PD Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoppe, ich habe
Sie eigentlich immer sehr geschätzt als kühlen Diskussionsredner
und ironischen Mitdiskutanten. Von daher war ich heute ein bisschen
enttäuscht über Ihren Vortrag. Genauso bin ich enttäuscht
über den Antrag I-1, den der Vorstand hier vorgelegt hat.
Ich bin der Ansicht, dass wir mit purer Polemik uns wenig weiterhelfen.
Es hat wenig Sinn, wenn wir über expertokratische Heilsverkünder
reden, was bei der Presse natürlich gut ankommt. Aber wir isolieren
uns damit.
(Widerspruch)
Was bringt es uns, wenn wir über einen bedingungslosen Klassenversorgungsstaat
polemisieren oder über planwirtschaftliche Vorlagen lamentieren?
Wir stellen uns damit doch nur ins Abseits.
Wenn wir etwas gegen die Experten haben, dann sollten wir sagen:
Herr Lauterbach hat da und dort etwas Falsches gesagt. Wenn wir
über Expertokraten herziehen, dann sollten wir sagen: Herr
Glaeske oder Herr Scriba hat dieses und jenes gesagt. Es bringt
aber nichts, wenn wir nur lamentieren und so tun, als sei das, was
gestern war, das Schönste der Welt, aber all das, was Experten,
Politiker oder Krankenkassen vorschlagen, sei das Böse und
das Übel der Welt. So kommen wir nicht weiter, so isolieren
wir uns immer weiter. So werden wir in Zukunft in der gesundheitspolitischen
Debatte nicht mehr ernst genommen. Wir dürfen uns nicht wundern,
dass ausgerechnet die Ärzteschaft in der öffentlichen
gesundheitspolitischen Debatte immer weniger Rückhalt hat.
Wir isolieren uns durch solche Arten von Stellungnahmen.
(Zurufe: Aufhören!)
Herr Hoppe, von daher bedauere ich Ihre Stellungnahme von heute
Morgen.
(Erneute Zurufe)
- Hier darf jeder seine Meinung äußern.
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Das sollten wir auch zubilligen. Ich nehme das mal auf und überlege
das noch einmal.
PD Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern:
Ein weiterer Punkt: Der Antrag der Bundesärztekammer macht
es sich sehr einfach. Der erste Punkt der Forderungen lautet: Sicherstellung
der notwendigen Ressourcen für das Gesundheitswesen durch Erweiterung
der Einnahmenbasis, also durch Ausdehnung auf andere Einkommensarten.
Das heißt einfach: mehr Geld ins System. Auch da machen wir
es uns zu einfach. Ich möchte Sie auf den Antrag hinweisen,
den wir eingebracht haben und der leider noch nicht umgedruckt vorliegt.
Er trägt die Überschrift: Für den Erhalt des solidarisch
finanzierten Gesundheitswesens - Den Kostendruck durch Qualität
mindern. Ich glaube, dies ist die richtige Stoßrichtung. Wir
müssen der Öffentlichkeit, den Politikern und den Expertokraten,
wie Sie sie so schön beschimpfen, klar machen, dass wir eine
bessere Qualität wollen, dass wir mit den vorhandenen Mitteln
im Gesundheitswesen durchaus auskommen können.
Wir haben solche Forderungen erhoben. Ich gehe davon aus, dass
nicht jeder diesem Antrag zustimmen wird. Trotzdem möchte ich
Ihnen den Standpunkt, den wir, die Listen Demokratischer Ärztinnen
und Ärzte, haben, darlegen, damit nach außen hin nicht
immer der Eindruck entsteht: Die Ärzteschaft ist ein monolithischer
Block, der alles ablehnt, der gegen jeden ist, der das ewig Gestrige
propagiert.
Der erste Punkt lautet, dass das solidarisch finanzierte Gesundheitswesen
notwendig ist. Darauf hat auch Herr Hoppe hingewiesen. Auch die
Frau Ministerin hat darauf hingewiesen. Die Frage ist natürlich:
Was ist solidarisch und was ist notwendig? Da gibt es sehr große
Unterschiede.
Unser zweiter Punkt lautet, dass wir gegen jede Art einer Aufsplittung
in Wahl- und Regelleistungen sind. Das heißt, es gibt nur
eine notwendige, grundlegende Medizin; das ist diejenige, die über
die Krankenkasse bezahlt wird. Alles andere ist Luxus- und Schnickschnackmedizin
und sollte nicht von den Kassen bezahlt werden, sollte aber auch
nicht über Wahl- und Regelleistungen oder IGEL-Leistungen abrechenbar
sein.
Ein ganz wichtiger Punkt, der auch heute Morgen diskutiert worden
ist, betrifft den Sicherstellungsauftrag.
