wenn man etwas zu einem Zeitpunkt tut, zu
dem die körperliche und die geistige Verfassung für eine
solche Tat einfach nicht mehr da sind. Bei den Intensitäten,
die wir heute haben, ist das heute nicht mehr möglich und nicht
zu verantworten.
Das ist unser Problem. Deshalb brauchen wir mindestens 15 000 zusätzliche
Stellen, wie der Marburger Bund es ausgerechnet hat. Nach Berechnungen
der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind es sogar 27 000 zusätzliche
Stellen. Das muss sein, wir müssen die Ärztinnen und Ärzte,
die ins Ausland gegangen sind oder die sich dem patientennahen Arztberuf
nicht widmen wollen, zurückgewinnen.
(Beifall)
Das bedeutet nun einmal Personalmehrkosten von mindestens 1 Milliarde
bis 1,7 Milliarden Euro. Ihr Gesetz garantiert aber nur einen Bruchteil
davon. Sie haben gesagt, Frau Ministerin:
Das ist der Anfang. Aber der ist ja schon auf dem heißen
Stein verdunstet, bevor es losgeht.
(Beifall)
Wir betrachten es als eine Goodwill-Aktion, aber es ist halt ein
bisschen Symbolik. Das muss man einfach so sagen.
Wird diese Politik so fortgeführt, meine Damen und Herren,
ist der Personalkollaps in den Kliniken vorprogrammiert. Es hat
sich inzwischen herumgesprochen, dass die eben angesprochene Arbeitsverdichtung
unverantwortliche Ausmaße angenommen hat. Die Zahl der Patienten
steigt immer weiter, jene der behandelnden Ärzte hält
damit nicht Schritt.
Jetzt komme ich auf den Punkt, der uns besonders besorgt macht:
Junge Mediziner sind durch diese Entwicklung dermaßen von
der Arbeit am Krankenbett abgeschreckt worden, dass die Kliniken
schon jetzt manche Arztstelle nicht mehr besetzen können. Wenn
wir diesem Trend nicht entgegenwirken, wird sich die Versorgung
der Patienten in den Krankenhäusern dramatisch verschlechtern.
Noch haben wir kaum Wartelisten wie in England, aber wir steuern
geradewegs darauf zu.
Hinzu kommt, dass die rein betriebswirtschaftliche Ausrichtung
des DRG-Systems zu einer drastischen Reduktion ärztlicher Weiterbildung
am Krankenhaus führen wird. Das heißt, die Spezialisierungschancen
werden sinken.
(Beifall)
Denn aus Sicht des Verwaltungsdirektors ist ärztliche Weiterbildung
nur noch ein lästiger Kostenfaktor. Wir haben es gerade auf
dem Chirurgenkongress in Berlin wörtlich gesagt bekommen: Das
ist lästig. Eine Versorgung mit einem möglichst hohen
Facharztanteil erscheint aus Verwaltungssicht effizienter; denn
Weiterbildung bindet Zeit und Personalressourcen. Dabei werden die
fatalen Folgen für unser Gesundheitswesen insgesamt völlig
vernachlässigt. Denn woher soll der qualifizierte - und ja
möglichst noch berufserfahrene - Nachwuchs denn kommen?
Das, meine Damen und Herren, wäre dann tatsächlich ein
Gesundheitswesen und eine Gesundheitspolitik ohne Ärzte! Aber
das kann es ja nicht sein.
Wir können auch nicht - wie bei der Approbationsordnung -
jahrelang warten, bis die Folgen einer verfehlten Politik endlich
korrigiert werden. Zu lange ist die ärztliche Ausbildungsordnung
nicht modernisiert worden, zu lange ist die Novelle im Kompetenzwirrwarr
der Länder schließlich regelrecht verstaubt. Und die
gleichen Politiker, die die Modernisierung der Ausbildung blockiert
und sich nicht um die notwendigen Stellen zur Weiterbildung gekümmert
haben, haben allenthalben die deutsche Öffentlichkeit mit ihrer
abstrusen Idee zur Rezertifizierung in der Fortbildung beglückt!
Was soll das?
