Prof. Dr. Kolkmann, Referent:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Regie des Deutschen Ärztetages
hätte gut daran getan, neben den Eingangstüren zu diesem
hervorragenden Tagungsort Kübel mit Asche aufzustellen und
sackleinene Gewänder auszugeben. Denn es ist an der Zeit, dass
der Deutsche Ärztetag, die repräsentative Versammlung
der deutschen Ärzteschaft, endlich deutliche Zeichen setzt,
die Häupter mit Asche bestreut und in Sack und Asche geht.
Es müssen öffentlich Zeichen der Reue und Buße gesetzt
werden, der Einsicht und der demütigen Bitte um Entschuldigung
wie der Umkehr. Denn wir haben uns mit permanenter krimineller Energie
der Über-, Unter- und Fehlversorgung schuldig gemacht. Wir
haben uns zu verwerflichen Anbieterkartellen zusammengerottet, uns
einen Sicherstellungsauftrag erschlichen und diesen schamlos für
eigene Interessen ausgebeutet.
Wir haben in uneinsichtiger Weise alle gesundheitsökonomisch,
epidemiologisch, soziologisch evidenzbasierte Kritik ignoriert.
Wir haben Qualität an Menschen ausgerichtet und gemessen und
nicht an Studien. Wir haben Rationalisierungsreserven unterschlagen,
großzügigst bemessene Budgets veruntreut, widersetzen
uns dringend notwendigen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen.
Das alles hat dazu geführt, meine Damen und Herren, dass unser
Gesundheitssystem, obwohl im Prinzip vorbildlich und obwohl wohlmeinende
Krankenkassen Hunderte Milliarden Euro uneigennützig zur Verfügung
stellen, im internationalen Ranking auf den letzten Plätzen
rangiert. Bei uns werden Hunderttausende von unnötigen Operationen,
insbesondere an weiblichen Brüsten und diabetischen Füßen
durchgeführt, sterben Abertausende Patientinnen und Patienten
einen vorzeitigen Tod an Mamma- und Dickdarmkarzinomen, Schlaganfall
und Herzinfarkt. Ganz zu schweigen von den chronisch Kranken, denen,
obgleich sie die Krankenkassen Unsummen kosten, nur eine rudimentäre
Versorgung zuteil wird.
All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, so das evidenzbasierte
Urteil unbestechlicher und unabhängiger Sachverständiger,
ist der rückständigen, reformresistenten deutschen Ärzteschaft
anzukreiden, die, da sie freiwillig keinen Reformwillen erkennen
lässt, der politischen Umerziehung und scharfen Überwachung
durch Sachverständige und Krankenkassen bedarf. Es stellt sich
die dringliche Frage: Sind die sachverständigen Umerzieher,
mit denen wir es zu tun haben, die Retter in der Not, die Heilsbringer
für unser Gesundheitssystem, für die Patientinnen und
Patienten, für Ärztinnen und Ärzte? Oder handelt
es sich um falsche Propheten, die, wie es im Alten Testament heißt,
nichtige Visionen gehabt und falsche Orakel verkündet haben,
die das Volk in die Irre führen, Heil verkünden, wo es
kein Heil gibt, und die sich auf einem schlüpfrigen Pfad befinden?
Es hat eigentlich ganz harmlos angefangen. Der Sachverständigenrat
für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat im Jahre
1994 in seinem damaligen Sachstandsbericht die "Notwendigkeit
von Standards und Leitlinien" erörtert und die Arbeitsgemeinschaft
der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften aufgefordert,
Leitlinien zu entwickeln. Es war davon die Rede, dass Leitlinien
und Standards Instrumente sind zur Vermeidung des Unnötigen
bzw. Überflüssigen und zur Gewährleistung dessen,
was in Diagnostik und Therapie notwendig ist.
Offensichtlich ging es dem Sachverständigenrat darum, mithilfe
von Standards und Leitlinien Rationalisierungsreserven zu aktivieren.
Man darf also im Wesentlichen ökonomische Beweggründe
hinter der Forderung nach Leitlinienentwicklung durch die AWMF vermuten.
Schließlich gehörten dem Sachverständigenrat damals
namhafte Ökonomen an.
Der Sachverständigenrat hat sich drei Jahre später in
einem Sondergutachten erneut mit dem Thema Leitlinien beschäftigt
und jetzt allerdings gewarnt, dass eine ernsthafte Störung
des Arzt-Patienten-Verhältnisses zu befürchten sei, wenn
die klinische und ärztliche Entscheidungsfreiheit durch ökonomische
Erwägungen eingeschränkt wird. Dem kann man nur zustimmen.
