TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Encke, Referent:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Untertitel des Tagesordnungspunktes II lautet: "Orientierung des Arztbildes in einer sich wandelnden Gesellschaft". Der technische Fortschritt und der Erkenntnisfortschritt der Medizin in Diagnostik und Therapie, die nicht zuletzt damit verbundene demographische Entwicklung und die weltweit notwendige Diskussion über die Finanzierbarkeit bzw. Allokation der vorhandenen Ressourcen in den verschiedenen Gesundheitssystemen haben zu einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung, vorwiegend unter ökonomischen Aspekten, geführt. Politiker, anerkannte und selbst ernannte Gesundheitsexperten, Kostenträger und die so genannten Leistungserbringer vertreten unterschiedliche Konzepte und Forderungen.

In dieser Situation fühlt sich die Ärzteschaft zu einer Standortbestimmung des eigenen Berufsbildes verpflichtet. Die Bundesärztekammer und die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften haben in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe den Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag formuliert und darüber hinaus wichtige Denkanstöße gegeben.

In meinem Referat gehe ich von folgenden Prämissen aus:

Erstens. Das Bild des Arztes, sein Selbstverständnis hat sich in seiner grundsätzlichen ethischen Einstellung nicht verändert, muss aber unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Ergänzung erfahren.

Zweitens. Die Krankenbehandlung ist personenorientiert. Eine Krankheitsbehandlung erfordert Regelkenntnisse. Die rasanten Fortschritte der Regelkenntnisse drohen die Orientierung am Patienten zu verdrängen.

Drittens. Der Arzt erscheint nach wie vor als der geeignetste Anwalt des akut, chronisch oder prospektiv erkrankten Menschen.

Viertens. Die ohne Zweifel notwendigen gesundheitsökonomischen Überlegungen dürfen die primäre Bedeutung der Persönlichkeit des Arztes in der Arzt-Patienten-Beziehung und das dringendste Anliegen des Patienten - Hilfe, Heilung, zumindest Linderung der Beschwerden - nicht verdrängen.

"Die Medizin wird Naturwissenschaft sein oder sie wird nicht sein." Diesem, dem großen Straßburger Internisten Bernhard Naunyn zugeschriebenen Zitat möchte ich eines des Chirurgen Martin Kirschner hinzufügen: "Nicht die Operation, sondern der Operateur rettet den Patienten."
Von meinem Vorredner Friedrich-Wilhelm Kolkmann haben Sie gehört, dass die Medizin keine reine Naturwissenschaft, sondern eine empirisch begründete Handlungswissenschaft ist, die sich komplexer wissenschaftlicher Methoden bedient. Entscheidend ist das Primat einer wissenschaftlich begründeten Medizin.

Die wissenschaftliche Chirurgie - mein eigenes Fachgebiet - begann vor 150 Jahren mit Theodor Billroth, der im Jahre 1852 in Berlin promovierte. Im gleichen Jahr schrieb die preußische Staatsregierung per Gesetz die Gleichwertigkeit der Chirurgie mit anderen medizinischen Fachgebieten fest. Der auch für den Laien sichtbare Siegeszug der operativen Medizin führte einerseits zur "Überhöhung" des Arztes, vor allen Dingen des Operateurs, andererseits in den letzten Jahren zunehmend auch zur Kritik an dessen Autorität und seiner ethischen Verlässlichkeit.

Derzeit überwiegen in den Medien Negativberichte und Kritik am ärztlichen Handeln, in der Gesundheitspolitik Maßnahmen zur Reduzierung bzw. stärkeren Kontrolle der ärztlichen Berufsautonomie, innerärztlich ein hohes Maß an Berufsunzufriedenheit und - besonders bedenklich - bei unserem ärztlichen Nachwuchs die grundsätzliche Kritik an der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sowie ein schneller Verlust der idealistischen Berufsmotivation, kranken Menschen helfen zu wollen.

Hierzu haben vor allem äußere Faktoren und Rahmenbedingungen beigetragen: die Ausbeutung der ärztlichen Arbeitskraft auf der einen und ein unsinniges Arbeitszeitgesetz auf der anderen Seite, eine im Vergleich mit anderen Berufen unakzeptable Reduzierung der Einkommenserwartung, eine Überfrachtung mit nicht ärztlichen Aufgaben und Vorschriften, insbesondere im Bereich der bereits mehrfach angesprochenen Dokumentation. Jürgen von Troschke spricht von einer De-Professionalisierung des Arztberufes.

