Prof. Dr. Encke, Referent:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Untertitel
des Tagesordnungspunktes II lautet: "Orientierung des Arztbildes
in einer sich wandelnden Gesellschaft". Der technische Fortschritt
und der Erkenntnisfortschritt der Medizin in Diagnostik und Therapie,
die nicht zuletzt damit verbundene demographische Entwicklung und
die weltweit notwendige Diskussion über die Finanzierbarkeit
bzw. Allokation der vorhandenen Ressourcen in den verschiedenen
Gesundheitssystemen haben zu einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung,
vorwiegend unter ökonomischen Aspekten, geführt. Politiker,
anerkannte und selbst ernannte Gesundheitsexperten, Kostenträger
und die so genannten Leistungserbringer vertreten unterschiedliche
Konzepte und Forderungen.
In dieser Situation fühlt sich die Ärzteschaft zu einer
Standortbestimmung des eigenen Berufsbildes verpflichtet. Die Bundesärztekammer
und die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften haben in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe den
Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag formuliert und darüber
hinaus wichtige Denkanstöße gegeben.
In meinem Referat gehe ich von folgenden Prämissen aus:
Erstens. Das Bild des Arztes, sein Selbstverständnis hat sich
in seiner grundsätzlichen ethischen Einstellung nicht verändert,
muss aber unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Ergänzung
erfahren.
Zweitens. Die Krankenbehandlung ist personenorientiert. Eine Krankheitsbehandlung
erfordert Regelkenntnisse. Die rasanten Fortschritte der Regelkenntnisse
drohen die Orientierung am Patienten zu verdrängen.
Drittens. Der Arzt erscheint nach wie vor als der geeignetste Anwalt
des akut, chronisch oder prospektiv erkrankten Menschen.
Viertens. Die ohne Zweifel notwendigen gesundheitsökonomischen
Überlegungen dürfen die primäre Bedeutung der Persönlichkeit
des Arztes in der Arzt-Patienten-Beziehung und das dringendste Anliegen
des Patienten - Hilfe, Heilung, zumindest Linderung der Beschwerden
- nicht verdrängen.
"Die Medizin wird Naturwissenschaft sein oder sie wird nicht
sein." Diesem, dem großen Straßburger Internisten
Bernhard Naunyn zugeschriebenen Zitat möchte ich eines des
Chirurgen Martin Kirschner hinzufügen: "Nicht die Operation,
sondern der Operateur rettet den Patienten."
Von meinem Vorredner Friedrich-Wilhelm Kolkmann haben Sie gehört,
dass die Medizin keine reine Naturwissenschaft, sondern eine empirisch
begründete Handlungswissenschaft ist, die sich komplexer wissenschaftlicher
Methoden bedient. Entscheidend ist das Primat einer wissenschaftlich
begründeten Medizin.
Die wissenschaftliche Chirurgie - mein eigenes Fachgebiet - begann
vor 150 Jahren mit Theodor Billroth, der im Jahre 1852 in Berlin
promovierte. Im gleichen Jahr schrieb die preußische Staatsregierung
per Gesetz die Gleichwertigkeit der Chirurgie mit anderen medizinischen
Fachgebieten fest. Der auch für den Laien sichtbare Siegeszug
der operativen Medizin führte einerseits zur "Überhöhung"
des Arztes, vor allen Dingen des Operateurs, andererseits in den
letzten Jahren zunehmend auch zur Kritik an dessen Autorität
und seiner ethischen Verlässlichkeit.
Derzeit überwiegen in den Medien Negativberichte und Kritik
am ärztlichen Handeln, in der Gesundheitspolitik Maßnahmen
zur Reduzierung bzw. stärkeren Kontrolle der ärztlichen
Berufsautonomie, innerärztlich ein hohes Maß an Berufsunzufriedenheit
und - besonders bedenklich - bei unserem ärztlichen Nachwuchs
die grundsätzliche Kritik an der ärztlichen Aus- und Weiterbildung
sowie ein schneller Verlust der idealistischen Berufsmotivation,
kranken Menschen helfen zu wollen.
Hierzu haben vor allem äußere Faktoren und Rahmenbedingungen
beigetragen: die Ausbeutung der ärztlichen Arbeitskraft auf
der einen und ein unsinniges Arbeitszeitgesetz auf der anderen Seite,
eine im Vergleich mit anderen Berufen unakzeptable Reduzierung der
Einkommenserwartung, eine Überfrachtung mit nicht ärztlichen
Aufgaben und Vorschriften, insbesondere im Bereich der bereits mehrfach
angesprochenen Dokumentation. Jürgen von Troschke spricht von
einer De-Professionalisierung des Arztberufes.