Leider war diese Warnung offensichtlich in den Wind gesprochen.
Im März 1995 hat in Mainz eine Tagung zum Thema "Standards
von Gesundheitsleistungen im Spannungsfeld von Rationalisierung
und Rationierung" stattgefunden. Im Tagungsband, der zwei Jahre
später im Deutschen Ärzte-Verlag herausgegeben wurde,
kann man auf Seite 71 ff. unter anderem nachlesen, mit welcher aus
heutiger Sicht unglaublichen Naivität - wenn nicht Leichtfertigkeit
- seinerzeit auch von ärztlichen Sachverständigen das
Thema Leitlinien auf den Weg gebracht wurde. Der Referent, auch
heute noch Mitglied des Sachverständigenrats, damals Ärztlicher
Direktor einer großen Münchener Klinik für Innere
Medizin, berichtet, er habe aus ministeriellem Munde vernommen,
dass die Erfahrung zeige, dass es in der Medizin immer noch eine
ganze Menge Verschwendung gebe. Andererseits wisse er, dass in der
Medizin immer noch eine ganze Menge an sich notwendiger Dinge nicht
passiere. Aus diesen beiden Polen - heute würden wir sagen:
Über- und Unterversorgung - ließen sich für bestimmte
Situationen Leitlinien ableiten, nach denen man sich richten könne.
Die Notwendigkeit von Leitlinien wird also begründet mit Hörensagen
aus ministeriellem Munde und eigenem Wissen, das heißt Erfahrungen,
die wahrscheinlich, wie das in solchen Fällen häufig ist,
aus dem eigenen klinischen Umfeld stammen. Zur Frage, was man unter
Standards, Richtlinien, Empfehlungen oder was auch immer verstehen
solle, bemerkt der Referent frisch, fromm, fröhlich und frei,
dass er die Frage, was wirklich ein Standard, was eine Leit- oder
Richtlinie ist oder was eine bloße Empfehlung, gerne noch
dem Entwicklungsprozess überantworten möchte. Mit anderen
Worten: Er weiß es nicht, er hat sich damit noch gar nicht
befasst.
Schließlich zum Stellenwert von Standards noch die Bemerkung,
dass der Stellenwert des Standards besser als die gegenwärtige
Situation sei, in der man, wenn man etwas falsch gemacht habe, allenfalls
sagen könne: In meinem Lehrbuch, das 20 Jahre alt ist, stand
das aber so drin. Hier sind Standards offenbar Antidot gegen Behandlungsfehler.
Ein Standard, so wird noch ausgeführt, werde alle vier bis
fünf Jahre neu herausgegeben und dahinter sei der gesamte Sachverstand
und nicht nur - wie im Lehrbuch - ein Kapitelautor.
Soweit die Ansichten eines ärztlichen Sachverständigen
und Miturhebers der Leitliniendebatte in der deutschen Medizin.
Die Lehrbuchautoren werden es ihm danken. Wir alle müssen ihm
dankbar sein, denn der geballte Sachverstand der Standards wird
uns endlich aus der unhaltbaren Notlage befreien, unsere Patientinnen
und Patienten nach 20 Jahre alten Lehrbüchern behandeln zu
müssen.
Der Sachverständigenrat hatte mit seiner Initiative eine Leitlinieneuphorie
und ?proliferation ausgelöst. Bundesärztekammer und AWMF
haben sich in der Folgezeit bis zum heutigen Tage überwiegend
gemeinsam bemüht, Ordnung in die Vielfalt des Erscheinungsbildes
von Leitlinien und der Begriffe zu bringen. Ich nenne stichwortartig:
- Erarbeitung von Qualitätskritierien bzw. von Beurteilungskriterien
für Leitlinen;
- Einrichtung eines Clearingverfahrens für Leitlinien, an dem
sich, vertraglich abgesichert, erfreulicherweise die Spitzenverbände
der gesetzlichen Krankenversicherung, die Deutsche Krankenhausgesellschaft
und neuerdings auch die private Krankenversicherung und die Rentenversicherungsträger
beteiligen;
- begriffliche Klärung von Standards, Richtlinien, Leitlinien,
Empfehlungen und ihre Bedeutung für die ärztliche Versorgung;
- sozialrechtliche und haftungsrechtliche Implikationen.
Meine Damen und Herren, Leitlinien müssen natürlich evidenzbasiert
sein, sonst sind es keine richtigen Leitlinien. Evidence based medicine
lautet die neue Heilslehre, der wir uns zu unterwerfen haben und
die alle tatsächlichen und vermeintlichen Probleme lösen
soll. Zur Erinnerung: Der Begriff stammt bekanntlich von David Sackett,
den man als Vater der evidenzbasierten Medizin bezeichnen kann.
