TOP I : Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

1. Tag: Dienstag, 28. Mai 2002 Nur Nachmittagssitzung

PD Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoppe, ich habe Sie eigentlich immer sehr geschätzt als kühlen Diskussionsredner und ironischen Mitdiskutanten. Von daher war ich heute ein bisschen enttäuscht über Ihren Vortrag. Genauso bin ich enttäuscht über den Antrag I-1, den der Vorstand hier vorgelegt hat.

Ich bin der Ansicht, dass wir mit purer Polemik uns wenig weiterhelfen. Es hat wenig Sinn, wenn wir über expertokratische Heilsverkünder reden, was bei der Presse natürlich gut ankommt. Aber wir isolieren uns damit.

(Widerspruch)

Was bringt es uns, wenn wir über einen bedingungslosen Klassenversorgungsstaat polemisieren oder über planwirtschaftliche Vorlagen lamentieren? Wir stellen uns damit doch nur ins Abseits.

Wenn wir etwas gegen die Experten haben, dann sollten wir sagen: Herr Lauterbach hat da und dort etwas Falsches gesagt. Wenn wir über Expertokraten herziehen, dann sollten wir sagen: Herr Glaeske oder Herr Scriba hat dieses und jenes gesagt. Es bringt aber nichts, wenn wir nur lamentieren und so tun, als sei das, was gestern war, das Schönste der Welt, aber all das, was Experten, Politiker oder Krankenkassen vorschlagen, sei das Böse und das Übel der Welt. So kommen wir nicht weiter, so isolieren wir uns immer weiter. So werden wir in Zukunft in der gesundheitspolitischen Debatte nicht mehr ernst genommen. Wir dürfen uns nicht wundern, dass ausgerechnet die Ärzteschaft in der öffentlichen gesundheitspolitischen Debatte immer weniger Rückhalt hat. Wir isolieren uns durch solche Arten von Stellungnahmen.

(Zurufe: Aufhören!)

Herr Hoppe, von daher bedauere ich Ihre Stellungnahme von heute Morgen.

(Erneute Zurufe)

- Hier darf jeder seine Meinung äußern.

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Das sollten wir auch zubilligen. Ich nehme das mal auf und überlege das noch einmal.

PD Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern:

Ein weiterer Punkt: Der Antrag der Bundesärztekammer macht es sich sehr einfach. Der erste Punkt der Forderungen lautet: Sicherstellung der notwendigen Ressourcen für das Gesundheitswesen durch Erweiterung der Einnahmenbasis, also durch Ausdehnung auf andere Einkommensarten. Das heißt einfach: mehr Geld ins System. Auch da machen wir es uns zu einfach. Ich möchte Sie auf den Antrag hinweisen, den wir eingebracht haben und der leider noch nicht umgedruckt vorliegt. Er trägt die Überschrift: Für den Erhalt des solidarisch finanzierten Gesundheitswesens - Den Kostendruck durch Qualität mindern. Ich glaube, dies ist die richtige Stoßrichtung. Wir müssen der Öffentlichkeit, den Politikern und den Expertokraten, wie Sie sie so schön beschimpfen, klar machen, dass wir eine bessere Qualität wollen, dass wir mit den vorhandenen Mitteln im Gesundheitswesen durchaus auskommen können.

Wir haben solche Forderungen erhoben. Ich gehe davon aus, dass nicht jeder diesem Antrag zustimmen wird. Trotzdem möchte ich Ihnen den Standpunkt, den wir, die Listen Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, haben, darlegen, damit nach außen hin nicht immer der Eindruck entsteht: Die Ärzteschaft ist ein monolithischer Block, der alles ablehnt, der gegen jeden ist, der das ewig Gestrige propagiert.

Der erste Punkt lautet, dass das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen notwendig ist. Darauf hat auch Herr Hoppe hingewiesen. Auch die Frau Ministerin hat darauf hingewiesen. Die Frage ist natürlich: Was ist solidarisch und was ist notwendig? Da gibt es sehr große Unterschiede.

Unser zweiter Punkt lautet, dass wir gegen jede Art einer Aufsplittung in Wahl- und Regelleistungen sind. Das heißt, es gibt nur eine notwendige, grundlegende Medizin; das ist diejenige, die über die Krankenkasse bezahlt wird. Alles andere ist Luxus- und Schnickschnackmedizin und sollte nicht von den Kassen bezahlt werden, sollte aber auch nicht über Wahl- und Regelleistungen oder IGEL-Leistungen abrechenbar sein.

Ein ganz wichtiger Punkt, der auch heute Morgen diskutiert worden ist, betrifft den Sicherstellungsauftrag.

