TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Kolkmann, Referent:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regie des Deutschen Ärztetages hätte gut daran getan, neben den Eingangstüren zu diesem hervorragenden Tagungsort Kübel mit Asche aufzustellen und sackleinene Gewänder auszugeben. Denn es ist an der Zeit, dass der Deutsche Ärztetag, die repräsentative Versammlung der deutschen Ärzteschaft, endlich deutliche Zeichen setzt, die Häupter mit Asche bestreut und in Sack und Asche geht. Es müssen öffentlich Zeichen der Reue und Buße gesetzt werden, der Einsicht und der demütigen Bitte um Entschuldigung wie der Umkehr. Denn wir haben uns mit permanenter krimineller Energie der Über-, Unter- und Fehlversorgung schuldig gemacht. Wir haben uns zu verwerflichen Anbieterkartellen zusammengerottet, uns einen Sicherstellungsauftrag erschlichen und diesen schamlos für eigene Interessen ausgebeutet.

Wir haben in uneinsichtiger Weise alle gesundheitsökonomisch, epidemiologisch, soziologisch evidenzbasierte Kritik ignoriert. Wir haben Qualität an Menschen ausgerichtet und gemessen und nicht an Studien. Wir haben Rationalisierungsreserven unterschlagen, großzügigst bemessene Budgets veruntreut, widersetzen uns dringend notwendigen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen.

Das alles hat dazu geführt, meine Damen und Herren, dass unser Gesundheitssystem, obwohl im Prinzip vorbildlich und obwohl wohlmeinende Krankenkassen Hunderte Milliarden Euro uneigennützig zur Verfügung stellen, im internationalen Ranking auf den letzten Plätzen rangiert. Bei uns werden Hunderttausende von unnötigen Operationen, insbesondere an weiblichen Brüsten und diabetischen Füßen durchgeführt, sterben Abertausende Patientinnen und Patienten einen vorzeitigen Tod an Mamma- und Dickdarmkarzinomen, Schlaganfall und Herzinfarkt. Ganz zu schweigen von den chronisch Kranken, denen, obgleich sie die Krankenkassen Unsummen kosten, nur eine rudimentäre Versorgung zuteil wird.

All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, so das evidenzbasierte Urteil unbestechlicher und unabhängiger Sachverständiger, ist der rückständigen, reformresistenten deutschen Ärzteschaft anzukreiden, die, da sie freiwillig keinen Reformwillen erkennen lässt, der politischen Umerziehung und scharfen Überwachung durch Sachverständige und Krankenkassen bedarf. Es stellt sich die dringliche Frage: Sind die sachverständigen Umerzieher, mit denen wir es zu tun haben, die Retter in der Not, die Heilsbringer für unser Gesundheitssystem, für die Patientinnen und Patienten, für Ärztinnen und Ärzte? Oder handelt es sich um falsche Propheten, die, wie es im Alten Testament heißt, nichtige Visionen gehabt und falsche Orakel verkündet haben, die das Volk in die Irre führen, Heil verkünden, wo es kein Heil gibt, und die sich auf einem schlüpfrigen Pfad befinden?

Es hat eigentlich ganz harmlos angefangen. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat im Jahre 1994 in seinem damaligen Sachstandsbericht die "Notwendigkeit von Standards und Leitlinien" erörtert und die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften aufgefordert, Leitlinien zu entwickeln. Es war davon die Rede, dass Leitlinien und Standards Instrumente sind zur Vermeidung des Unnötigen bzw. Überflüssigen und zur Gewährleistung dessen, was in Diagnostik und Therapie notwendig ist.

Offensichtlich ging es dem Sachverständigenrat darum, mithilfe von Standards und Leitlinien Rationalisierungsreserven zu aktivieren. Man darf also im Wesentlichen ökonomische Beweggründe hinter der Forderung nach Leitlinienentwicklung durch die AWMF vermuten. Schließlich gehörten dem Sachverständigenrat damals namhafte Ökonomen an.
Der Sachverständigenrat hat sich drei Jahre später in einem Sondergutachten erneut mit dem Thema Leitlinien beschäftigt und jetzt allerdings gewarnt, dass eine ernsthafte Störung des Arzt-Patienten-Verhältnisses zu befürchten sei, wenn die klinische und ärztliche Entscheidungsfreiheit durch ökonomische Erwägungen eingeschränkt wird. Dem kann man nur zustimmen. Leider war diese Warnung offensichtlich in den Wind gesprochen.