Er versteht darunter die Integration der individuellen klinischen
Erfahrung mit der jeweils besten externen Evidenz aus wissenschaftlichen
Studien zur Lösung eines individuellen Problems. Für Sackett
ist die evidence based medicine - ich zitiere etwas frei übersetzt,
mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident -
die bewusste, ausdrückliche und verständige
Nutzung der jeweils besten Evidenz bei Entscheidungen über
die Versorgung individueller Patienten. Ihre Praxis beinhaltet
die Integration individueller klinischer Kenntnisse mit der jeweils
besten externen Evidenz aus systematischer Forschung.
Mit "systematischer Forschung" ist klinisch relevante
Forschung durchaus auch aus dem Bereich der Grundlagenforschung,
bevorzugt aber aus patientenbezogener klinischer Forschung, gemeint.
Es sollen also statt 20 Jahre alten Lehrbuchwissens möglichst
aktuelle, weltweite wissenschaftliche Erkenntnisse für die
Behandlung individueller Patienten vor Ort nutzbar gemacht werden.
Das lässt sich im Zeitalter der EDV unschwer realisieren, vorausgesetzt
man beherrscht den Umgang mit elektronischen Datenbanken.
Dieses durchaus vernünftige, wenn auch keineswegs revolutionäre
Konzept ist in mehr als stark verfremdeter Form über uns gekommen.
Evidence based medicine hat die Gestalt einer überwertigen
Idee angenommen. Raspe, einer der Vorbeter evidenzbasierter Medizin,
hat sich schon 1998 nicht gescheut zu verkünden:
In der evidence based medicine hat der Prozess
der Rationalisierung der Weltbeherrschung durch Wissenschaft und
Technik seinen vorerst letzten Ausdruck gefunden.
Nach Raspe hat die evidence based medicine Bedeutung für die
Beurteilung klinischer Studien, die Beschreibung und Klassifikation
von Krankheiten, für Diagnostik und Diagnosestellung, für
Prävention und Rehabilitation, für Fragen des natürlichen
Verlaufs und der Prognostik sowie für Fragen der Qualitätssicherung,
aber anscheinend keineswegs, wie ursprünglich von David Sackett
gemeint, für die Behandlung von Patienten.
Evidenzbasierte Medizin als Ausdruck der Weltbeherrschung mit allumfassender
Zuständigkeit, Wahrheitsanspruch durch ein, weil evidenzbasiertes,
unbestechliches Bewertungssystem von Wissenschaft und Technik -
meine Damen und Herren, das gemahnt an sektiererische Ideologie.
Mir will eher scheinen, es handelt sich um die Reduktion von medizinischer
Wissenschaft auf Biologie und das statistische Mittel. Das alles
hat mit dem ursprünglichen Konzept von David Sackett nichts
mehr zu tun, sondern ist Falschmünzerei. Man ist versucht,
mit Konrad Lorenz zu sagen: "Der Mensch ist das einzige Tier,
das an allen Blödsinn glaubt."
(Beifall)
Dies gilt insbesondere für die gesundheitspolitische Diskussion,
die seit Beginn der gegenwärtigen Regierungskoalition von so
genannten Fachleuten und deren Mitläufern angezettelt wurde.
Man hat den Eindruck erweckt, dass die wissenschaftliche Medizin
in Deutschland versagt hat und versagt, dass es in Deutschland keine
lex artis medicinae gab und gibt, dass notwendige Sorgfaltsstandards
notorisch nicht eingehalten werden, dass deshalb Beliebigkeit das
vorherrschende Prinzip ärztlichen Handelns ist und dass das
Prinzip der Therapiefreiheit der Ärzteschaft als Schutzschild
für unwirtschaftliches und beliebiges ärztliches Handeln
missbraucht wird.
Nichts von alledem ist wahr, meine Damen und Herren!
(Beifall)
Standards, Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen sind keine
neuen, bisher unbekannten Begriffe, sondern spielen im ärztlichen
Berufsrecht, im Vertrags- bzw. Kassenarztrecht, in der ärztlichen
Fort- und Weiterbildung wie in der Qualitätssicherung seit
Jahrzehnten, lange vor dem Auftreten gewisser sachverständiger
Geisterfahrer, eine wichtige Rolle.