(Unruhe)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Meine Damen und Herren, wir haben noch keine Redezeitbegrenzung beschlossen. Ich meine, wir sollten Herrn Dietrich die Chance geben, seine Meinung darzulegen. Er wird nicht ganz so lange brauchen, wie die Vormittags-veranstaltung gedauert hat. Bitte schön, Herr Dietrich.

PD Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern:

Ich schaue, dass ich schneller durchkomme. Aber wenn ich unterbrochen werde, dauert es natürlich länger. Das ist das Problem dabei.

Die Frage des Sicherstellungsauftrags ist eine ganz wesentliche. Herr Hoppe hat heute eindeutig gesagt: Es geht nicht an, dass die Krankenkassen oder andere Akteure im Gesundheitswesen am Sicherstellungsauftrag mitbeteiligt sind. Die Forderung, welche die Politiker stellen, die heute auch alle Fachleute stellen und die meiner Ansicht nach im Moment Konsens ist, weil dies im SGB V niedergelegt ist, lautet, dass die Krankenkassen am Sicherstellungsauftrag mitbeteiligt sind. Das ist vernünftig. Sie geben das Geld und sollten in die Verantwortung mit einbezogen werden. Es geht ja nicht an, dass die Krankenkassen, wie sie es jahrelang getan haben, nur noch als Geldgeber fungieren, indem sie den Geldsack rüberschieben und wir als Ärzte darüber entscheiden müssen, was mit dem Geld passiert.

(Zurufe)

Das heißt, die Forderung, den Sicherstellungsauftrag auch den Krankenkassen zu übertragen, ist etwas Sinnvolles.

(Widerspruch)

Wir als Ärzteschaft sollten ihn mit aufnehmen, denn das zeigt nur, dass wir bereit sind, auch neue Impulse in der Gesundheitspolitik aufzunehmen und in eine fortschrittliche Richtung des Gesundheitswesens zu diskutieren.

Natürlich ist die Konzentration von Mitteln im Gesundheitswesen ein wichtiger Punkt. Man sollte meiner Ansicht nach die Disease-Management-Programme etwas konstruktiver kritisieren. Natürlich wissen wir alle, dass die Umsetzung sehr schwierig ist und große Probleme bringt. Herr Hoppe hat darauf heute richtigerweise hingewiesen. Aber wir müssen das erst einmal akzeptieren; anschließend können wir im Detail kritisieren. Deshalb formulieren wir, dass es richtig ist, die Mittel im Gesundheitswesen zu konzentrieren.

Auch die Frage der Fortbildung der Ärzteschaft ist heute Morgen angesprochen worden. Herr Hoppe hat meiner Meinung nach auch da wieder überschießend polemisiert. Es geht nicht darum, eine Verschreibungs- oder Checklistenmedizin zu betreiben. Es geht aber nicht an, dass wir - wie der ADAC vor fast 20 Jahren mit dem Slogan "Freie Fahrt dem freien Bürger" - fordern: Freie Medizin dem freien Arzt. Es gibt in der Medizin eine wissenschaftliche Grundlage. Sie muss als Leitlinie für die Behandlung unserer Patienten gelten. Das müssen wir einfach anerkennen. Wir müssen die evidenzbasierte Medizin als Tatsache akzeptieren und dürfen nicht so tun, als sei unsere Medizin eine große Kunst, wir seien alle Künstler und könnten Bilder malen, wie wir wollen, wir könnten den Patienten A mit B behandeln oder den Patienten B mit A behandeln, das sei unsere persönliche Freiheit.

Das geht nicht mehr an. Das passt überhaupt nicht ins Bild dieser politischen und medizinischen Welt. Wir müssen anerkennen, dass wir heute eine fortbildungsgestützte Medizin brauchen, und natürlich muss sie überprüfbar sein. Da reicht es nicht, über die Rezertifizierung zu schimpfen; wir müssen über sie diskutieren. Warum sollten wir nicht rezertifizieren? Das ist ein Verfahren, das in den USA und in anderen Ländern schon lange üblich ist.

Es ist also nicht das Böse der Welt, wenn wir über Rezertifizierung diskutieren. Es zeigt nur, dass wir bereit sind, Neuerungen in der Fortbildung anzunehmen.

Ich finde, man muss auch über die Pharmaindustrie und ihre Produkte, vor allen Dingen die medizinisch-technischen Produkte, diskutieren. Wir sind etwas unkritisch, was den so genannten medizinisch-technischen Fortschritt angeht. Herr Hoppe hat heute Morgen leider auch gesagt: Der medizinisch-technische Fortschritt muss bezahlbar bleiben, also brauchen wir mehr Geld. Meiner Ansicht nach ist es unsere Aufgabe, auch zu hinterfragen, ob all das, was uns irgendwelche Experten als medizinisch-technischen Fortschritt darstellen, auch wirklich ein Fortschritt ist oder vielleicht ein Rückschritt, der letztlich dem Umsatz irgendwelcher Pharma- oder Gerätehersteller dient.

