TOP I : Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

1. Tag: Dienstag, 28. Mai 2002 Nur Nachmittagssitzung

Ruebsam-Simon, Baden-Württemberg:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Morgen von Frau Bundesministerin Schmidt einen neuen Appell zu einem Appeasement gehört: Allen wohl und niemand wehe. Ich glaube, dass, wie in den Dreißigerjahren, diese Appeasement-Politik an ihrer inneren Substanzlosigkeit und an ihrem Mangel an grundlegenden gesundheitspolitischen Ideen scheitern wird.

Die politische Landschaft hat sich für uns Ärzte entscheidend verschlechtert. Reichte es früher vielleicht aus, Lobbyismus zu betreiben und die liberalen oder konservativen Parteien für sich zu instrumentalisieren, so können wir uns heute nicht mehr auf wirkliche Verbündete stützen. Alle politischen Parteien, die Liberalen vielleicht ausgenommen, haben in ihren Wahlprogrammen wachsweiche Absichtserklärungen niedergelegt, obwohl alle ganz genau wissen, dass eine entscheidende Reform des GKV-Systems ansteht. Insofern müssen wir uns auf uns selbst besinnen. Ich denke, es ist Zeit, dass wir mit einem zukunftsweisenden und grundlegenden Reformkonzept an die Spitze der Veränderungsstrategien treten. Wir müssen unsere eigenen Ideen entwickeln, die grundsätzlich über die übliche Legislaturperiode hinausgehen.

Dabei dürfen wir uns auch nicht vor unangenehmen Wahrheiten drücken. Die Bevölkerung wird langfristig gesehen verlangen, dass wir die Wahrheit sagen. Das Problem, das ich sehe, besteht darin, dass wir uns selbst als Gegner haben. Wir haben nicht nur die Politik und die Kassen, sondern auch uns selbst gegen uns. Wir müssen uns einigen. In diesem Zusammenhang sind die Gladiatorenkämpfe, die wir uns um jeden Sonderaspekt leisten, nur im Sinne unserer Gegner.

Fritz Beske hat vor kurzem ein Buch vorgelegt, in dem vierzig Konzepte der Gesundheitsreform verglichen und bewertet werden. Durchgerechnet war nur ein einziges, nämlich jenes der Vereinten Krankenversicherung, das sicherlich einiges an Sprengstoff für die Gesundheitsreform enthält. Ich persönlich denke, dass wir längerfristig über ein solches Modell mit weitergehenden Privatisierungsschritten und Kapitaldeckung nachdenken müssen und dass wir auch den Begriff der Solidarität, der ständig in den Mund genommen wird, neu definieren müssen.

Professor Raffelhüschen vom Institut für Finanzwissenschaft in Freiburg hat vor kurzem mit der Methode der Generationenbilanzierung - das ist ein Budgetierungssystem, mit dessen Hilfe alle zukünftigen Zahlungen eines Individuums an den Staat mit allen zukünftigen Leistungen, die es vom Staat erhält, saldiert werden - eine große Nachhaltigkeitslücke bei GKV und Pflegeversicherung berechnet. Nachhaltig wäre ein System dann, wenn es zu keiner Lastenverschiebung zulasten der nächsten Generation kommt. Raffelhüschen hat zwei Modellrechnungen aufgemacht: einmal eine Zunahme der Ausgabeneffekte um jährlich 1,5 Prozent, was in etwa dem rein demographischen Aspekt entspricht, und zum anderen eine Zunahme von 2,5 Prozent, womit der medizinische Fortschritt eingeschlossen sein soll.
Nach Raffelhüschen ergab sich, dass die GKV ein Bereicherungsabkommen zulasten zukünftiger Generationen ist und dass das Ausmaß der Nachhaltigkeitslücke selbst von pessimistischen Zeitgenossen unterschätzt wird.

Ich komme zum Schluss. Ich denke, vor der Gesundheitsreform kommt die Reform des politischen Denkens. Wir brauchen ein Programm. Ich schlage vor, dass jede Ärztekammer zwei Delegierte abstellt, die unkonventionell und über ihr eigenes Klientel hinwegdenkend ein solches Programm entwickeln. Eine solche Arbeitsgemeinschaft sollte gebildet werden, die ein derartiges Programm dem nächsten Ärztetag zur Abstimmung vorlegt. Zwischenzeitlich sollte es in den einzelnen Landesärztekammern vordiskutiert werden.

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Schönen Dank. Ein bisschen geht das ja in die Richtung, die wir mit dem Antrag I-2 verfolgen, Herr Ruebsam-Simon. Dieser Antrag enthält Vorüberlegungen zu einem solchen Verfahren einer gesundheitspolitischen Analyse und Vorschläge, wie man eventuell mit einer GKV-Reform umgehen kann. Das ist kein Beschluss, den wir von Ihnen erbitten, sondern sozusagen die Bitte um einen Auftrag, in diese Richtung weiterzudenken, vielleicht mit einem kleinen Hinweis versehen, in welche Richtung es wohl weitergehen könnte.

Sie sollten sich diesen Antrag bitte einmal genau ansehen. Er kann auf keinen Fall bereits heute abschließend beschieden werden, sondern wir wollen uns diesem Thema vorsichtig nähern. Vielleicht können wir bis zum nächsten Ärztetag eine vorbereitende Arbeit leisten. Ob dafür von den einzelnen Landesärztekammern Personen abgestellt werden müssen oder ob wir die vorhandenen Gremien nutzen, ist eine andere Frage.

Der nächste Redner ist Herr Professor Lob aus Bayern. Herr Lob, bitte.

© 2002, Bundesärztekammer.