Ruebsam-Simon, Baden-Württemberg:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben heute Morgen von Frau Bundesministerin Schmidt
einen neuen Appell zu einem Appeasement gehört: Allen wohl
und niemand wehe. Ich glaube, dass, wie in den Dreißigerjahren,
diese Appeasement-Politik an ihrer inneren Substanzlosigkeit und
an ihrem Mangel an grundlegenden gesundheitspolitischen Ideen scheitern
wird.
Die politische Landschaft hat sich für uns Ärzte entscheidend
verschlechtert. Reichte es früher vielleicht aus, Lobbyismus
zu betreiben und die liberalen oder konservativen Parteien für
sich zu instrumentalisieren, so können wir uns heute nicht
mehr auf wirkliche Verbündete stützen. Alle politischen
Parteien, die Liberalen vielleicht ausgenommen, haben in ihren Wahlprogrammen
wachsweiche Absichtserklärungen niedergelegt, obwohl alle ganz
genau wissen, dass eine entscheidende Reform des GKV-Systems ansteht.
Insofern müssen wir uns auf uns selbst besinnen. Ich denke,
es ist Zeit, dass wir mit einem zukunftsweisenden und grundlegenden
Reformkonzept an die Spitze der Veränderungsstrategien treten.
Wir müssen unsere eigenen Ideen entwickeln, die grundsätzlich
über die übliche Legislaturperiode hinausgehen.
Dabei dürfen wir uns auch nicht vor unangenehmen Wahrheiten
drücken. Die Bevölkerung wird langfristig gesehen verlangen,
dass wir die Wahrheit sagen. Das Problem, das ich sehe, besteht
darin, dass wir uns selbst als Gegner haben. Wir haben nicht nur
die Politik und die Kassen, sondern auch uns selbst gegen uns. Wir
müssen uns einigen. In diesem Zusammenhang sind die Gladiatorenkämpfe,
die wir uns um jeden Sonderaspekt leisten, nur im Sinne unserer
Gegner.
Fritz Beske hat vor kurzem ein Buch vorgelegt, in dem vierzig Konzepte
der Gesundheitsreform verglichen und bewertet werden. Durchgerechnet
war nur ein einziges, nämlich jenes der Vereinten Krankenversicherung,
das sicherlich einiges an Sprengstoff für die Gesundheitsreform
enthält. Ich persönlich denke, dass wir längerfristig
über ein solches Modell mit weitergehenden Privatisierungsschritten
und Kapitaldeckung nachdenken müssen und dass wir auch den
Begriff der Solidarität, der ständig in den Mund genommen
wird, neu definieren müssen.
Professor Raffelhüschen vom Institut für Finanzwissenschaft
in Freiburg hat vor kurzem mit der Methode der Generationenbilanzierung
- das ist ein Budgetierungssystem, mit dessen Hilfe alle zukünftigen
Zahlungen eines Individuums an den Staat mit allen zukünftigen
Leistungen, die es vom Staat erhält, saldiert werden - eine
große Nachhaltigkeitslücke bei GKV und Pflegeversicherung
berechnet. Nachhaltig wäre ein System dann, wenn es zu keiner
Lastenverschiebung zulasten der nächsten Generation kommt.
Raffelhüschen hat zwei Modellrechnungen aufgemacht: einmal
eine Zunahme der Ausgabeneffekte um jährlich 1,5 Prozent, was
in etwa dem rein demographischen Aspekt entspricht, und zum anderen
eine Zunahme von 2,5 Prozent, womit der medizinische Fortschritt
eingeschlossen sein soll.
Nach Raffelhüschen ergab sich, dass die GKV ein Bereicherungsabkommen
zulasten zukünftiger Generationen ist und dass das Ausmaß
der Nachhaltigkeitslücke selbst von pessimistischen Zeitgenossen
unterschätzt wird.
Ich komme zum Schluss. Ich denke, vor der Gesundheitsreform kommt
die Reform des politischen Denkens. Wir brauchen ein Programm. Ich
schlage vor, dass jede Ärztekammer zwei Delegierte abstellt,
die unkonventionell und über ihr eigenes Klientel hinwegdenkend
ein solches Programm entwickeln. Eine solche Arbeitsgemeinschaft
sollte gebildet werden, die ein derartiges Programm dem nächsten
Ärztetag zur Abstimmung vorlegt. Zwischenzeitlich sollte es
in den einzelnen Landesärztekammern vordiskutiert werden.
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Schönen Dank. Ein bisschen geht das ja in die Richtung, die
wir mit dem Antrag I-2 verfolgen, Herr Ruebsam-Simon. Dieser Antrag
enthält Vorüberlegungen zu einem solchen Verfahren einer
gesundheitspolitischen Analyse und Vorschläge, wie man eventuell
mit einer GKV-Reform umgehen kann. Das ist kein Beschluss, den wir
von Ihnen erbitten, sondern sozusagen die Bitte um einen Auftrag,
in diese Richtung weiterzudenken, vielleicht mit einem kleinen Hinweis
versehen, in welche Richtung es wohl weitergehen könnte.
Sie sollten sich diesen Antrag bitte einmal genau ansehen. Er kann
auf keinen Fall bereits heute abschließend beschieden werden,
sondern wir wollen uns diesem Thema vorsichtig nähern. Vielleicht
können wir bis zum nächsten Ärztetag eine vorbereitende
Arbeit leisten. Ob dafür von den einzelnen Landesärztekammern
Personen abgestellt werden müssen oder ob wir die vorhandenen
Gremien nutzen, ist eine andere Frage.
Der nächste Redner ist Herr Professor Lob aus Bayern. Herr
Lob, bitte.
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