(Beifall)
Es gibt in Deutschland auch seit gut 200 Jahren eine wissenschaftliche
Medizin. Die wissenschaftlichen Fachgesellschaften repräsentieren
die medizinisch-wissenschaftliche Kompetenz in unserem Lande. Die
in diesen Gesellschaften zusammengeschlossenen Fachwissenschaftler
betreiben neben wissenschaftlicher Forschung Krankenversorgung in
Diagnostik und Therapie, sie sind zuständig und verantwortlich
für die Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses an den Universitäten
- wenn auch zugegebenermaßen mit unterschiedlicher Intensität
und unterschiedlichem Erfolg -, sie sind voll integriert in die
ärztliche Weiterbildung, sowohl was die Inhalte der Weiterbildungsordnung
wie deren Umsetzung angeht.
Die Fachgesellschaften veranstalten Jahr für Jahr eine Fülle
in aller Regel gut besuchter nationaler und internationaler Kongresse,
die nicht nur der Präsentation aktueller Forschungsergebnisse,
also des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts, sondern auch
der Disseminierung und Implementierung dieses Fortschritts in die
ärztliche Praxis und den klinischen Alltag dienen. Die wissenschaftlichen
medizinischen Fachgesellschaften verkörpern gewissermaßen
die lex artis medicinae in unserem Lande.
Es kann keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass es in
Deutschland immer eine lex artis medicinae gegeben hat und dass
die weit überwiegende Zahl der Ärztinnen und Ärzte
nach den aktuellen Regeln der ärztlichen Kunst handelt. Sicher
gibt es in der Ärzteschaft auch solche, denen die wissenschaftliche
Medizin gleichgültig ist, die sich nicht an die Regeln halten.
Denen kommt man aber nicht mit Standards und Leitlinien bei, sondern
allenfalls, wenn etwas schief gegangen ist, mit den ordentlichen
Gerichten.
Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit bedeuten eben keineswegs
unbeschränkte Handlungsfreiheit oder diagnostische und therapeutische
Anarchie. Ärztliche Entscheidungen müssen nachprüfbar
sein. Sie müssen sich an den anerkannten jeweils geltenden
Regeln der ärztlichen Kunst orientieren. Sie werden im Zweifelsfall
von anderen Angehörigen der Ärzteschaft überprüft.
Was sind die Regeln der ärztlichen Kunst? Wer legt sie fest?
Gemeint sind offensichtlich medizinische Standards. Medizinische
Standards beruhen auf jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen,
also auf dem Stand der Wissenschaft, auf ärztlicher Erfahrung,
also der Empirie, und auf der Akzeptanz der Profession. Man kann
medizinische Standards als allgemein anerkannte Richtschnur oder
Maßstab für ärztliches Handeln verstehen. Standards
haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad. Absolute Standards erreichen
einen Verbindlichkeitsgrad von 100 Prozent. Sie sind einzuhalten.
Gerade deshalb sind sie in der Medizin, wenn überhaupt, nur
mit äußerster Zurückhaltung anwendbar.
Standards entscheiden darüber, ob man das, was man medizinisch
tun kann, auch tun soll. Einheitliche Standards gibt es nicht. Es
kommt auf die jeweiligen Umstände des Falles an. In Krankenhäusern
der Maximalversorgung gelten andere Standards als in Krankenhäusern
der Grundversorgung. Für Chirurgen gelten andere Standards
als für Allgemeinärzte. Es gibt Minimal- und Optimalstandards.
Minimalstandards dürfen nicht unterschritten werden.
Leitlinien dienen der Sicherung und Verbesserung der gesundheitlichen
Versorgung der Bevölkerung unter Berücksichtigung systematisch
entwickelter Entscheidungshilfen in der ärztlichen Berufspraxis.
Sie sollen zu wissenschaftlich begründeter und ökonomisch
angemessener Vorgehensweise unter Beachtung der Bedürfnisse
und Einstellungen einer Patientin oder eines Patienten motivieren.
Wir legen großen Wert darauf, dass es sich um Entscheidungshilfen
handelt, die wissenschaftlich begründete Optionen und Orientierungshilfen
im Sinne von Handlungs- und Entscheidungskorridoren darstellen,
die dem Arzt Spielräume lassen. Leitlinien sind also nicht
als Handlungsanweisungen zu verstehen, sie besitzen nicht die Verbindlichkeit
von Standards oder Richtlinien. Von Leitlinien soll und muss der
Arzt abweichen, wenn dafür plausible, durch den individuellen
Krankheitsfall gebotene Gründe vorliegen.
Haftungsrechtlich ist der Unterschied zwischen Standard oder Richtlinie
und Leitlinie allerdings mehr semantischer Natur. Im Ernstfall,
beispielsweise also vor Gericht, wird auch der Arzt, der von einer
Leitlinie abgewichen ist, diese Abweichung überzeugend begründen
müssen, wenn er zivil- oder gar strafrechtliche Konsequenzen
vermeiden will.