Die Fortschritte der Medizin in Diagnostik und Therapie bedingen,
dass Wissen von Spezialisten gebündelt werden muss, beispielsweise
durch Kompetenzzentren oder -netze, so in der Onkologie, der Gefäßmedizin,
der Transplantation und der Intensivmedizin, dass der Erkenntnisfortschritt
dem Patienten ohne Zeitverzug zugute kommen muss, der Patient vor
unnötigen, manchmal gefährlichen invasiven diagnostischen
und therapeutischen Eingriffen geschützt wird, und nicht zuletzt
sollen die Vorzüge unseres bisherigen sehr sozialen Gesundheitssystems
nicht durch vorwiegend gesundheitsökonomische Überlegungen
geopfert werden.
Der Internist Hans Peter Schuster hat die Ansprüche an das
Arztbild der Gegenwart in der angesprochenen Arbeitsgruppe von Bundesärztekammer
und AWMF treffend formuliert:
- Kompetenz in wissenschaftlicher Medizin
- Kompetenz durch Erfahrung
- Kompetenz durch persönliche Haltung und Zuwendung
- Selbstkritik und Verantwortung bezüglich des Risikos ärztlicher
Fehlentscheidungen
- Kompetenz als Anwalt des Patienten
- kommunikative Kompetenz
- Managementkompetenz in unmittelbaren und mittelbaren ärztlichen
Bereichen
Unabdingbar ist die Kompetenz des Arztes in wissenschaftlicher
Medizin durch den Erwerb fundierten eigenen Wissens, die Berücksichtigung
äußeren, evidenzbasierten Wissens und die Erhaltung der
Glaubwürdigkeit seiner Wissenskompetenz durch eine kontinuierliche,
meines Erachtens auch überprüfbare Fortbildung.
Unverzichtbar und ganz entscheidend für den Hilfe suchenden
Patienten ist die Kompetenz des Arztes durch seine Erfahrung, sein
handwerkliches Können, seine persönliche Haltung und seine
ärztliche Zuwendung. Der Hamburger Chirurg Hans-Wilhelm Schreiber
meint:
Ethik gründet sich auf die Definition des
Menschen als einem eigenständigen, einmaligen und unersetzlichen
Individuum mit einem persönlichen Sinn, mit eigenen Vorstellungen
vom Leben sowie einer eigenen unantastbaren Würde. Diese
ist unabhängig von Alter, Gesundheit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit,
Orientierung, Leistung und sozialem Umfeld.
Das in der Geschichte menschlicher Beziehungen einmalige Vertrauen,
das ein Kranker seinem Arzt und in den operativen Fächern insbesondere
dem Operateur entgegenbringt, muss durch ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein
erwidert werden. Der Kranke ist in seiner Entscheidung zu einem
Eingriff von dem Wissen, der Erfahrung, dem Können, der Persönlichkeit
und der kulturellen und gesellschaftlichen Einbindung des Arztes
abhängig. Er muss ihm vertrauen und eben dies kann er nur auf
der Basis der gemeinsamen Anerkennung verbindlicher Regeln.
Moderne Risikoeingriffe oder beispielsweise die Einleitung und Fortführung
einer intensivmedizinischen Behandlung machen es dabei für
die unmittelbar Beteiligten oft schwer, verlässliche Grenzen
zu erkennen, da die Maßstäbe ständig fortgeschrieben
werden. Was gestern noch als Grenzüberschreitung galt, ist
heute nicht selten bereits unerlässlicher Bestandteil eines
Erfolg versprechenden Therapiekonzepts.
Dennoch gilt unverändert: Es gibt keine Ausnahme von der ärztlichen
Ethik; und juristisch wiegt die voluntas aegroti als absolut verbindlich
und höher als das vom Arzt oder gar einer Institution eingeschätzte
salus aegroti. Ich erinnere an das gestrige Zitat aus der Rechtsverordnung
bezüglich der Disease-Management-Programme. Hier möchte
man in erschreckender Weise Einfluss von außen auf die Entscheidung
des Patienten nehmen.