(Unruhe)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Meine Damen und Herren, wir haben noch keine Redezeitbegrenzung
beschlossen. Ich meine, wir sollten Herrn Dietrich die Chance geben,
seine Meinung darzulegen. Er wird nicht ganz so lange brauchen,
wie die Vormittags-veranstaltung gedauert hat. Bitte schön,
Herr Dietrich.
PD Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern:
Ich schaue, dass ich schneller durchkomme. Aber wenn ich unterbrochen
werde, dauert es natürlich länger. Das ist das Problem
dabei.
Die Frage des Sicherstellungsauftrags ist eine ganz wesentliche.
Herr Hoppe hat heute eindeutig gesagt: Es geht nicht an, dass die
Krankenkassen oder andere Akteure im Gesundheitswesen am Sicherstellungsauftrag
mitbeteiligt sind. Die Forderung, welche die Politiker stellen,
die heute auch alle Fachleute stellen und die meiner Ansicht nach
im Moment Konsens ist, weil dies im SGB V niedergelegt ist, lautet,
dass die Krankenkassen am Sicherstellungsauftrag mitbeteiligt sind.
Das ist vernünftig. Sie geben das Geld und sollten in die Verantwortung
mit einbezogen werden. Es geht ja nicht an, dass die Krankenkassen,
wie sie es jahrelang getan haben, nur noch als Geldgeber fungieren,
indem sie den Geldsack rüberschieben und wir als Ärzte
darüber entscheiden müssen, was mit dem Geld passiert.
(Zurufe)
Das heißt, die Forderung, den Sicherstellungsauftrag auch
den Krankenkassen zu übertragen, ist etwas Sinnvolles.
(Widerspruch)
Wir als Ärzteschaft sollten ihn mit aufnehmen, denn das zeigt
nur, dass wir bereit sind, auch neue Impulse in der Gesundheitspolitik
aufzunehmen und in eine fortschrittliche Richtung des Gesundheitswesens
zu diskutieren.
Natürlich ist die Konzentration von Mitteln im Gesundheitswesen
ein wichtiger Punkt. Man sollte meiner Ansicht nach die Disease-Management-Programme
etwas konstruktiver kritisieren. Natürlich wissen wir alle,
dass die Umsetzung sehr schwierig ist und große Probleme bringt.
Herr Hoppe hat darauf heute richtigerweise hingewiesen. Aber wir
müssen das erst einmal akzeptieren; anschließend können
wir im Detail kritisieren. Deshalb formulieren wir, dass es richtig
ist, die Mittel im Gesundheitswesen zu konzentrieren.
Auch die Frage der Fortbildung der Ärzteschaft ist heute Morgen
angesprochen worden. Herr Hoppe hat meiner Meinung nach auch da
wieder überschießend polemisiert. Es geht nicht darum,
eine Verschreibungs- oder Checklistenmedizin zu betreiben. Es geht
aber nicht an, dass wir - wie der ADAC vor fast 20 Jahren mit dem
Slogan "Freie Fahrt dem freien Bürger" - fordern:
Freie Medizin dem freien Arzt. Es gibt in der Medizin eine wissenschaftliche
Grundlage. Sie muss als Leitlinie für die Behandlung unserer
Patienten gelten. Das müssen wir einfach anerkennen. Wir müssen
die evidenzbasierte Medizin als Tatsache akzeptieren und dürfen
nicht so tun, als sei unsere Medizin eine große Kunst, wir
seien alle Künstler und könnten Bilder malen, wie wir
wollen, wir könnten den Patienten A mit B behandeln oder den
Patienten B mit A behandeln, das sei unsere persönliche Freiheit.
Das geht nicht mehr an. Das passt überhaupt nicht ins Bild
dieser politischen und medizinischen Welt. Wir müssen anerkennen,
dass wir heute eine fortbildungsgestützte Medizin brauchen,
und natürlich muss sie überprüfbar sein. Da reicht
es nicht, über die Rezertifizierung zu schimpfen; wir müssen
über sie diskutieren. Warum sollten wir nicht rezertifizieren?
Das ist ein Verfahren, das in den USA und in anderen Ländern
schon lange üblich ist.
Es ist also nicht das Böse der Welt, wenn wir über Rezertifizierung
diskutieren. Es zeigt nur, dass wir bereit sind, Neuerungen in der
Fortbildung anzunehmen.
Ich finde, man muss auch über die Pharmaindustrie und ihre
Produkte, vor allen Dingen die medizinisch-technischen Produkte,
diskutieren. Wir sind etwas unkritisch, was den so genannten medizinisch-technischen
Fortschritt angeht. Herr Hoppe hat heute Morgen leider auch gesagt:
Der medizinisch-technische Fortschritt muss bezahlbar bleiben, also
brauchen wir mehr Geld. Meiner Ansicht nach ist es unsere Aufgabe,
auch zu hinterfragen, ob all das, was uns irgendwelche Experten
als medizinisch-technischen Fortschritt darstellen, auch wirklich
ein Fortschritt ist oder vielleicht ein Rückschritt, der letztlich
dem Umsatz irgendwelcher Pharma- oder Gerätehersteller dient.