Im März 1995 hat in Mainz eine Tagung zum Thema "Standards von Gesundheitsleistungen im Spannungsfeld von Rationalisierung und Rationierung" stattgefunden. Im Tagungsband, der zwei Jahre später im Deutschen Ärzte-Verlag herausgegeben wurde, kann man auf Seite 71 ff. unter anderem nachlesen, mit welcher aus heutiger Sicht unglaublichen Naivität - wenn nicht Leichtfertigkeit - seinerzeit auch von ärztlichen Sachverständigen das Thema Leitlinien auf den Weg gebracht wurde. Der Referent, auch heute noch Mitglied des Sachverständigenrats, damals Ärztlicher Direktor einer großen Münchener Klinik für Innere Medizin, berichtet, er habe aus ministeriellem Munde vernommen, dass die Erfahrung zeige, dass es in der Medizin immer noch eine ganze Menge Verschwendung gebe. Andererseits wisse er, dass in der Medizin immer noch eine ganze Menge an sich notwendiger Dinge nicht passiere. Aus diesen beiden Polen - heute würden wir sagen: Über- und Unterversorgung - ließen sich für bestimmte Situationen Leitlinien ableiten, nach denen man sich richten könne.

Die Notwendigkeit von Leitlinien wird also begründet mit Hörensagen aus ministeriellem Munde und eigenem Wissen, das heißt Erfahrungen, die wahrscheinlich, wie das in solchen Fällen häufig ist, aus dem eigenen klinischen Umfeld stammen. Zur Frage, was man unter Standards, Richtlinien, Empfehlungen oder was auch immer verstehen solle, bemerkt der Referent frisch, fromm, fröhlich und frei, dass er die Frage, was wirklich ein Standard, was eine Leit- oder Richtlinie ist oder was eine bloße Empfehlung, gerne noch dem Entwicklungsprozess überantworten möchte. Mit anderen Worten: Er weiß es nicht, er hat sich damit noch gar nicht befasst.

Schließlich zum Stellenwert von Standards noch die Bemerkung, dass der Stellenwert des Standards besser als die gegenwärtige Situation sei, in der man, wenn man etwas falsch gemacht habe, allenfalls sagen könne: In meinem Lehrbuch, das 20 Jahre alt ist, stand das aber so drin. Hier sind Standards offenbar Antidot gegen Behandlungsfehler. Ein Standard, so wird noch ausgeführt, werde alle vier bis fünf Jahre neu herausgegeben und dahinter sei der gesamte Sachverstand und nicht nur - wie im Lehrbuch - ein Kapitelautor.

Soweit die Ansichten eines ärztlichen Sachverständigen und Miturhebers der Leitliniendebatte in der deutschen Medizin. Die Lehrbuchautoren werden es ihm danken. Wir alle müssen ihm dankbar sein, denn der geballte Sachverstand der Standards wird uns endlich aus der unhaltbaren Notlage befreien, unsere Patientinnen und Patienten nach 20 Jahre alten Lehrbüchern behandeln zu müssen.

Der Sachverständigenrat hatte mit seiner Initiative eine Leitlinieneuphorie und ?proliferation ausgelöst. Bundesärztekammer und AWMF haben sich in der Folgezeit bis zum heutigen Tage überwiegend gemeinsam bemüht, Ordnung in die Vielfalt des Erscheinungsbildes von Leitlinien und der Begriffe zu bringen. Ich nenne stichwortartig:

- Erarbeitung von Qualitätskritierien bzw. von Beurteilungskriterien für Leitlinen;

- Einrichtung eines Clearingverfahrens für Leitlinien, an dem sich, vertraglich abgesichert, erfreulicherweise die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und neuerdings auch die private Krankenversicherung und die Rentenversicherungsträger beteiligen;

- begriffliche Klärung von Standards, Richtlinien, Leitlinien, Empfehlungen und ihre Bedeutung für die ärztliche Versorgung;

- sozialrechtliche und haftungsrechtliche Implikationen.