Angesichts der technischen Möglichkeiten der modernen Medizin
hat die Ausbildung, vielleicht besser ausgedrückt: die Heranbildung
des jungen Arztes zu einer Arztpersönlichkeit, die sich ihrer
ethischen Verantwortung für den ihr anvertrauten individuellen
Patienten bewusst ist, auch in Zukunft unveränderte, vielleicht
sogar vermehrte Bedeutung. Ausbildung kann heute zum Teil in externen
Kursen und virtuell vermittelt werden; Bildung lebt vom Vorbild
des Lehrers und dem Austausch von Lehrer und Schüler - oder,
um der Forderung nach einer flachen Hierarchie zu genügen,
von Älteren und Jüngeren, aber auch das innerhalb einer
vernünftigen Hierarchie.
Die ärztliche Selbstkritik und die Übernahme der Verantwortung
bezüglich des Risikos ärztlicher Fehlentscheidungen ist
unverändert bedeutsam und angesichts der Chancen, aber auch
der Risiken der modernen Medizin ebenfalls ein wichtiger Teil ärztlicher
Kompetenz. In den USA kommen pro Jahr zwischen 50 000 und 90 000
Menschen durch Behandlungsfehler zu Tode und eine sehr viel größere
Zahl zu Schaden. Zahlen aus Deutschland sind mir nicht bekannt.
Dies haben wir bei unserem Arztbild in der modernen Medizin mit
zu gewärtigen.
Ärztinnen und Ärzte sind der geeignetste Anwalt des individuellen
Patienten, tragen aber durch ihre Mitwirkung bei der Aufteilung
verfügbarer Ressourcen auch eine hohe allgemeine Verantwortung.
Wir dürfen einerseits keine qualitätsgefährdenden
Kompromisse bei der Behandlungen des Einzelnen oder auch bei der
Erstellung von "Leitlinien" eingehen, müssen aber
vernünftige Kostenaspekte gegenüber der Solidargemeinschaft
aller Krankenversicherten sehr wohl berücksichtigen. Der erste
Satz unserer Berufsordnung lautet nämlich:
Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen
und des gesamten Volkes.
Kommunikation und Management haben in den letzten Jahren eine Ausweitung
und Aufwertung erfahren und bedingen in der Tat auch eine wichtige
Ergänzung des modernen Arztbildes. Der Patient hat ein Anrecht
auf interdisziplinäre ärztliche Kompetenz, Konsens und
Kontinuität seiner Behandlung und dies erfordert Kommunikation.
Krankheitsorientierte Leitlinien und Kompetenzzentren oder -netze
sind eine legitime Forderung der Gesellschaft, müssen aber
durch die Ärzteschaft wissenschaftlich definiert und ausgefüllt
werden. Die kompetente Kommunikation mit anderen Gesundheitsberufen,
Selbsthilfegruppen, der nicht ärztlichen Öffentlichkeit,
insbesondere der Politik, ist für alle Beteiligten unabdingbar.
Als Negativbeispiel möchte ich das eklatante Auseinanderdriften
von ärztlicher Tätigkeit und Pflege nennen, als positives
Beispiel die heute deutlich engere Kooperation zwischen Ärzteschaft
und Administration im Krankenhaus.
Zuletzt zur besonderen Managementfunktion des Arztes einschließlich
der notwendigen Eigenverantwortung, beispielsweise für ein
Qualitätsmanagement, einen Informationsaustausch, die ärztliche
und nicht ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung und anderes.
Wer gesellschaftliche Ressourcen verbraucht, hat der Gesellschaft
gegenüber auch eine Pflicht zur Qualitätssicherung. Ältere
Kolleginnen und Kollegen werden mir entgegenhalten: Haben wir diese
Anforderungen an das ärztliche Profil nicht immer schon nach
bestem Wissen und Gewissen erfüllt? Hierzu möchte ich
sagen: im Kern ja, aber seien wir ehrlich, die Realität vor
Ort sieht nicht immer so aus.
Herr Kolkmann hat in seinem Referat die Überflutung und Behinderung
der ärztlichen Tätigkeit durch Empfehlungen, Leitlinien,
Richtlinien, Standards, medizinische Ratschläge nicht ärztlich
tätiger Gesundheitsexperten, überzogene Forderungen bzw.
Einschränkungen der Kostenträger und eine hektische, ideologielastige,
wahltaktische Gesundheitspolitik mit deutlichen Nachteilen für
die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, aber dennoch keinen
echten Einspareffekten, in den Vordergrund gestellt. Die eigene
Teilnahme an einer der Arbeitsgruppen des Runden Tisches im Gesundheitswesen,
der gestern von der Ministerin in ihrer Begrüßungsansprache
so gelobt wurde, hat mir die Schwierigkeiten und Unmöglichkeit
eines vernünftigen Konsenses vor Augen geführt. Besonders
berührt hat mich, dass der Vorschlag der Arbeitsgruppe II "Zukunft
im Krankenhaus" mit 19 Punkten, mit Konsens und Dissens, vom
Runden Tisch gar nicht zur Verhandlung akzeptiert, sondern mit der
Bemerkung zurückgegeben wurde, man möge ihn ändern.