Wir brauchen bei uns eine Institution, die in der Lage ist, medizinisch-technische Geräte zu zertifizieren, auch medizinische Behandllungsverfahren zu zertifizieren. Es geht um das, was man als Health Technology Assessment bezeichnet. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, der sicherlich etliches an Geld einsparen würde.

Ein weiterer Punkt betrifft die Gesundheitsberichterstattung. Natürlich ist die Bürokratisierung ein sehr schwerwiegender Punkt. Ich kenne es aus der Klinik; ich weiß, dass viele Ärzte den halben Tag vor dem Computer sitzen und keine Zeit für den Patienten haben. Wir müssen aber auch die andere Seite sehen, nämlich dass die Datenbasis extrem schlecht ist, und zwar sowohl innerhalb der Kliniken als auch die gesamtgesellschaftliche Datenbasis. Wir wissen sehr, sehr wenig über das, was sich medizinisch bei uns tut. Wir müssen, um saubere epidemiologische Studien durchführen zu können, bessere Daten haben. Von daher in unserem Antrag die Forderung, die Gesundheitsberichterstattung zu verbessern.

Schließlich der letzte Punkt: Die totale Medikalisierung muss gestoppt werden. Wir als Ärzte dürfen nicht in den großen Wahn verfallen, dass wir für jedes Weh und Übel dieser Welt zuständig sind. Das gilt sowohl am Anfang als auch in der Mitte und zum Ende des Lebens. Es stellt sich die Frage, ob es wirklich notwendig ist, dass wir als Ärzte für die Sexualstörungen von 14-Jährigen eigene Sprechstunden einrichten müssen oder Ähnliches. Wir müssen die Grenzen dessen erkennen, was medizinisch machbar ist und wo gesellschaftspolitische Probleme beginnen, die von Schule, Ausbildung, Lehrern, Elternhaus usw. geklärt werden können. Wir können nicht alles regeln und richten.

Meine Damen und Herren, wenn man diese Punkte verfolgte, wären meiner Ansicht nach große Einsparpotenziale im Gesundheitswesen möglich. Es ist nicht notwendig, dass wir schon jetzt nach mehr Geld schreien. Wir sollten erst einmal selbst versuchen, medizinisch vernünftige Alternativen zu bieten. Wir sollten zeigen, dass wir für Veränderungen offen sind. Wir sollten uns nicht einigeln und nicht immer nur gegen diejenigen polemisieren, die heute versuchen, ein anderes Gesundheitswesen herbeizuführen. Wir sollten im Gespräch bleiben. Dazu ist es notwendig, dass wir auch einmal neue Ideen haben.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Vereinzelt Beifall - Widerspruch)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank. - § 13 der Geschäftsordnung der Deutschen Ärztetage lautet:

Die Redezeit kann auf Beschluss der Versammlung beschränkt werden. Grundsätzlich sollen die Redner, mit Ausnahme der Berichterstatter, nicht länger als 10 Minuten sprechen. Mit Zustimmung der Mehrheit kann hiervon abgewichen werden.

Herr Dietrich hat etwas länger als zehn Minuten gesprochen. Ich glaube, wir sind im Rahmen unserer Geschäftsordnung geblieben, zu der sich jetzt Herr Kollege Orth aus Rheinland-Pfalz gemeldet hat. Bitte schön, Herr Orth.

(Dr. Orth, Rheinland-Pfalz: Ich beantrage Redezeitbegrenzung auf
drei Minuten!)

- Herr Orth beantragt eine Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten. Möchte jemand gegen diesen Geschäftsordnungsantrag sprechen? - Formal. Ich frage: Wer möchte die Redezeitbeschränkung auf drei Minuten? - Wer ist dagegen? - Das Erste war die Mehrheit. Wer enthält sich? - Dann ist das beschlossen.

Dazu muss ich jetzt Folgendes sagen: Aus irgendwelchen Gründen funktioniert die grüne Anzeigelampe nicht. Wir beginnen mit Gelb. Es leuchtet zweieinhalb Minuten die gelbe Lampe. Danach leuchtet eine halbe Minute die rote Lampe. Danach werde ich Bescheid sagen, dass die rote Lampe nicht mehr nur die Warnung vor dem Ende der Redezeit bedeutet, sondern sozusagen die rote Karte. So müssen wir es leider machen. Wir versuchen, es zu reparieren. Es ist auf dem Weg von Köln nach hier offensichtlich eine Vulneration passiert.

Der erste Redner, den es trifft, ist Herr Kollege Thomas aus Westfalen-Lippe. Herr Thomas, bitte schön.

© 2002, Bundesärztekammer.