Meine Damen und Herren, Leitlinien müssen natürlich evidenzbasiert sein, sonst sind es keine richtigen Leitlinien. Evidence based medicine lautet die neue Heilslehre, der wir uns zu unterwerfen haben und die alle tatsächlichen und vermeintlichen Probleme lösen soll. Zur Erinnerung: Der Begriff stammt bekanntlich von David Sackett, den man als Vater der evidenzbasierten Medizin bezeichnen kann. Er versteht darunter die Integration der individuellen klinischen Erfahrung mit der jeweils besten externen Evidenz aus wissenschaftlichen Studien zur Lösung eines individuellen Problems. Für Sackett ist die evidence based medicine - ich zitiere etwas frei übersetzt, mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident -

die bewusste, ausdrückliche und verständige Nutzung der jeweils besten Evidenz bei Entscheidungen über die Versorgung individueller Patienten. Ihre Praxis beinhaltet die Integration individueller klinischer Kenntnisse mit der jeweils besten externen Evidenz aus systematischer Forschung.

Mit "systematischer Forschung" ist klinisch relevante Forschung durchaus auch aus dem Bereich der Grundlagenforschung, bevorzugt aber aus patientenbezogener klinischer Forschung, gemeint. Es sollen also statt 20 Jahre alten Lehrbuchwissens möglichst aktuelle, weltweite wissenschaftliche Erkenntnisse für die Behandlung individueller Patienten vor Ort nutzbar gemacht werden. Das lässt sich im Zeitalter der EDV unschwer realisieren, vorausgesetzt man beherrscht den Umgang mit elektronischen Datenbanken.

Dieses durchaus vernünftige, wenn auch keineswegs revolutionäre Konzept ist in mehr als stark verfremdeter Form über uns gekommen. Evidence based medicine hat die Gestalt einer überwertigen Idee angenommen. Raspe, einer der Vorbeter evidenzbasierter Medizin, hat sich schon 1998 nicht gescheut zu verkünden:

In der evidence based medicine hat der Prozess der Rationalisierung der Weltbeherrschung durch Wissenschaft und Technik seinen vorerst letzten Ausdruck gefunden.

Nach Raspe hat die evidence based medicine Bedeutung für die Beurteilung klinischer Studien, die Beschreibung und Klassifikation von Krankheiten, für Diagnostik und Diagnosestellung, für Prävention und Rehabilitation, für Fragen des natürlichen Verlaufs und der Prognostik sowie für Fragen der Qualitätssicherung, aber anscheinend keineswegs, wie ursprünglich von David Sackett gemeint, für die Behandlung von Patienten.

Evidenzbasierte Medizin als Ausdruck der Weltbeherrschung mit allumfassender Zuständigkeit, Wahrheitsanspruch durch ein, weil evidenzbasiertes, unbestechliches Bewertungssystem von Wissenschaft und Technik - meine Damen und Herren, das gemahnt an sektiererische Ideologie. Mir will eher scheinen, es handelt sich um die Reduktion von medizinischer Wissenschaft auf Biologie und das statistische Mittel. Das alles hat mit dem ursprünglichen Konzept von David Sackett nichts mehr zu tun, sondern ist Falschmünzerei. Man ist versucht, mit Konrad Lorenz zu sagen: "Der Mensch ist das einzige Tier, das an allen Blödsinn glaubt."

(Beifall)

Dies gilt insbesondere für die gesundheitspolitische Diskussion, die seit Beginn der gegenwärtigen Regierungskoalition von so genannten Fachleuten und deren Mitläufern angezettelt wurde. Man hat den Eindruck erweckt, dass die wissenschaftliche Medizin in Deutschland versagt hat und versagt, dass es in Deutschland keine lex artis medicinae gab und gibt, dass notwendige Sorgfaltsstandards notorisch nicht eingehalten werden, dass deshalb Beliebigkeit das vorherrschende Prinzip ärztlichen Handelns ist und dass das Prinzip der Therapiefreiheit der Ärzteschaft als Schutzschild für unwirtschaftliches und beliebiges ärztliches Handeln missbraucht wird.

Nichts von alledem ist wahr, meine Damen und Herren!

(Beifall)

Standards, Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen sind keine neuen, bisher unbekannten Begriffe, sondern spielen im ärztlichen Berufsrecht, im Vertrags- bzw. Kassenarztrecht, in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung wie in der Qualitätssicherung seit Jahrzehnten, lange vor dem Auftreten gewisser sachverständiger Geisterfahrer, eine wichtige Rolle.