Die Regeln der ärztlichen Kunst, medizinische Standards wie
Inhalte von Leitlinien werden durch die Ärzteschaft selbst
und durch niemanden sonst festgelegt. Die Ärzteschaft besitzt
nach mehr als 100-jähriger immer noch aktueller Rechtsauffassung
ein Definitionsmonopol gegenüber der Gesellschaft über
Gesundheit und Krankheit. Krankheit ist ein Zustand, der ärztliche
Behandlung notwendig macht. Die Notwendigkeit der Behandlung wie
die Behandlungsinhalte sind von ärztlicher Feststellung abhängig.
Aus diesem Definitionsmonopol folgt eine hohe Verantwortung des
ärztlichen Berufsstandes, eine gute Patientenversorgung zu
sichern, diagnostische und therapeutische Prozesse wie deren Ergebnisse
zu optimieren und sie dem wissenschaftlichen medizinischen Fortschritt
anzupassen. Auf diesem Definitionsmonopol und der daraus resultierenden
Verantwortung beruht die Professionalität des ärztlichen
Berufsstandes; sie bilden auch die Grundlage der ärztlichen
Freiberuflichkeit.
Die wissenschaftliche Medizin ist weder eine reine Naturwissenschaft
noch eine Ingenieurwissenschaft oder eine Sozialwissenschaft, sie
ist auch keine Biowissenschaft. Die Medizin bedient sich wissenschaftlicher
Methoden, die nicht medizinspezifisch sind, sondern von anderen
wissenschaftlichen Disziplinen stammen.
Paul Ernst, ein früherer Heidelberger Pathologe, hat einmal
gesagt:
Die Medizin war methodisch nie selbstständig.
Die Daseinsberechtigung moderner medizinischer Forschung beruht
überwiegend auf der Würde des Forschungsgegenstandes,
nicht auf dem Wert ihrer Methoden. Die Fähigkeit, Arzt sein
zu können, schöpft sich nur aus der Humanität.
Konventionelle naturwissenschaftliche Forschung verfolgt Kausalketten.
Dieses wird aber sehr schwierig und erfasst allenfalls Teilbereiche,
wenn es um die Erforschung menschlicher Krankheiten geht. Es ist
eine triviale Erkenntnis, die sich allerdings noch nicht zu bestimmten
Expertenkreisen und manchen EBM-Napoleons herumgesprochen hat, dass
Menschen und ihre Krankheiten sehr vielgestaltig sind, dass Lebensvorgänge
auf hoch differenzierten, sehr komplexen biologischen Prozessen
mit Wechselwirkungen zahlreicher Variablen beruhen, multidimensional
sind, dass es psychosomatische Wechselwirkungen gibt und dass Menschen
- untechnisch ausgedrückt - eine Seele haben. Deshalb stößt
beispielsweise eine strenge naturwissenschaftliche Definition von
Gesundheit und Krankheit auf erhebliche Schwierigkeiten. Wahrscheinlich
kann es sie gar nicht geben.
Doppelblindstudien, auf denen ja der Erkenntnisgewinn moderner medizinischer
Forschung zum großen Teil beruht, werden bekanntlich unter
sehr künstlichen Bedingungen durchgeführt mit hoch selektierten
Probanden-Kollektiven nach strengen Ein- und Ausschlusskriterien.
Man schätzt, dass allenfalls, wenn es hochkommt, circa ein
Viertel der Patientinnen und Patienten eines "normalen"
Krankenhauses den Ein- und Ausschlusskriterien solcher Studien entsprechen.
Nur auf diese können, streng genommen, die Ergebnisse entsprechender
Studien angewandt werden. Man muss sich außerdem darüber
klar sein, dass Evidenz - was immer das ist - keineswegs die sichere
Wirkung eines Verfahrens, einer Therapie im Einzelfall meint, sondern
lediglich eine mehr oder minder große Wirkungswahrscheinlichkeit
spiegelt.
Zu den Quellen medizinischer Erkenntnis gehört auch die Erfahrung.
Zur Empirie gehört immer auch die persönliche, individuelle
ärztliche Erfahrung, die nicht an Hochschulen gelehrt, sondern
im Laufe eines ärztlichen Berufslebens durch zahlreiche persönliche
Arzt-Patienten-Begegnungen erworben wird.
Schließlich spielt in der Medizin, bei aller wissenschaftlichen
Rationalität, auch Irrationales eine nicht unbeträchtliche
Rolle. Die Droge Arzt gibt es wirklich. Auch der suggestive Effekt
des Placebos ist hinreichend bekannt. Er spielt ja gerade in Studien
eine wichtige Rolle. Nicht wenige Krankheiten heilen nach gewissermaßen
natürlichem Verlauf auch von selbst aus. Es gibt gut dokumentierte
Spontanheilungen auch schwerer Erkrankungen mit nach allgemeiner
ärztlicher Erfahrung infauster Prognose.