(Beifall)
Ausdrücklich möchte ich Ihnen, Frau Bundesgesundheitsministerin,
danken, dass wir gemeinsam in einer öffentlichkeitswirksamen
Veranstaltung vor elf Monaten die Notwendigkeit zur Modernisierung
der Approbationsordnung aufzeigen konnten. Danken möchte ich
Ihnen auch, dass Sie sich in den entscheidenden Kompromissverhandlungen
des Bundesrates so engagiert für das neue Medizinstudium eingesetzt
haben.
(Beifall)
Wir haben immer wieder mehr Praxisorientierung, mehr Freiheit zur
Unterrichtsgestaltung und eine Verminderung der Zahl der unsäglichen
Multiple-Choice-Fragen gefordert. Wir haben unentwegt auf die Notwendigkeit
einer besseren Verzahnung von theoretischem und klinischem Unterricht
sowie einer Stärkung der Allgemeinmedizin hingewiesen. Jetzt
endlich haben unsere Argumente überzeugt, jetzt endlich wird
die Modernisierung der ärztlichen Ausbildung Wirklichkeit.
Der nächste Meilenstein aber muss nun die Reform der Bundesärzteordnung
sein und dann muss endlich auch der Arzt im Praktikum abgeschafft
werden! Ich sehe überhaupt kein Problem darin, meine Damen
und Herren, den Arzt im Praktikum direkt nach der Bundestagswahl,
wenn es vorher nicht mehr geht, durch ein Sondergesetz von einem
Tag auf den anderen abzuschaffen! Wir brauchen ihn nicht.
(Beifall)
Wir haben ihn wegen Mängeln in der Ausbildung eingeführt,
um sicherzustellen, dass Ärztinnen und Ärzte nicht unmittelbar
nach dem Praktischen Jahr in die Praxis gehen, ungeschützt,
allein, und dort möglicherweise Medizin betreiben. Durch die
Einführung der Pflichtweiterbildung im Sozialrecht ist aber
gesichert, dass dieser Zeitraum noch hinzukommt. Insofern brauchen
wir den Arzt im Praktikum dafür nicht mehr.
Die einzige Position, wo es vielleicht noch schwierig ist, ist
dort, wo sich junge Ärztinnen und Ärzte möglicherweise
direkt im privaten Bereich niederlassen könnten. Da bestünde,
rechtlich gesehen, noch ein Problem, auch medizinisch gesehen ein
Problem. Aber das halte ich für eine Quantité négligeable.
Andere Argumente gibt es eigentlich nicht.
Wir sollten darüber intensiv diskutieren, denn das ist ein
Stein des Anstoßes. Der Arzt im Praktikum ist damals eingeführt
worden, um die Pflichtweiterbildung zu verhindern. Das ist nur eine
Zeit lang gelungen. Jetzt haben wir sie. Damit ist die Alternative,
die der Arzt im Praktikum darstellt, hinfällig. Ich war damals
dabei und glaube, dass ich es noch ganz gut in Erinnerung habe.
Das allein aber reicht bei weitem nicht aus, um den Arztberuf wieder
attraktiv zu machen. Eine ruinöse Kostengesetzgebung, unmenschliche
Arbeitsbedingungen und der diffamierende Umgang mit dem Arztberuf
haben die Motivation nicht nur unter Deutschlands Jungmedizinern
auf einen Tiefpunkt sinken lassen.
(Beifall)
Die Zahl der Medizinstudentinnen und Medizinstudenten nimmt stetig
ab: in sieben Jahren von 90 600 auf 80 200. In fünf Ärztekammerbezirken
ist die Zahl der stationär tätigen Ärztinnen und
Ärzte bereits zurückgegangen. Bis zum Jahre 2010 werden
vermutlich 22 000 Hausärzte, vor allem im Osten, ausscheiden.
Es gibt nichts zu beschönigen: Die Nachwuchsprobleme in der
deutschen Ärzteschaft sind gravierend. Verschärfend kommt
die ebenfalls brisante Entwicklung in der Altersstruktur unserer
Bevölkerung hinzu. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes
Alter, wenn oft auch nur um den Preis der Dauerbehandlungsbedürftigkeit.