(Beifall)

Es gibt in Deutschland auch seit gut 200 Jahren eine wissenschaftliche Medizin. Die wissenschaftlichen Fachgesellschaften repräsentieren die medizinisch-wissenschaftliche Kompetenz in unserem Lande. Die in diesen Gesellschaften zusammengeschlossenen Fachwissenschaftler betreiben neben wissenschaftlicher Forschung Krankenversorgung in Diagnostik und Therapie, sie sind zuständig und verantwortlich für die Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses an den Universitäten - wenn auch zugegebenermaßen mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichem Erfolg -, sie sind voll integriert in die ärztliche Weiterbildung, sowohl was die Inhalte der Weiterbildungsordnung wie deren Umsetzung angeht.

Die Fachgesellschaften veranstalten Jahr für Jahr eine Fülle in aller Regel gut besuchter nationaler und internationaler Kongresse, die nicht nur der Präsentation aktueller Forschungsergebnisse, also des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts, sondern auch der Disseminierung und Implementierung dieses Fortschritts in die ärztliche Praxis und den klinischen Alltag dienen. Die wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften verkörpern gewissermaßen die lex artis medicinae in unserem Lande.

Es kann keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass es in Deutschland immer eine lex artis medicinae gegeben hat und dass die weit überwiegende Zahl der Ärztinnen und Ärzte nach den aktuellen Regeln der ärztlichen Kunst handelt. Sicher gibt es in der Ärzteschaft auch solche, denen die wissenschaftliche Medizin gleichgültig ist, die sich nicht an die Regeln halten. Denen kommt man aber nicht mit Standards und Leitlinien bei, sondern allenfalls, wenn etwas schief gegangen ist, mit den ordentlichen Gerichten.

Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit bedeuten eben keineswegs unbeschränkte Handlungsfreiheit oder diagnostische und therapeutische Anarchie. Ärztliche Entscheidungen müssen nachprüfbar sein. Sie müssen sich an den anerkannten jeweils geltenden Regeln der ärztlichen Kunst orientieren. Sie werden im Zweifelsfall von anderen Angehörigen der Ärzteschaft überprüft.

Was sind die Regeln der ärztlichen Kunst? Wer legt sie fest?

Gemeint sind offensichtlich medizinische Standards. Medizinische Standards beruhen auf jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, also auf dem Stand der Wissenschaft, auf ärztlicher Erfahrung, also der Empirie, und auf der Akzeptanz der Profession. Man kann medizinische Standards als allgemein anerkannte Richtschnur oder Maßstab für ärztliches Handeln verstehen. Standards haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad. Absolute Standards erreichen einen Verbindlichkeitsgrad von 100 Prozent. Sie sind einzuhalten. Gerade deshalb sind sie in der Medizin, wenn überhaupt, nur mit äußerster Zurückhaltung anwendbar.

Standards entscheiden darüber, ob man das, was man medizinisch tun kann, auch tun soll. Einheitliche Standards gibt es nicht. Es kommt auf die jeweiligen Umstände des Falles an. In Krankenhäusern der Maximalversorgung gelten andere Standards als in Krankenhäusern der Grundversorgung. Für Chirurgen gelten andere Standards als für Allgemeinärzte. Es gibt Minimal- und Optimalstandards. Minimalstandards dürfen nicht unterschritten werden.

Leitlinien dienen der Sicherung und Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung unter Berücksichtigung systematisch entwickelter Entscheidungshilfen in der ärztlichen Berufspraxis. Sie sollen zu wissenschaftlich begründeter und ökonomisch angemessener Vorgehensweise unter Beachtung der Bedürfnisse und Einstellungen einer Patientin oder eines Patienten motivieren. Wir legen großen Wert darauf, dass es sich um Entscheidungshilfen handelt, die wissenschaftlich begründete Optionen und Orientierungshilfen im Sinne von Handlungs- und Entscheidungskorridoren darstellen, die dem Arzt Spielräume lassen. Leitlinien sind also nicht als Handlungsanweisungen zu verstehen, sie besitzen nicht die Verbindlichkeit von Standards oder Richtlinien. Von Leitlinien soll und muss der Arzt abweichen, wenn dafür plausible, durch den individuellen Krankheitsfall gebotene Gründe vorliegen.

Haftungsrechtlich ist der Unterschied zwischen Standard oder Richtlinie und Leitlinie allerdings mehr semantischer Natur. Im Ernstfall, beispielsweise also vor Gericht, wird auch der Arzt, der von einer Leitlinie abgewichen ist, diese Abweichung überzeugend begründen müssen, wenn er zivil- oder gar strafrechtliche Konsequenzen vermeiden will.