Die Heilkunde, meine Damen und Herren, hat ein Grundproblem: Sie
teilt sich in zwei Teile, in die Theorie und in die Praxis. Der
Heidelberger Philosoph Gadamer hat darauf hingewiesen, dass der
Unterschied zwischen Wissenschaft und Praxis darin besteht, dass
Wissenschaft unabgeschlossen, also vorläufig ist, Praxis aber
Entscheidungen verlangt und dass Praxis stets auch Wahl und Entscheidung
zwischen Möglichkeiten bedeutet.
Unser Sprachgebrauch ist auch heute noch ontologisch. Man hat eine
Krankheit, der Arzt behandelt eine Krankheit. Unter dem Einfluss
epidemiologischer Forschung neigen wir dazu, Patienten statistisch
zu entindividualisieren. Einzelschicksale definieren sich durch
die Stellung in der Gesamtstatistik der entsprechenden Krankheitsbilder.
Patienten können im Lexikon nachlesen oder im Internet erfahren,
welche mittlere Lebenserwartung ihr Krankheitsbild hat.
Wir sprechen zwar von Krankheiten, meinen aber kranke Menschen.
Ärzte behandeln keine Krankheiten, sondern kranke Menschen.
Epidemiologische Erkenntnisse, statistische Mittelwerte oder so
genannte Restrisiken sind für den einzelnen Patienten, für
das kranke Individuum ohne jede Bedeutung. Kranke Menschen sind
niemals Objekt, sondern Subjekt mit einer ganz eigenen Biografie,
die Symptomatik, Verlauf und Bewältigung einer Krankheit wesentlich
beeinflusst. Ärztinnen und Ärzte treten als Person in
Beziehung zu kranken Personen und nicht zu irgendwelchen krankhaften
Erscheinungen, Laboratoriumsbefunden oder Studienergebnissen.
Man kann dem Träger der Paracelsus-Medaille, Herrn Professor
Arnold, einem sicher unverdächtigen Zeugen, nur zustimmen,
wenn er feststellt, dass die Einmaligkeit von Patienten und die
aus der mangelnden Wissenschaftlichkeit der Medizin folgenden Unsicherheiten
es nur in Ausnahmefällen möglich machen, strenge Normierungen
vorzunehmen oder "goldene Regeln" für Diagnostik
und Therapie aufzustellen.
Standards und Normen im Sinne verbindlicher Handlungsanweisungen
sind in der Medizin höchst problematisch und können -
bei strikter Einhaltung - den ärztlichen Heilauftrag in sein
Gegenteil verkehren. Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, soll bemerkt
haben, dass die Wissenschaft die Humanität des Arztes tötet.
Oder, um mit dem Medizinrechtler Laufs zu sprechen: "Die Idee
des Arztes gründet auf Wissenschaft und Humanität."
Und schließlich der Philosoph Hans Jonas, uns allen bekannt
durch das "Prinzip Verantwortung": "Der Arzt ist
dem Patienten verpflichtet und niemandem sonst."
Maßgeblich ist im Ernstfall, das heißt im Einzelfall,
nicht ein Standard, gleich welcher Evidenz, sondern mit ganz wenigen
Ausnahmen das kranke Individuum.
Standards oder Leitlinien können ärztliche Verantwortung
nicht ersetzen. Natürlich ist der Arzt an die Regeln der ärztlichen
Kunst gebunden. Der Grundsatz der ärztlichen Methoden- und
Therapiefreiheit verlangt jedoch vom Arzt das Eingehen auf die individuelle
Situation des jeweiligen Patienten. Deshalb lässt sich auch
Qualität nicht zentral verordnen. Ein zentrales Institut für
Qualität wird dem Menschen nicht gerecht. Qualität muss
immer auf den kranken Menschen Bezug nehmen und an ihm gemessen
werden.
Eine standardisierte Medizin, die nach obligaten leitliniengestützten
Diagnose- und Therapiekriterien vorgeht, setzt den standardisierten
Menschen und Patienten voraus. Den aber gibt es nicht. Die cartesianische
Vorstellung vom Menschen als einem technisch-mechanischen Modell,
der l'homme machine (de Lamettrie), stammt aus dem 17. und 18. Jahrhundert.
Sie war Ausgangspunkt neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Betrachtung
in Biologie und Physiologie, ist aber heute nur noch von historischem
Interesse, sollte es jedenfalls sein.