Die Fortschritte der Medizin in Diagnostik und Therapie bedingen, dass Wissen von Spezialisten gebündelt werden muss, beispielsweise durch Kompetenzzentren oder -netze, so in der Onkologie, der Gefäßmedizin, der Transplantation und der Intensivmedizin, dass der Erkenntnisfortschritt dem Patienten ohne Zeitverzug zugute kommen muss, der Patient vor unnötigen, manchmal gefährlichen invasiven diagnostischen und therapeutischen Eingriffen geschützt wird, und nicht zuletzt sollen die Vorzüge unseres bisherigen sehr sozialen Gesundheitssystems nicht durch vorwiegend gesundheitsökonomische Überlegungen geopfert werden.

Der Internist Hans Peter Schuster hat die Ansprüche an das Arztbild der Gegenwart in der angesprochenen Arbeitsgruppe von Bundesärztekammer und AWMF treffend formuliert:

- Kompetenz in wissenschaftlicher Medizin
- Kompetenz durch Erfahrung
- Kompetenz durch persönliche Haltung und Zuwendung
- Selbstkritik und Verantwortung bezüglich des Risikos ärztlicher
Fehlentscheidungen
- Kompetenz als Anwalt des Patienten
- kommunikative Kompetenz
- Managementkompetenz in unmittelbaren und mittelbaren ärztlichen Bereichen

Unabdingbar ist die Kompetenz des Arztes in wissenschaftlicher Medizin durch den Erwerb fundierten eigenen Wissens, die Berücksichtigung äußeren, evidenzbasierten Wissens und die Erhaltung der Glaubwürdigkeit seiner Wissenskompetenz durch eine kontinuierliche, meines Erachtens auch überprüfbare Fortbildung.

Unverzichtbar und ganz entscheidend für den Hilfe suchenden Patienten ist die Kompetenz des Arztes durch seine Erfahrung, sein handwerkliches Können, seine persönliche Haltung und seine ärztliche Zuwendung. Der Hamburger Chirurg Hans-Wilhelm Schreiber meint:

Ethik gründet sich auf die Definition des Menschen als einem eigenständigen, einmaligen und unersetzlichen Individuum mit einem persönlichen Sinn, mit eigenen Vorstellungen vom Leben sowie einer eigenen unantastbaren Würde. Diese ist unabhängig von Alter, Gesundheit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Orientierung, Leistung und sozialem Umfeld.

Das in der Geschichte menschlicher Beziehungen einmalige Vertrauen, das ein Kranker seinem Arzt und in den operativen Fächern insbesondere dem Operateur entgegenbringt, muss durch ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein erwidert werden. Der Kranke ist in seiner Entscheidung zu einem Eingriff von dem Wissen, der Erfahrung, dem Können, der Persönlichkeit und der kulturellen und gesellschaftlichen Einbindung des Arztes abhängig. Er muss ihm vertrauen und eben dies kann er nur auf der Basis der gemeinsamen Anerkennung verbindlicher Regeln.

Moderne Risikoeingriffe oder beispielsweise die Einleitung und Fortführung einer intensivmedizinischen Behandlung machen es dabei für die unmittelbar Beteiligten oft schwer, verlässliche Grenzen zu erkennen, da die Maßstäbe ständig fortgeschrieben werden. Was gestern noch als Grenzüberschreitung galt, ist heute nicht selten bereits unerlässlicher Bestandteil eines Erfolg versprechenden Therapiekonzepts.

Dennoch gilt unverändert: Es gibt keine Ausnahme von der ärztlichen Ethik; und juristisch wiegt die voluntas aegroti als absolut verbindlich und höher als das vom Arzt oder gar einer Institution eingeschätzte salus aegroti. Ich erinnere an das gestrige Zitat aus der Rechtsverordnung bezüglich der Disease-Management-Programme. Hier möchte man in erschreckender Weise Einfluss von außen auf die Entscheidung des Patienten nehmen.

Angesichts der technischen Möglichkeiten der modernen Medizin hat die Ausbildung, vielleicht besser ausgedrückt: die Heranbildung des jungen Arztes zu einer Arztpersönlichkeit, die sich ihrer ethischen Verantwortung für den ihr anvertrauten individuellen Patienten bewusst ist, auch in Zukunft unveränderte, vielleicht sogar vermehrte Bedeutung. Ausbildung kann heute zum Teil in externen Kursen und virtuell vermittelt werden; Bildung lebt vom Vorbild des Lehrers und dem Austausch von Lehrer und Schüler - oder, um der Forderung nach einer flachen Hierarchie zu genügen, von Älteren und Jüngeren, aber auch das innerhalb einer vernünftigen Hierarchie.