Die Regeln der ärztlichen Kunst, medizinische Standards wie Inhalte von Leitlinien werden durch die Ärzteschaft selbst und durch niemanden sonst festgelegt. Die Ärzteschaft besitzt nach mehr als 100-jähriger immer noch aktueller Rechtsauffassung ein Definitionsmonopol gegenüber der Gesellschaft über Gesundheit und Krankheit. Krankheit ist ein Zustand, der ärztliche Behandlung notwendig macht. Die Notwendigkeit der Behandlung wie die Behandlungsinhalte sind von ärztlicher Feststellung abhängig.

Aus diesem Definitionsmonopol folgt eine hohe Verantwortung des ärztlichen Berufsstandes, eine gute Patientenversorgung zu sichern, diagnostische und therapeutische Prozesse wie deren Ergebnisse zu optimieren und sie dem wissenschaftlichen medizinischen Fortschritt anzupassen. Auf diesem Definitionsmonopol und der daraus resultierenden Verantwortung beruht die Professionalität des ärztlichen Berufsstandes; sie bilden auch die Grundlage der ärztlichen Freiberuflichkeit.

Die wissenschaftliche Medizin ist weder eine reine Naturwissenschaft noch eine Ingenieurwissenschaft oder eine Sozialwissenschaft, sie ist auch keine Biowissenschaft. Die Medizin bedient sich wissenschaftlicher Methoden, die nicht medizinspezifisch sind, sondern von anderen wissenschaftlichen Disziplinen stammen.

Paul Ernst, ein früherer Heidelberger Pathologe, hat einmal gesagt:

Die Medizin war methodisch nie selbstständig. Die Daseinsberechtigung moderner medizinischer Forschung beruht überwiegend auf der Würde des Forschungsgegenstandes, nicht auf dem Wert ihrer Methoden. Die Fähigkeit, Arzt sein zu können, schöpft sich nur aus der Humanität.

Konventionelle naturwissenschaftliche Forschung verfolgt Kausalketten. Dieses wird aber sehr schwierig und erfasst allenfalls Teilbereiche, wenn es um die Erforschung menschlicher Krankheiten geht. Es ist eine triviale Erkenntnis, die sich allerdings noch nicht zu bestimmten Expertenkreisen und manchen EBM-Napoleons herumgesprochen hat, dass Menschen und ihre Krankheiten sehr vielgestaltig sind, dass Lebensvorgänge auf hoch differenzierten, sehr komplexen biologischen Prozessen mit Wechselwirkungen zahlreicher Variablen beruhen, multidimensional sind, dass es psychosomatische Wechselwirkungen gibt und dass Menschen - untechnisch ausgedrückt - eine Seele haben. Deshalb stößt beispielsweise eine strenge naturwissenschaftliche Definition von Gesundheit und Krankheit auf erhebliche Schwierigkeiten. Wahrscheinlich kann es sie gar nicht geben.

Doppelblindstudien, auf denen ja der Erkenntnisgewinn moderner medizinischer Forschung zum großen Teil beruht, werden bekanntlich unter sehr künstlichen Bedingungen durchgeführt mit hoch selektierten Probanden-Kollektiven nach strengen Ein- und Ausschlusskriterien. Man schätzt, dass allenfalls, wenn es hochkommt, circa ein Viertel der Patientinnen und Patienten eines "normalen" Krankenhauses den Ein- und Ausschlusskriterien solcher Studien entsprechen. Nur auf diese können, streng genommen, die Ergebnisse entsprechender Studien angewandt werden. Man muss sich außerdem darüber klar sein, dass Evidenz - was immer das ist - keineswegs die sichere Wirkung eines Verfahrens, einer Therapie im Einzelfall meint, sondern lediglich eine mehr oder minder große Wirkungswahrscheinlichkeit spiegelt.

Zu den Quellen medizinischer Erkenntnis gehört auch die Erfahrung. Zur Empirie gehört immer auch die persönliche, individuelle ärztliche Erfahrung, die nicht an Hochschulen gelehrt, sondern im Laufe eines ärztlichen Berufslebens durch zahlreiche persönliche Arzt-Patienten-Begegnungen erworben wird.

Schließlich spielt in der Medizin, bei aller wissenschaftlichen Rationalität, auch Irrationales eine nicht unbeträchtliche Rolle. Die Droge Arzt gibt es wirklich. Auch der suggestive Effekt des Placebos ist hinreichend bekannt. Er spielt ja gerade in Studien eine wichtige Rolle. Nicht wenige Krankheiten heilen nach gewissermaßen natürlichem Verlauf auch von selbst aus. Es gibt gut dokumentierte Spontanheilungen auch schwerer Erkrankungen mit nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung infauster Prognose.