Sie stimmen sicher mit Herrn Kolkmann und mir überein, dass
jede ärztliche Tätigkeit und jede medizinische Maßnahme
primär auf wissenschaftlicher Basis erfolgen muss. Ich hoffe,
dass Sie mit mir auch darin übereinstimmen, dass der wissenschaftliche
Standard der Medizin durch die medizinischen Fachgesellschaften
definiert werden muss. Die ärztlichen und nicht ärztlichen
Körperschaften des öffentlichen Rechts müssen sich
der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Fachgesellschaften bedienen,
sie allerdings auf ihre Praxistauglichkeit gegebenenfalls überprüfen,
dürfen sich aber in der Empfehlung von diagnostischen und therapeutischen
Maßnahmen grundsätzlich nicht über die wissenschaftlichen
Erkenntnisse hinwegsetzen. Dabei setze ich voraus, dass der weltweite
Erkenntnisfortschritt in den wissenschaftlichen Fachgesellschaften
zur Verfügung steht und berücksichtigt wird.
Die von den wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften
unter Leitung der AWMF seit 1994 auf Anregung des Sachverständigenrats
für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen erarbeiteten
und methodisch ständig weiter entwickelten "Medizinischen
Leitlinien" werden häufig von äußeren "Experten"
in Zweifel gezogen oder um der schnellen Einführung gesetzlicher
Bestimmungen und mutmaßlicher Kosteneinsparungen bei den Krankenkassen
willen inhaltlich verfälscht. Lauterbach und Mitarbeiter bescheinigen
dem deutschen Gesundheitssystem zwar durchaus Vorteile, empfehlen
aber aus gesundheitsökonomischen und gesundheitspolitischen
Gründen die beliebige Übernahme von passenden "Leitlinien"
aus anderen Ländern. Die Gesundheitsministerin möchte
schließlich Ärzte und Krankenkassen von der Erstellung
von Leitlinien ganz ausschließen und diese Aufgabe einem Nationalen
Institut übertragen; so auf dem Gesundheitspolitischen Wahlparteitag
der SPD im April 2002.
Die Hinzufügung der evidence based medicine (EBM), einer attraktiven
Wissenschaftshypothese, hat die Problematik noch verschärft.
Herr Kolkmann ist auf die Definition und den Gewinn durch evidenzbasierte
Leitlinien bereits eingegangen. Wir alle wissen, dass ein nicht
geringer Anteil von Erkrankungen durch evidenzbasierte Leitlinien
nicht abgebildet werden kann. Gerade in den operativen Fächern
wäre die Einführung neuer Operationsmethoden oder Indikationen
wie beispielsweise die heute in 80 Prozent der Fälle mögliche
konservative Behandlung von stumpfen parenchymatösen Organverletzungen
mithilfe klinischer Studien überhaupt nicht möglich gewesen.
Die AWMF hat die Anregung des Sachverständigenrats aufgenommen
und mithilfe einer kompetenten Leitlinienkommission eine Methodik
zu deren Erstellung erarbeitet, deren Einhaltung aus wissenschaftlicher
und ärztlicher Sicht für alle "Leitlinien" gilt.
Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung
haben parallel dazu die Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssicherung
als Clearingstelle für die Praxis geschaffen. An dieser Stelle
möchte ich den beiden Moderatoren Wilfried Lorenz für
die AWMF und Günther Ollenschläger für die ÄZQ
für ihr Engagement und ihre Kooperation zwischen Ärztekammer
und wissenschaftlichen Fachgesellschaften ausdrücklich danken.
(Beifall)
Die individuelle Behandlung von Patienten und die Anwendung wissenschaftlich
begründeter Leitlinien sind keine Gegensätze, sondern
müssen sinnvoll miteinander verbunden werden. Die Berücksichtigung
der evidence based medicine in ihrer ursprünglichen Bedeutung
kann dabei durchaus hilfreich sein. Kern der evidence based medicine
ist die Nutzung der bestmöglichen Evidenz äußeren
Wissens für die Behandlung des individuellen Patienten. Dabei
muss dringend angemerkt werden, dass die EBM nicht allein mit klinischen
Studien gleichgesetzt werden darf, dass die EBM durch die Praxis
bedingt verschiedene Evidenzgrade berücksichtigen muss und
dass je nach Krankheitsbild auch Leitlinien mit geringerer Evidenz,
aber kompetentem Expertenwissen in der Praxis sehr hilfreich oder
gar der einzige Weg sein können.