Deshalb wird die Schere zwischen angeforderten notwendigen Leistungen
und den tatsächlich möglichen Leistungen immer weiter
auseinander gehen. Der Versorgungsnotstand ist somit programmiert.
Deshalb müssen wir endlich ein Umdenken hin zur Medizin schaffen
und die Rahmenbedingungen ärztlicher Berufsausübung so
gestalten, dass die jungen Menschen diesen Beruf wieder mit Freude
ergreifen und ihn nicht nur als Beruf, sondern als Berufung sehen
und verstehen.
(Beifall)
Angesichts eines absehbaren Ärztemangels erhält auch
das Thema "Ärztinnen: Zukunftsperspektive für die
Medizin" eine besondere Bedeutung. Der Anteil der Frauen in
der Medizin beträgt derzeit 40 Prozent. In diesem Zusammenhang
ist auch die Überlegung "Ärzte- und Ärztinnentag"
zu ventilieren, Frau Bühren.
Aber nach wie vor sind Ärztinnen in leitenden Positionen unterrepräsentiert.
Nur jede zehnte leitende Stelle im Krankenhaus ist von einer Ärztin
besetzt. Es ist offensichtlich, dass die Karrierechancen für
Ärztinnen, auch für diejenigen, die ganz bewusst auf Kinder
verzichtet haben, in der Medizin schlechter sind als für Männer.
In besonderer Weise sind natürlich die Frauen mit klassischer
Doppelbelastung von Beruf und Familie betroffen.
Gerade für solche Ärztinnen brauchen wir in größerem
Maße flexible Arbeitszeitmodelle in den Kliniken wie auch
eine flexiblere Handhabung des Jobsharing und anderer Teilzeitmodelle
in der Arztpraxis. Das würde den Berufseinstieg nach Familienpause
sowie den Erwerb von Zusatzqualifikationen erheblich fördern
helfen.
Wir können es uns auf Dauer nicht mehr leisten, auf die beruflichen
Fähigkeiten und Erfahrungen von fast einem Viertel der rund
150 000 Ärztinnen in Deutschland zu verzichten. Wir brauchen
diese Ärztinnen, meine Damen und Herren!
(Beifall)
Ich bin Frau Dr. Bühren außerordentlich dankbar, dass
sie uns für diese Probleme sensibilisierte und den entsprechenden
Tagesordnungspunkt für den Ärztetag so engagiert vorbereitet
hat.
(Beifall)
Ebenso möchte ich den Professoren Kolkmann und Encke für
die Vorbereitung des Tagesordnungspunktes II des Ärztetages
"Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin"
danken. Sicher gibt es auch in der Medizin, besonders im technischen
Bereich, standardisierbare Verfahren. Aber Standardisierung in der
Medizin generell, meine Damen und Herren, ist immer auch der Versuch
einer verbindlichen Normierung der Behandlung von Patienten. Standardisierung
ist immer auch der Versuch von Politik und Krankenkassen, die Steuerung
der Patient-Arzt-Beziehung zu übernehmen. Standardisierung
in der Medizin ist letztlich der groß angelegte Versuch, den
Arzt im Gesundheitswesen wenigstens teilweise zu substituieren.
Denn in ihrer Freiberuflichkeit sind Ärztinnen und Ärzte
die letzten Garanten für die Therapiefreiheit des Patienten
und damit das letzte Hindernis gegen eine verbindliche Standardisierung
medizinischer Behandlungsabläufe. Wir empfinden Disease-Management-Programme
und DRGs, so wie sie diskutiert werden, heute als Vorboten dieser
Entwicklung.
(Beifall)
Das Ärztliche in der Medizin, das also, was über das
Wissenschaftliche hinausgeht, was bedingt ist durch Erfahrungen,
Zuwendung und gegenseitiges Vertrauen, droht im Standardisierungswahn
mancher Programmideologen unterzugehen. Das dürfen wir doch
nicht zulassen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall)
Um es auch hier einmal ganz offen anzusprechen: Was diese Standardisierungsleute
an Stimmung gegen Deutschlands Ärztinnen und Ärzte gemacht
haben, nur um ihre Ideologien gewinnträchtig zu vermarkten,
geht nicht auf die berühmte Kuhhaut.