Die Heilkunde, meine Damen und Herren, hat ein Grundproblem: Sie teilt sich in zwei Teile, in die Theorie und in die Praxis. Der Heidelberger Philosoph Gadamer hat darauf hingewiesen, dass der Unterschied zwischen Wissenschaft und Praxis darin besteht, dass Wissenschaft unabgeschlossen, also vorläufig ist, Praxis aber Entscheidungen verlangt und dass Praxis stets auch Wahl und Entscheidung zwischen Möglichkeiten bedeutet.

Unser Sprachgebrauch ist auch heute noch ontologisch. Man hat eine Krankheit, der Arzt behandelt eine Krankheit. Unter dem Einfluss epidemiologischer Forschung neigen wir dazu, Patienten statistisch zu entindividualisieren. Einzelschicksale definieren sich durch die Stellung in der Gesamtstatistik der entsprechenden Krankheitsbilder. Patienten können im Lexikon nachlesen oder im Internet erfahren, welche mittlere Lebenserwartung ihr Krankheitsbild hat.

Wir sprechen zwar von Krankheiten, meinen aber kranke Menschen. Ärzte behandeln keine Krankheiten, sondern kranke Menschen. Epidemiologische Erkenntnisse, statistische Mittelwerte oder so genannte Restrisiken sind für den einzelnen Patienten, für das kranke Individuum ohne jede Bedeutung. Kranke Menschen sind niemals Objekt, sondern Subjekt mit einer ganz eigenen Biografie, die Symptomatik, Verlauf und Bewältigung einer Krankheit wesentlich beeinflusst. Ärztinnen und Ärzte treten als Person in Beziehung zu kranken Personen und nicht zu irgendwelchen krankhaften Erscheinungen, Laboratoriumsbefunden oder Studienergebnissen.

Man kann dem Träger der Paracelsus-Medaille, Herrn Professor Arnold, einem sicher unverdächtigen Zeugen, nur zustimmen, wenn er feststellt, dass die Einmaligkeit von Patienten und die aus der mangelnden Wissenschaftlichkeit der Medizin folgenden Unsicherheiten es nur in Ausnahmefällen möglich machen, strenge Normierungen vorzunehmen oder "goldene Regeln" für Diagnostik und Therapie aufzustellen.

Standards und Normen im Sinne verbindlicher Handlungsanweisungen sind in der Medizin höchst problematisch und können - bei strikter Einhaltung - den ärztlichen Heilauftrag in sein Gegenteil verkehren. Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, soll bemerkt haben, dass die Wissenschaft die Humanität des Arztes tötet. Oder, um mit dem Medizinrechtler Laufs zu sprechen: "Die Idee des Arztes gründet auf Wissenschaft und Humanität." Und schließlich der Philosoph Hans Jonas, uns allen bekannt durch das "Prinzip Verantwortung": "Der Arzt ist dem Patienten verpflichtet und niemandem sonst."

Maßgeblich ist im Ernstfall, das heißt im Einzelfall, nicht ein Standard, gleich welcher Evidenz, sondern mit ganz wenigen Ausnahmen das kranke Individuum.

Standards oder Leitlinien können ärztliche Verantwortung nicht ersetzen. Natürlich ist der Arzt an die Regeln der ärztlichen Kunst gebunden. Der Grundsatz der ärztlichen Methoden- und Therapiefreiheit verlangt jedoch vom Arzt das Eingehen auf die individuelle Situation des jeweiligen Patienten. Deshalb lässt sich auch Qualität nicht zentral verordnen. Ein zentrales Institut für Qualität wird dem Menschen nicht gerecht. Qualität muss immer auf den kranken Menschen Bezug nehmen und an ihm gemessen werden.

Eine standardisierte Medizin, die nach obligaten leitliniengestützten Diagnose- und Therapiekriterien vorgeht, setzt den standardisierten Menschen und Patienten voraus. Den aber gibt es nicht. Die cartesianische Vorstellung vom Menschen als einem technisch-mechanischen Modell, der l'homme machine (de Lamettrie), stammt aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Sie war Ausgangspunkt neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Betrachtung in Biologie und Physiologie, ist aber heute nur noch von historischem Interesse, sollte es jedenfalls sein.