Leitlinien sind keine Richtlinien oder Standards. Sie dürfen
nicht ohne wissenschaftliche Überprüfung von einzelnen
Partnern des Gesundheitssystems je nach Beliebigkeit gebraucht oder
missbraucht werden. Die vorschnelle Verankerung derartiger Begriffe
in Gesetzestexte - in der Regel nach Anhörung von Interessenvertretern,
aber nicht von anerkannten ärztlichen Wissenschaftlern -, die
Androhung, gegebenenfalls Leitlinien außerhalb unseres Landes
"einzukaufen", oder gar die politische Androhung, die
Erstellung von Leitlinien den Ärzten und Krankenkassen zu entziehen,
ist aus der Sicht der Ärzteschaft und der medizinisch-wissenschaftlichen
Fachgesellschaften völlig inakzeptabel.
(Beifall)
Hier haben wir eine Aufklärungspflicht gegenüber der
Öffentlichkeit und den erkrankten Menschen. Diese wollen nämlich
nicht als Kunden wirtschaftlich erfolgreich operierender Krankenhausträger
oder Krankenkassen noch als attraktive oder unattraktive DRG-Fälle
missbraucht, sondern unter Berücksichtigung des aktuellen Standes
wissenschaftlicher Erkenntnisse mit ihrem individuellen Krankheitsbild
behandelt werden. Die Bundesärztekammer hat mit dem Angebot
eines "Nationalen Leitlinienprogramms" unter Einbindung
der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften einen vernünftigen
Vorschlag gemacht. Beide, Bundesärztekammer und AWMF, haben
bei der unter Zeitdruck erfolgten Erstellung nationaler Leitlinien
für die ersten vier Krankheitsbilder des Disease-Management-Programms
aus meiner Sicht ihre schnelle und flexible Kompromissbereitschaft
auf dem Boden wissenschaftlicher Daten unter Beweis gestellt. Sie
halten die erste Ausgabe hinsichtlich des Diabetes II frisch in
den Händen. Sie können heute in der "Frankfurter
Allgemeinen Zeitung" lesen, dass offenbar die Öffentlichkeit
nicht klar differenzieren kann zwischen einem solchen nationalen,
ärztlich untermauerten Programm und dem vom Koordinierungsausschuss
verordneten Minimalprogramm. Ich glaube, hierauf müssen wir
zukünftig in der Öffentlichkeit deutlich hinweisen. Wenn
die Ärzteschaft - damit meine ich auch die verschiedenen Spezialisten;
diese unter einen Hut zu bringen ist innerhalb der Fachgesellschaften,
wie Sie alle wissen, nicht immer leicht - sich in den grundsätzlichen
Empfehlungen eines solchen Programms einig ist, dürften wir
keine Schwierigkeit haben, dies gegenüber allen anderen Interessenvertretern
durchzusetzen.
Von der Politik und den Kostenträgern erwarten wir darüber
hinaus noch ein klares Bekenntnis zur Finanzierung derartiger Leitlinienprogramme,
die bisher überhaupt nicht geklärt ist.
Lassen Sie mich als zweites Beispiel der Veränderung des Arztbildes
auf den gegenwärtigen Nachwuchsmangel eingehen. Durch Erhebungen
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wissen wir, dass die
Zahl der Medizinstudenten bei konstanter Zahl von Studienanfängern
in den letzten sieben Jahren um 11,3 Prozent zurückgegangen
ist. Die Zahl der Absolventen des Medizinstudiums ist in den letzten
sechs Jahren um 23 Prozent gesunken. Die Zahl der Studienabbrecher
bzw. Studienplatzwechsler ist steigend. Die Zahl der Ärzte
im Praktikum hat zwischen 1994 und 2000 um ein Viertel abgenommen,
die Zahl der Approbationen im gleichen Zeitraum um 22 Prozent.
Auch unter den Ärzten mit abgeschlossener Ausbildung (Approbation)
ist eine zunehmende Abwanderung von Ärztinnen und Ärzte
in nicht ärztliche Tätigkeiten oder in das Ausland zu
registrieren. Dies trifft in besonderer Weise die operativen Fächer.