(Beifall)
Frau Ministerin, wenn Sie es ernst meinen mit Ihrer im "Deutschen
Ärzteblatt" erhobenen Forderung, heute wiederholt, unser
Gesundheitswesen nicht kaputtzureden, dann tragen Sie dazu bei,
dass diese Herren gestoppt werden. Es ist höchste Zeit!
(Beifall)
Ich meine das nicht nur in Richtung einer Umformung von Gesetzen,
sondern auch in Richtung der Erzeugung einer Stimmung und Gegenstimmung.
Es muss sich nicht aus allem ein Gesetz entwickeln, aber es entwickeln
sich Meinungen, Stimmungen und Schwingungen, die irgendwann zu Gesetzen
führen, wenn wir beide oder andere nicht mehr die Möglichkeit
haben, das zu verhindern. So weit darf es gar nicht erst kommen.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, Patienten suchen häufig zuerst einen
Hausarzt auf, bevor sie sich in spezialärztliche Behandlung
begeben. Die Politik will die Patienten in dieser Haltung bestärken
und plant einen Ausbau der hausärztlichen Versorgung. Die Befassung
mit dem Thema der hausärztlichen Versorgung auf diesem Ärztetag
dient im Kern der für das nächste Jahr vorgesehenen Novellierung
der (Muster-)Weiterbildungsordnung, besonders aber auch der innerärztlichen
Befriedung im Streit um die Kompetenzaufteilung für diese zentrale
ärztliche Aufgabe. Eine Arbeitsgruppe des Vorstands der Bundesärztekammer
hat sich dieses heiklen Themas angenommen. Besonders Herrn Kollegen
Koch aus Bayern möchte ich für seine Arbeit an der Entwicklung
des jetzt zur Diskussion gestellten Kompromissmodells danken.
(Beifall)
Danken möchte ich auch Herrn Kollegen Flenker für die
Fortführung der von Herrn Kollegen Ewert begonnenen Arbeit
an der Novellierung unserer Berufsordnung, mit der die Regelungen
zur beruflichen Kommunikation modernisiert werden sollen. Vielen
Dank.
(Beifall)
Sehr verehrte Frau Ministerin, Sie haben sich zum Ziel gesetzt
- Sie haben es eben wiederholt -, die Bedeutung der Prävention
in unserem Gesundheitswesen zu stärken. Hier finden Sie in
den Ärztekammern engagierte Bündnispartner. Gerade für
die Gesundheitserziehung und die Gesundheitsförderung von Kindern
setzen sich viele Ärztekammern bereits heute ganz entschieden
ein.
Der österreichische Staatssekretär für Gesundheit,
Professor Reinhart Waneck, hat erst kürzlich bei einem Europäischen
Forum darauf hingewiesen, dass Irritation, Frustration und Aggressivität
unter Kindern und Jugendlichen zunehmen. Die heutigen Kinder wachsen
vielfach mit psychischen Konflikten auf, sie lernen in zu großen
Klassen und sie leiden unter Abwesenheit oder Desinteresse der Eltern,
sie werden allein gelassen, es mangelt ihnen an Wegführung
und Unterstützung.
Zunehmend mehr Kinder haben mentale, körperliche oder gesundheitliche
Probleme: Schon bei Schulkindern der Unter- und Oberstufe lassen
sich beispielsweise vorzeitig Gefäßveränderungen
feststellen, die zu Verkalkungen, Herzinfarkt oder zu hohem Blutdruck
im Erwachsenenalter führen können.
Immer häufiger sind als Folge einer psychosozialen Überforderung
auch stressphysiologische Reaktionen bis hin zum Burn-out-Syndrom,
aber eben auch Aggressivität bis hin zu Feindlichkeit zu beobachten.
Das können wir als Ärztinnen und Ärzte allein nicht
mehr kompensieren, hier ist die Gesellschaft als Ganzes gefordert.
Ich sage dazu: Eine Gesellschaft, die sich so wenig um ihre Kinder
kümmert, ist krank, ist degeneriert und verliert ihren humanistischen
Anspruch!