Offenbar ist es aber so, dass die grandiose Technisierung und der in der Tat ungeheure apparative Aufwand moderner Hochleistungsmedizin ebenso wie simple monokausale Erklärungsmodelle wie die Gentechnologie manchen, auch manchen unter uns, den Blick für das kranke Individuum verstellen. Sie verwechseln technische Effizienz mit geistigem Fortschritt und Machbarkeit mit Wahrheit. Sie ignorieren, dass Krankheit, um noch einmal Gadamer zu bemühen, ein sozialer Tatbestand ist. Sie verkennen die soziale Funktion des ärztlichen Berufs. Sie degradieren Kranke zu Objekten und Ärztinnen und Ärzte zu technischen Handlangern.

Das gilt besonders für die Vereinnahmung der evidence based medicine durch die Gesundheitsökonomie. Evidence based medicine im Sinne von David Sackett kann in der Tat eine wertvolle Hilfe für den Arzt sein. EBM als gesundheitsökonomisches Steuerungsinstrument, als Basis von versorgungsrelevanten, sanktionsbewehrten verbindlichen Diagnose- und Therapiestandards führt zu einer inhumanen, weil entindividualisierten Medizin, letztlich zu einer flächendeckenden allumfassenden Fehlversorgung sozialversicherter Patientinnen und Patienten.

Das kann und darf von der Ärzteschaft nicht akzeptiert werden.

(Beifall)

Die pseudowissenschaftlichen Experten, die uns auf diesen Weg führen wollen, sind in der Tat falsche Propheten. Man sollte ihnen die rote Karte zeigen oder ein Rückflugticket - one way! - nach Harvard spendieren!

(Beifall)

Der Arztberuf, meine Damen und Herren, verkommt mehr und mehr, wie Horst Baier es einmal ausgedrückt hat, zu einer Agentur für gesellschaftspolitische Zwecke. Unvoreingenommene Beobachter diagnostizieren seit langem eine zunehmende Entprofessionalisierung unseres Berufs. Ein Blick in das SGB V bestätigt diese Diagnose. Etwa die §§ 72, 92, 137 c, 137 e und 137 f bieten genügend geeignete Instrumente für verbindliche, letztlich rationierende Behandlungsstandards. Dort wird massiv in Kernbereiche ärztlicher Tätigkeit, in die ärztliche Behandlung eingegriffen. Nicht medizinisch-wissenschaftliche, sondern medizinisch-wirtschaftliche Standards sind gefragt. Ärztliches Berufsethos, nämlich dass der Arzt dem Patienten und niemandem sonst verpflichtet ist, wie die Interessen kranker, schwacher und hilfloser Menschen werden ausgerechnet im Sozialgesetzbuch vom Gesetzgeber massiv missachtet.

Es stellt sich die Frage: Warum dulden wir diese zunehmende Entprofessionalisierung und Degradierung unseres Berufsstands? Ist es nicht ein ausgesprochenes Armutszeugnis, dass wir uns zunehmend als Teil des GKV-Systems begreifen, dem - frei nach dem Motto "mitgefangen, mitgehangen" - gar keine andere Wahl bleibt, als Anhängsel und Ableger gesetzlicher Krankenkassen zu sein? Tragen wir durch unsere hilflose Akzeptanz einer normativen Kraft des vermeintlich Faktischen nicht Mitschuld daran, dass eine wahre Massenflucht aus unserem früher einmal schönen Beruf eingesetzt hat? Die Kolleginnen und Kollegen verabschieden sich doch, weil sie der zunehmenden Fremdbestimmung ihres Berufs entkommen wollen und anscheinend der eigenen Selbstverwaltung keine Widerstandskraft mehr zutrauen.

Müssen wir nicht die Frage stellen, ob die viel gepriesene gemeinsame Selbstverwaltung von GKV und Ärzteschaft eine Fiktion ist, eine Selbsttäuschung, weil sie - wie der allseits bekannte Rechtswissenschaftler Professor Taupitz kürzlich dargelegt hat - gar nicht funktionieren kann, da die Interessen der Beteiligten viel zu gegensätzlich sind?

Stimmt die sarkastische Prognose von Arnold? Er erklärt:

Das bisher leistungserbringerbestimmte System ist im Begriff, zu einem kostenträgerbestimmten System zu werden. Verbindliche Diagnose- und Therapierichtlinien sind goldene Regeln, weil sie von denen aufgestellt und durchgesetzt werden, die das "Gold" haben. Die ärztliche Behandlungsautonomie wird durch all dies geschwächt oder am Ende sogar aufgehoben.