Wir brauchen bei uns eine Institution, die in der Lage ist, medizinisch-technische
Geräte zu zertifizieren, auch medizinische Behandllungsverfahren
zu zertifizieren. Es geht um das, was man als Health Technology
Assessment bezeichnet. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, der
sicherlich etliches an Geld einsparen würde.
Ein weiterer Punkt betrifft die Gesundheitsberichterstattung. Natürlich
ist die Bürokratisierung ein sehr schwerwiegender Punkt. Ich
kenne es aus der Klinik; ich weiß, dass viele Ärzte den
halben Tag vor dem Computer sitzen und keine Zeit für den Patienten
haben. Wir müssen aber auch die andere Seite sehen, nämlich
dass die Datenbasis extrem schlecht ist, und zwar sowohl innerhalb
der Kliniken als auch die gesamtgesellschaftliche Datenbasis. Wir
wissen sehr, sehr wenig über das, was sich medizinisch bei
uns tut. Wir müssen, um saubere epidemiologische Studien durchführen
zu können, bessere Daten haben. Von daher in unserem Antrag
die Forderung, die Gesundheitsberichterstattung zu verbessern.
Schließlich der letzte Punkt: Die totale Medikalisierung
muss gestoppt werden. Wir als Ärzte dürfen nicht in den
großen Wahn verfallen, dass wir für jedes Weh und Übel
dieser Welt zuständig sind. Das gilt sowohl am Anfang als auch
in der Mitte und zum Ende des Lebens. Es stellt sich die Frage,
ob es wirklich notwendig ist, dass wir als Ärzte für die
Sexualstörungen von 14-Jährigen eigene Sprechstunden einrichten
müssen oder Ähnliches. Wir müssen die Grenzen dessen
erkennen, was medizinisch machbar ist und wo gesellschaftspolitische
Probleme beginnen, die von Schule, Ausbildung, Lehrern, Elternhaus
usw. geklärt werden können. Wir können nicht alles
regeln und richten.
Meine Damen und Herren, wenn man diese Punkte verfolgte, wären
meiner Ansicht nach große Einsparpotenziale im Gesundheitswesen
möglich. Es ist nicht notwendig, dass wir schon jetzt nach
mehr Geld schreien. Wir sollten erst einmal selbst versuchen, medizinisch
vernünftige Alternativen zu bieten. Wir sollten zeigen, dass
wir für Veränderungen offen sind. Wir sollten uns nicht
einigeln und nicht immer nur gegen diejenigen polemisieren, die
heute versuchen, ein anderes Gesundheitswesen herbeizuführen.
Wir sollten im Gespräch bleiben. Dazu ist es notwendig, dass
wir auch einmal neue Ideen haben.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Vereinzelt Beifall - Widerspruch)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank. - § 13 der Geschäftsordnung der Deutschen
Ärztetage lautet:
Die Redezeit kann auf Beschluss der Versammlung
beschränkt werden. Grundsätzlich sollen die Redner, mit
Ausnahme der Berichterstatter, nicht länger als 10 Minuten
sprechen. Mit Zustimmung der Mehrheit kann hiervon abgewichen werden.
Herr Dietrich hat etwas länger als zehn Minuten gesprochen.
Ich glaube, wir sind im Rahmen unserer Geschäftsordnung geblieben,
zu der sich jetzt Herr Kollege Orth aus Rheinland-Pfalz gemeldet
hat. Bitte schön, Herr Orth.
(Dr. Orth, Rheinland-Pfalz: Ich beantrage Redezeitbegrenzung
auf
drei Minuten!)
- Herr Orth beantragt eine Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten.
Möchte jemand gegen diesen Geschäftsordnungsantrag sprechen?
- Formal. Ich frage: Wer möchte die Redezeitbeschränkung
auf drei Minuten? - Wer ist dagegen? - Das Erste war die Mehrheit.
Wer enthält sich? - Dann ist das beschlossen.
Dazu muss ich jetzt Folgendes sagen: Aus irgendwelchen Gründen
funktioniert die grüne Anzeigelampe nicht. Wir beginnen mit
Gelb. Es leuchtet zweieinhalb Minuten die gelbe Lampe. Danach leuchtet
eine halbe Minute die rote Lampe. Danach werde ich Bescheid sagen,
dass die rote Lampe nicht mehr nur die Warnung vor dem Ende der
Redezeit bedeutet, sondern sozusagen die rote Karte. So müssen
wir es leider machen. Wir versuchen, es zu reparieren. Es ist auf
dem Weg von Köln nach hier offensichtlich eine Vulneration
passiert.
Der erste Redner, den es trifft, ist Herr Kollege Thomas aus Westfalen-Lippe.
Herr Thomas, bitte schön.
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