(Beifall)
Medizin und Menschlichkeit gehören untrennbar zusammen. Das
gilt auch und gerade für eine Gesellschaft des langen Lebens,
die wir alle anstreben. Der medizinische Fortschritt bietet uns
mehr und mehr Möglichkeiten, diesen Traum zu verwirklichen.
Neugeborene haben in Deutschland schon jetzt eine durchschnittliche
Lebenserwartung von 81 Jahren, sofern sie weiblichen Geschlechts
sind; die Männer müssen sich einstweilen mit 74 Jahren
im Durchschnitt begnügen. Die durchschnittliche Lebenserwartung
nimmt pro Jahrzehnt um 1,5 Jahre zu. Im gleichen Maße wird
der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung
zunehmen. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass im Jahre
2030 ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre sein
wird.
Was bedeutet das für die Medizin? Schon in der jetzigen Altersstruktur
unserer Gesellschaft wenden Allgemeinmediziner, Internisten, Neurologen
und andere Spezialisten 40 bis 50 Prozent ihrer Arbeitszeit für
die medizinische Versorgung über 65-jähriger Patienten
auf. Aber das ist erst der Anfang.
Am Beispiel der Alzheimer-Erkrankung kann man erkennen, was mit
dem Begriff der Fortschrittsfalle gemeint ist. Von Alzheimer sind
schon jetzt etwa 7 Prozent aller Menschen bis zum Alter von 65 Jahren
betroffen, im Alter von über 80 Jahren sind es sogar über
20 Prozent. Allein in Deutschland leiden 800 000 Menschen an dieser
früher kaum bekannten Verfallserscheinung des Gehirns.
Die Zunahme der Zahl dieser Erkrankung ist letztlich auch eine
Folge des medizinischen Fortschritts, der glücklicherweise
verhindert, dass Menschen an anderen, früher nicht heilbaren
Krankheiten vorzeitig sterben.
Meine Damen und Herren, wir Ärztinnen und Ärzte arbeiten
täglich an dieser Gesellschaft des langen Lebens; denn es ist
unsere Pflicht, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern. Im krassen
Gegensatz zu diesen ethischen Prinzipien einer humanen Gesellschaft
aber stehen die Forderungen nach aktiver Sterbehilfe. Es ist entsetzlich,
dass nach Holland nun auch Belgien den Weg in die staatlich legitimierte
Euthanasie eingeschlagen hat!
(Beifall)
Belgien bezieht nun sogar dauerhaft psychisch Kranke in sein so
genanntes Sterbehilfegesetz ein.
Ich habe die große Befürchtung, dass wir uns in Europa
auf einer ethischen Abwärtsspirale befinden. Wenn wir uns dieser
Entwicklung nicht mit aller Kraft entgegenstemmen, werden wir wohl
eines Tages dazu kommen, dass schwerkranke Menschen eine Genehmigung
einholen müssen, um weiterleben zu dürfen. Das darf nicht
passieren!
(Beifall)
Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und auch auf einen würdigen
Tod - nicht aber das Recht, getötet zu werden. Ein einklagbares
Recht auf Euthanasie hört sich zwar nach der ultimativen Verwirklichung
des Rechts auf Selbstbestimmung an, doch ist von da aus der Weg
nicht mehr weit in eine Gesellschaft, die den Menschen den Tod nahe
legt, wenn sie mit dem Leben nicht mehr zurechtkommen. Sie kennen
den Satz von Jan Ross: Wer meint, dass getötet werden darf,
der getötet werden will, wird schnell zu dem Schluss kommen,
dass nur der nicht getötet werden darf, der nicht getötet
werden will. Ich glaube, klarer kann man es kaum ausdrücken.
Wir müssen noch mehr über die Möglichkeiten der
modernen Palliativmedizin informieren. Wir müssen klar machen,
dass wir schon heute in der Lage sind, Schmerzen und andere Symptome
auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und damit unnötiges
Leid zu verhindern.
Wir müssen mit allem Nachdruck über die tatsächlichen
Konsequenzen einer von Staats wegen erlaubten Tötung ausweglos
kranker und lebensmüder Menschen aufklären. Es darf kein
gesellschaftliches Klima entstehen, das Sterbehilfe, Euthanasie,
zum Mittel der Wahl macht.