Sind wir wirklich käuflich, korrupt? Sollten wir nicht wenigstens passiven Widerstand leisten, zum Beispiel indem wir den Menschen sagen, mit welcher Unverfrorenheit sie an der Nase herumgeführt werden? Warum beispielsweise sagen wir den Menschen nicht, was längst gesagt sein müsste, dass nämlich das ganze unsägliche Gedöns um § 137 f SGB V, die Disease-Management-Programme, ein Kümmelblättchen ist, Bauernfängerei, ein falsches Spiel?

(Beifall)

Warum sagen wir den Menschen nicht, dass die Verunglimpfung, in Deutschland würden chronisch Kranke generell schlecht versorgt, jeder beweiskräftigen Grundlage entbehrt, es sei denn, man sieht windige OECD-Statistiken als beweiskräftig an?

(Beifall)

Warum sagen wir den Menschen nicht, dass chronisch Kranke ebenso wie ihre Ärztinnen und Ärzte hier nur als Kulissen missbraucht werden, hinter denen man sehr große Geldsummen verschieben kann, natürlich im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit und im Namen des solidarischen Wettbewerbs?

(Beifall)

Warum sagen wir den Menschen nicht, dass sie selbstverständlich innerhalb wie außerhalb von Disease-Management-Programmen nach den jeweils aktuellen Regeln der ärztlichen Kunst behandelt werden - wenn es nach dem Willen der Ärzteschaft geht?

(Beifall)

Warum sagen wir den Menschen nicht, dass die Disease-Management-Programme deshalb in unserem Gesundheitssystem aus medizinischer Sicht überflüssig sind? Warum erklären wir nicht, dass es nur der Hartnäckigkeit der so genannten Leistungserbringer, besonders aber der Bundesärztekammer, zu verdanken ist, dass die aktuellen Disease-Management-Programme nicht hinter dem geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Standard zurückbleiben? Diese Gefahr bestand und besteht durchaus, wenn es nach dem Willen der Kostenträger geht.
Meine Damen und Herren, die Teilnahme an einem Disease-Management-Programm nach der Prägung von Ulla Schmidt kann nach meinem Eindruck eine schlechtere Versorgung bedeuten.

(Beifall)

Dies ist der Grund, warum die Bundesärztekammer die Schirmherrschaft über ein Nationales Leitlinienprogramm übernommen hat. Sie will verhindern, dass Patientinnen und Patienten in Disease-Management-Programmen nach Minimalstandards versorgt werden. Deshalb erarbeitet die ÄZQ im Auftrag der KBV und der Bundesärztekammer unter Leitung von Frau Kollegin Eberlein-Gonska auch ein "Curriculum strukturierte Behandlungsprogramme". Darin sollen die ärztlich verantwortbaren Rahmenbedingungen solcher Programme definiert werden.

Meine Damen und Herren, der Internist Victor von Weizsäcker hat vor fast 100 Jahren eine Habeas-Corpus-Akte für Patienten gefordert als eine Art Grundrecht für Kranke im Hinblick auf ihre alleinige, persönliche und individuelle Verfügungsmacht über Gesundheit und Krankheit. Ich denke, heutzutage benötigen Ärztinnen und Ärzte wie Patientinnen und Patienten eine solche Habeas-Corpus-Akte, die sie vor dem Zugriff moderner Sozialpolitik bewahrt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Lieber Fritz Kolkmann, ich bin jetzt richtig wissenschaftlich unterstützt und wissenschaftlich begleitet. Wir sind froh, dass wir die ganze Thematik so aufbereitet haben, dass wir die Situation so darstellen können, wie sie sich für uns auch vom Empfinden und von der inneren Überzeugung her darstellt, beim Einzelnen vielleicht erst etwas diffus, aber in der Ausprägung seiner Formulie-rungen genauer kanalisiert. Ich fand die zum Teil recht prägnanten Darstellun-gen der Situation äußerst wichtig, um noch einmal klar zu machen, in welche Situation wir geraten sind, indem wir beispielsweise Systeme anderer Länder nachäffen und meinen, damit für unser Land Gutes zu tun.

Ich bedanke mich nochmals herzlich für den exzellenten Vortrag von Fritz Kolkmann.

(Beifall)

Jetzt bin ich gespannt auf den Vortrag von Herrn Professor Encke, den Präsidenten der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften.

© 2002, Bundesärztekammer.