Offenbar ist es aber so, dass die grandiose Technisierung und der
in der Tat ungeheure apparative Aufwand moderner Hochleistungsmedizin
ebenso wie simple monokausale Erklärungsmodelle wie die Gentechnologie
manchen, auch manchen unter uns, den Blick für das kranke Individuum
verstellen. Sie verwechseln technische Effizienz mit geistigem Fortschritt
und Machbarkeit mit Wahrheit. Sie ignorieren, dass Krankheit, um
noch einmal Gadamer zu bemühen, ein sozialer Tatbestand ist.
Sie verkennen die soziale Funktion des ärztlichen Berufs. Sie
degradieren Kranke zu Objekten und Ärztinnen und Ärzte
zu technischen Handlangern.
Das gilt besonders für die Vereinnahmung der evidence based
medicine durch die Gesundheitsökonomie. Evidence based medicine
im Sinne von David Sackett kann in der Tat eine wertvolle Hilfe
für den Arzt sein. EBM als gesundheitsökonomisches Steuerungsinstrument,
als Basis von versorgungsrelevanten, sanktionsbewehrten verbindlichen
Diagnose- und Therapiestandards führt zu einer inhumanen, weil
entindividualisierten Medizin, letztlich zu einer flächendeckenden
allumfassenden Fehlversorgung sozialversicherter Patientinnen und
Patienten.
Das kann und darf von der Ärzteschaft nicht akzeptiert werden.
(Beifall)
Die pseudowissenschaftlichen Experten, die uns auf diesen Weg führen
wollen, sind in der Tat falsche Propheten. Man sollte ihnen die
rote Karte zeigen oder ein Rückflugticket - one way! - nach
Harvard spendieren!
(Beifall)
Der Arztberuf, meine Damen und Herren, verkommt mehr und mehr,
wie Horst Baier es einmal ausgedrückt hat, zu einer Agentur
für gesellschaftspolitische Zwecke. Unvoreingenommene Beobachter
diagnostizieren seit langem eine zunehmende Entprofessionalisierung
unseres Berufs. Ein Blick in das SGB V bestätigt diese Diagnose.
Etwa die §§ 72, 92, 137 c, 137 e und 137 f bieten genügend
geeignete Instrumente für verbindliche, letztlich rationierende
Behandlungsstandards. Dort wird massiv in Kernbereiche ärztlicher
Tätigkeit, in die ärztliche Behandlung eingegriffen. Nicht
medizinisch-wissenschaftliche, sondern medizinisch-wirtschaftliche
Standards sind gefragt. Ärztliches Berufsethos, nämlich
dass der Arzt dem Patienten und niemandem sonst verpflichtet ist,
wie die Interessen kranker, schwacher und hilfloser Menschen werden
ausgerechnet im Sozialgesetzbuch vom Gesetzgeber massiv missachtet.
Es stellt sich die Frage: Warum dulden wir diese zunehmende Entprofessionalisierung
und Degradierung unseres Berufsstands? Ist es nicht ein ausgesprochenes
Armutszeugnis, dass wir uns zunehmend als Teil des GKV-Systems begreifen,
dem - frei nach dem Motto "mitgefangen, mitgehangen" -
gar keine andere Wahl bleibt, als Anhängsel und Ableger gesetzlicher
Krankenkassen zu sein? Tragen wir durch unsere hilflose Akzeptanz
einer normativen Kraft des vermeintlich Faktischen nicht Mitschuld
daran, dass eine wahre Massenflucht aus unserem früher einmal
schönen Beruf eingesetzt hat? Die Kolleginnen und Kollegen
verabschieden sich doch, weil sie der zunehmenden Fremdbestimmung
ihres Berufs entkommen wollen und anscheinend der eigenen Selbstverwaltung
keine Widerstandskraft mehr zutrauen.
Müssen wir nicht die Frage stellen, ob die viel gepriesene
gemeinsame Selbstverwaltung von GKV und Ärzteschaft eine Fiktion
ist, eine Selbsttäuschung, weil sie - wie der allseits bekannte
Rechtswissenschaftler Professor Taupitz kürzlich dargelegt
hat - gar nicht funktionieren kann, da die Interessen der Beteiligten
viel zu gegensätzlich sind?
Stimmt die sarkastische Prognose von Arnold? Er erklärt:
Das bisher leistungserbringerbestimmte System
ist im Begriff, zu einem kostenträgerbestimmten System zu
werden. Verbindliche Diagnose- und Therapierichtlinien sind goldene
Regeln, weil sie von denen aufgestellt und durchgesetzt werden,
die das "Gold" haben. Die ärztliche Behandlungsautonomie
wird durch all dies geschwächt oder am Ende sogar aufgehoben.