Ärztinnen und Ärzte sind keine Euthanatiker, sie stehen
für das Leben - und dabei muss es bleiben! Die Patienten dürfen
nicht verwirrt werden: Ist mein Arzt Euthanatiker oder ist er es
nicht? Das geht nicht.
(Beifall)
Die Menschenwürde, auch die eines Embryos, hört nicht
an Deutschlands Grenzen auf. Während in anderen europäischen
Ländern Zigtausende Embryonen kryokonserviert werden, um sie
später wieder zu verwerfen, ist bei uns ein solches Massensterben
bisher verhindert worden. Wir wollen nicht, dass Embryonen zu Forschungszwecken
hergestellt werden. Wir wollen auch nicht, dass sie für Klonexperimente
missbraucht werden. So hat es der Bundestag beschlossen, so steht
es im Gesetz. Nun aber soll das alles wieder auf den Kopf gestellt
werden.
Sie werden fragen, wie das möglich ist. Durch das neue Forschungsrahmenprogramm
der Europäischen Union werden mit Milliardensummen Klonprojekte
gefördert, ohne dass irgendwelche Restriktionen bestehen. Das
ist ein ungeheurer Vorgang!
(Beifall)
Wir appellieren deshalb eindringlich an die Bundesregierung: Bauen
Sie eine Sperrminorität auf und stoppen Sie dieses Programm,
Frau Ministerin!
(Beifall)
Embryonen sind kein Bio-Rohstoff. Alle Euphorie über mögliche
Fortschritte in der Wissenschaft darf darüber nicht hinwegtäuschen.
Auch und gerade in einer Stimmungsdemokratie müssen wir an
den Grundfesten einer humanen Gesellschaft festhalten.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, zum sozialen Selbstverständnis unseres
Staates gehört es zweifellos, dass die Menschen am medizinischen
Fortschritt teilhaben können und nicht wegen eines unzureichenden
Einkommens früher sterben müssen. Darüber besteht
Einigkeit. Mit dem Prinzip der Solidarität ist diese Selbstverpflichtung
elementarer Bestandteil der gesetzlichen Krankenversicherung geworden.
Die öffentlich geführte Diskussion aber dreht sich nicht
um die Sicherung dieses Prinzips, sondern vor allem um finanzielle
Defizite und Beitragssatzsteigerungen in der Krankenversicherung.
Aus Sicht der Bevölkerung stellt sich das ganz anders dar,
wie repräsentative Umfragen immer wieder verdeutlichen. Die
größte Sorge der Menschen in diesem Lande gilt eben nicht
der Beitragssatzstabilität, sondern dem Zugang zu innovativen
Therapieformen. Mit anderen Worten: Die Menschen wollen uneingeschränkt
am medizinischen Fortschritt teilhaben - und sind deshalb auch bereit,
höhere Beiträge zu entrichten.
Es ist nun nicht originäre ärztliche Aufgabe, die Finanzierungsprobleme
der GKV zu lösen. Doch fühlen wir uns als Ärztinnen
und Ärzte verpflichtet, für die notwendigen materiellen
Voraussetzungen einer patientengerechten Versorgung einzutreten.
Denn die derzeit diskutierten gesundheitspolitischen Konzepte werden
der gesellschaftlich gewünschten medizinischen Entwicklung
nicht gerecht. Standardisierung zur Kontrolle und Steuerung der
Medizin sowie Wettbewerb zur Preisreduktion - das allein sind die
bisher bescheidenen Antworten unserer politischen Parteien auf die
Finanzierungskrise in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Nach unserer Auffassung wären zur Sicherstellung der notwendigen
Ressourcen für das Gesundheitswesen zunächst drei Sofortmaßnahmen
notwendig:
Erstens. Kein weiterer sozialpolitischer Missbrauch der Versichertengelder.
(Beifall)
Die GKV hätte kein milliardenschweres Defizit zu beklagen,
wenn sie nicht fortwährend als sozialpolitischer Verschiebebahnhof
missbraucht werden würde.