Die Gründe für berufliche Alternativen von Absolventen
des Medizinstudiums sollten uns zu denken geben: die Arbeitszeit,
das Arbeitszeitgesetz, die mangelhafte Strukturierung der studentischen
Ausbildung und der Facharztweiterbildung. Letztere wird in der Regel
nicht als Bildungsordnung aufgefasst, sondern als Strukturordnung
von den verschiedenen Interessenvertretern missbraucht. Zu nennen
sind ferner Kurzzeitverträge, unattraktive Endpositionen, nicht
ärztliche Tätigkeiten, insbesondere im Bereich der Dokumentation,
die niedrige Einkommenserwartung und die veränderten Ansprüche
unserer Gesellschaft - auch der Ärzte - an die Lebensqualität.
Alle diese Themen müssen dringend angegangen werden, um das
zukünftige Arztbild für unsere nachrückenden Kollegen,
hier vor allen Dingen für die Hälfte, nämlich unsere
Kolleginnen mit ihrer besonderen Problematik zwischen Beruf und
Familie, wieder attraktiv erscheinen zu lassen.
Ich fasse zusammen: Die ethischen Grundwerte des Arztbildes - Wissenschaftlichkeit,
Erfahrung, persönliche Haltung und menschliche Zuneigung -
haben einen unverändert hohen Stellenwert. Die Berücksichtigung
der Entwicklung der modernen Medizin und die Erwartungen unserer
Gesellschaft erfordern aber zusätzliche Qualifikationen: die
Überprüfung und Erhaltung fundierten wissenschaftlichen
Wissens, eine kommunikative Kompetenz über das direkte Arzt-Patienten-Verhältnis
hinaus, die Gewährleistung einer medizinischen Qualitätssicherung
und eine Managementkompetenz, die nicht zuletzt auch wirtschaftliche
Überlegungen für die Solidargemeinschaft ernst nimmt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank, Herr Kollege Encke, für Ihren Vortrag. Vielen
Dank auch dafür, dass Sie trotz Ihrer Infektion der Stimmbänder
so durchgehalten haben und uns auch weiterhin zur Verfügung
stehen. Ich glaube, wir sollten würdigen, dass es eine Premiere
ist, dass der Deutsche Ärztetag und die Arbeitsgemeinschaft
der Medizinischen Wissenschaftlichen Fachgesellschaften zu einem
gemeinsamen Thema zusammengekommen sind und so weitgehend übereinstimmend
die Probleme unseres Berufes sehen. Das ist durch die beiden Vorträge
klar zum Ausdruck gekommen. Ich bedanke mich sehr herzlich, weil
das für unsere Arbeit in den nächsten Monaten und einigen
Jahren die Grundlage sein wird, vieles von dem, was verloren gegangen
ist, in neuer Form zurückzuerobern. Dieser Aufgabe hat sich
übrigens früher schon einmal der bereits an-gesprochene
Murrhardter Kreis gestellt; heute geschieht das in einer wesentlich
erweiterten Form.
Nochmals vielen herzlichen Dank beiden Referenten.
(Beifall)
Ohne diese Basierung wäre die nun folgende Diskussion nicht
möglich.
Bevor ich in der Diskussion den ersten Redner aufrufe, darf ich
zunächst Herrn Kollegen Oesingmann herzlich begrüßen.
Er ist hier als Präsident des Bundesverbandes der Freien Berufe.
(Beifall)
Unter uns ist auch Herr Dr. Resnikov. Er stammt aus Russland, lebt
aber in Deutschland und ist für uns ein wichtiger Verbindungsmann,
wenn wir Verbindungen in die Russische Föderation aufnehmen
wollen oder wenn aus der Russischen Föderation der Wunsch besteht,
nach Deutschland Verbindungen aufzunehmen. Die Politik der Russischen
Föderation - einschließlich der Regierung - interessiert
sich sehr intensiv dafür, mit der deutschen Ärzteschaft
in Gestalt der Bundesärztekammer Kontakt aufzunehmen, beinahe
mehr als mit dem Ministerium. Herzlichen Dank, Herr Kollege Resnikov!
Er ist sozusagen der Transmissionsriemen.
(Beifall)
Zu Tagesordnungspunkt II liegen bisher insgesamt drei Anträge
vor. Wir kommen jetzt zur Diskussion. Der erste Redner ist Herr
Kollege Jonitz, Präsident der Landesärztekammer Berlin.
Bitte schön.
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