Sind wir wirklich käuflich, korrupt? Sollten wir nicht wenigstens
passiven Widerstand leisten, zum Beispiel indem wir den Menschen
sagen, mit welcher Unverfrorenheit sie an der Nase herumgeführt
werden? Warum beispielsweise sagen wir den Menschen nicht, was längst
gesagt sein müsste, dass nämlich das ganze unsägliche
Gedöns um § 137 f SGB V, die Disease-Management-Programme,
ein Kümmelblättchen ist, Bauernfängerei, ein falsches
Spiel?
(Beifall)
Warum sagen wir den Menschen nicht, dass die Verunglimpfung, in
Deutschland würden chronisch Kranke generell schlecht versorgt,
jeder beweiskräftigen Grundlage entbehrt, es sei denn, man
sieht windige OECD-Statistiken als beweiskräftig an?
(Beifall)
Warum sagen wir den Menschen nicht, dass chronisch Kranke ebenso
wie ihre Ärztinnen und Ärzte hier nur als Kulissen missbraucht
werden, hinter denen man sehr große Geldsummen verschieben
kann, natürlich im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit und im
Namen des solidarischen Wettbewerbs?
(Beifall)
Warum sagen wir den Menschen nicht, dass sie selbstverständlich
innerhalb wie außerhalb von Disease-Management-Programmen
nach den jeweils aktuellen Regeln der ärztlichen Kunst behandelt
werden - wenn es nach dem Willen der Ärzteschaft geht?
(Beifall)
Warum sagen wir den Menschen nicht, dass die Disease-Management-Programme
deshalb in unserem Gesundheitssystem aus medizinischer Sicht überflüssig
sind? Warum erklären wir nicht, dass es nur der Hartnäckigkeit
der so genannten Leistungserbringer, besonders aber der Bundesärztekammer,
zu verdanken ist, dass die aktuellen Disease-Management-Programme
nicht hinter dem geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Standard
zurückbleiben? Diese Gefahr bestand und besteht durchaus, wenn
es nach dem Willen der Kostenträger geht.
Meine Damen und Herren, die Teilnahme an einem Disease-Management-Programm
nach der Prägung von Ulla Schmidt kann nach meinem Eindruck
eine schlechtere Versorgung bedeuten.
(Beifall)
Dies ist der Grund, warum die Bundesärztekammer die Schirmherrschaft
über ein Nationales Leitlinienprogramm übernommen hat.
Sie will verhindern, dass Patientinnen und Patienten in Disease-Management-Programmen
nach Minimalstandards versorgt werden. Deshalb erarbeitet die ÄZQ
im Auftrag der KBV und der Bundesärztekammer unter Leitung
von Frau Kollegin Eberlein-Gonska auch ein "Curriculum strukturierte
Behandlungsprogramme". Darin sollen die ärztlich verantwortbaren
Rahmenbedingungen solcher Programme definiert werden.
Meine Damen und Herren, der Internist Victor von Weizsäcker
hat vor fast 100 Jahren eine Habeas-Corpus-Akte für Patienten
gefordert als eine Art Grundrecht für Kranke im Hinblick auf
ihre alleinige, persönliche und individuelle Verfügungsmacht
über Gesundheit und Krankheit. Ich denke, heutzutage benötigen
Ärztinnen und Ärzte wie Patientinnen und Patienten eine
solche Habeas-Corpus-Akte, die sie vor dem Zugriff moderner Sozialpolitik
bewahrt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Lebhafter Beifall)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Lieber Fritz Kolkmann, ich bin jetzt richtig wissenschaftlich unterstützt
und wissenschaftlich begleitet. Wir sind froh, dass wir die ganze
Thematik so aufbereitet haben, dass wir die Situation so darstellen
können, wie sie sich für uns auch vom Empfinden und von
der inneren Überzeugung her darstellt, beim Einzelnen vielleicht
erst etwas diffus, aber in der Ausprägung seiner Formulie-rungen
genauer kanalisiert. Ich fand die zum Teil recht prägnanten
Darstellun-gen der Situation äußerst wichtig, um noch
einmal klar zu machen, in welche Situation wir geraten sind, indem
wir beispielsweise Systeme anderer Länder nachäffen und
meinen, damit für unser Land Gutes zu tun.
Ich bedanke mich nochmals herzlich für den exzellenten Vortrag
von Fritz Kolkmann.
(Beifall)
Jetzt bin ich gespannt auf den Vortrag von Herrn Professor Encke,
den Präsidenten der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen
Medizinischen Fachgesellschaften.
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