(Beifall)
In den letzten Jahren sind der GKV annähernd 25 Milliarden
Euro entzogen worden, um Löcher in der Renten- und Arbeitslosenversicherung
zu stopfen.
Zweitens. Endlich eine Steuerfinanzierung versicherungsfremder
Leistungen, die die gesetzliche Krankenversicherung um mindestens
2,3 Milliarden Euro entlasten würde.
(Beifall)
Drittens. Eine Neudefinition der Solidarität, das heißt,
jeder sollte entsprechend seinen finanziellen Möglichkeiten
einen Beitrag leisten - also Erweiterung der Einnahmenbasis über
das Arbeitseinkommen hinaus sowie eine faire Gestaltung der Mitversicherung.
(Beifall)
Ohne die beschriebenen Milliardenlasten hätten wir in diesem
Jahr kein Defizit, keine Beitragserhöhungen, keine Rationierung
und wohl auch keine ideologischen Frontalangriffe gegen die Ärzteschaft
zu beklagen gehabt.
(Beifall)
Aber bedingt durch die Mär von der Kostenexplosion gibt es
die politische Vorgabe der völligen Durchökonomisierung
des Gesundheitswesens. Dabei ist der Anteil der GKV?Ausgaben in
Relation zum Bruttoinlandsprodukt mit 6 Prozent im Jahre 1975 zu
6,6 Prozent im Jahre 2000 relativ konstant geblieben - trotz des
steten Anstiegs versicherungsfremder Leistungen.
Wenn nun gleichwohl der Beitragssatz gestiegen ist, dann vor allem
wegen der erodierenden Einnahmen der GKV. Aber trotz dieses gestiegenen
Beitragssatzes stellt selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
fest, dass sich dadurch keine nennenswert negativen Effekte auf
Wachstum und Beschäftigung nachweisen lassen. Schließlich
ist das Gesundheitswesen der mit Abstand größte Beschäftigungsmotor
in Deutschland. Allein die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte
bieten mehr Arbeitsplätze als jeder Industriezweig in Deutschland.
(Beifall)
Zusammen mit den Zahnärzten beschäftigen sie rund 1 Million
Menschen in ihren Praxen. Insgesamt arbeiten etwa 4,2 Millionen
Menschen direkt oder indirekt im Gesundheitswesen.
Die Diskussion über eine ausreichende Finanzierung unseres
Gesundheitswesens muss deswegen auch vor diesem Hintergrund geführt
werden.
(Beifall)
Das Gesundheitswesen in Deutschland, meine Damen und Herren, ist
höchst innovativ sowie leistungsstark und will menschlich bleiben!
Dazu ist aber ein Wechsel in der Gesundheitspolitik nötig.
Wir wollen ein Gesundheitswesen, das sozial ist, und nicht Konzepte,
die uns in eine Mehrklassenmedizin führen. Wir wollen Transparenz
und Demokratie, aber auch in den Strukturen der Krankenkassen!
Wir wollen ein freiheitlich geprägtes Gesundheitswesen, in
dem die Patienten-Arzt-Beziehung steuert und nicht die Bürokratie.
(Beifall)
Wir Ärztinnen und Ärzte wollen unser Bestes geben, das
hohe Vertrauen, welches die Menschen unserem Beruf entgegenbringen,
zu rechtfertigen: durch hohe Kompetenz, Verschwiegenheit, die Annahme
der Rolle des Patientenanwalts, die Beachtung des Grundsatzes "nil
nocere" und nicht zuletzt die Gewissheit für den Patienten,
dass materielle Aspekte für ärztliche Entscheidungen unbedeutend
sind.
Die christlich-abendländische Tradition verpflichtet uns Ärztinnen
und Ärzte zu Mildtätigkeit, Zuwendung und Barmherzigkeit,
gerade auch dann, wenn die Menschen in einer schwierigen Einkommenssituation
sind. Das darf uns nicht durch pure Ökonomisierung zerschlagen
werden. Sonst wird aus dem Traumberuf Arzt wirklich ein Albtraumberuf!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und erkläre
den 105. Deutschen Ärztetag für eröffnet.
(Lebhafter Beifall - Die Anwesenden erheben sich
und singen die Nationalhymne - Solistin: Ev Pilucha)
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