Die ärztliche Selbstkritik und die Übernahme der Verantwortung bezüglich des Risikos ärztlicher Fehlentscheidungen ist unverändert bedeutsam und angesichts der Chancen, aber auch der Risiken der modernen Medizin ebenfalls ein wichtiger Teil ärztlicher Kompetenz. In den USA kommen pro Jahr zwischen 50 000 und 90 000 Menschen durch Behandlungsfehler zu Tode und eine sehr viel größere Zahl zu Schaden. Zahlen aus Deutschland sind mir nicht bekannt. Dies haben wir bei unserem Arztbild in der modernen Medizin mit zu gewärtigen.

Ärztinnen und Ärzte sind der geeignetste Anwalt des individuellen Patienten, tragen aber durch ihre Mitwirkung bei der Aufteilung verfügbarer Ressourcen auch eine hohe allgemeine Verantwortung. Wir dürfen einerseits keine qualitätsgefährdenden Kompromisse bei der Behandlungen des Einzelnen oder auch bei der Erstellung von "Leitlinien" eingehen, müssen aber vernünftige Kostenaspekte gegenüber der Solidargemeinschaft aller Krankenversicherten sehr wohl berücksichtigen. Der erste Satz unserer Berufsordnung lautet nämlich:

Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes.

Kommunikation und Management haben in den letzten Jahren eine Ausweitung und Aufwertung erfahren und bedingen in der Tat auch eine wichtige Ergänzung des modernen Arztbildes. Der Patient hat ein Anrecht auf interdisziplinäre ärztliche Kompetenz, Konsens und Kontinuität seiner Behandlung und dies erfordert Kommunikation. Krankheitsorientierte Leitlinien und Kompetenzzentren oder -netze sind eine legitime Forderung der Gesellschaft, müssen aber durch die Ärzteschaft wissenschaftlich definiert und ausgefüllt werden. Die kompetente Kommunikation mit anderen Gesundheitsberufen, Selbsthilfegruppen, der nicht ärztlichen Öffentlichkeit, insbesondere der Politik, ist für alle Beteiligten unabdingbar. Als Negativbeispiel möchte ich das eklatante Auseinanderdriften von ärztlicher Tätigkeit und Pflege nennen, als positives Beispiel die heute deutlich engere Kooperation zwischen Ärzteschaft und Administration im Krankenhaus.

Zuletzt zur besonderen Managementfunktion des Arztes einschließlich der notwendigen Eigenverantwortung, beispielsweise für ein Qualitätsmanagement, einen Informationsaustausch, die ärztliche und nicht ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung und anderes. Wer gesellschaftliche Ressourcen verbraucht, hat der Gesellschaft gegenüber auch eine Pflicht zur Qualitätssicherung. Ältere Kolleginnen und Kollegen werden mir entgegenhalten: Haben wir diese Anforderungen an das ärztliche Profil nicht immer schon nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt? Hierzu möchte ich sagen: im Kern ja, aber seien wir ehrlich, die Realität vor Ort sieht nicht immer so aus.

Herr Kolkmann hat in seinem Referat die Überflutung und Behinderung der ärztlichen Tätigkeit durch Empfehlungen, Leitlinien, Richtlinien, Standards, medizinische Ratschläge nicht ärztlich tätiger Gesundheitsexperten, überzogene Forderungen bzw. Einschränkungen der Kostenträger und eine hektische, ideologielastige, wahltaktische Gesundheitspolitik mit deutlichen Nachteilen für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, aber dennoch keinen echten Einspareffekten, in den Vordergrund gestellt. Die eigene Teilnahme an einer der Arbeitsgruppen des Runden Tisches im Gesundheitswesen, der gestern von der Ministerin in ihrer Begrüßungsansprache so gelobt wurde, hat mir die Schwierigkeiten und Unmöglichkeit eines vernünftigen Konsenses vor Augen geführt. Besonders berührt hat mich, dass der Vorschlag der Arbeitsgruppe II "Zukunft im Krankenhaus" mit 19 Punkten, mit Konsens und Dissens, vom Runden Tisch gar nicht zur Verhandlung akzeptiert, sondern mit der Bemerkung zurückgegeben wurde, man möge ihn ändern.

Sie stimmen sicher mit Herrn Kolkmann und mir überein, dass jede ärztliche Tätigkeit und jede medizinische Maßnahme primär auf wissenschaftlicher Basis erfolgen muss. Ich hoffe, dass Sie mit mir auch darin übereinstimmen, dass der wissenschaftliche Standard der Medizin durch die medizinischen Fachgesellschaften definiert werden muss. Die ärztlichen und nicht ärztlichen Körperschaften des öffentlichen Rechts müssen sich der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Fachgesellschaften bedienen, sie allerdings auf ihre Praxistauglichkeit gegebenenfalls überprüfen, dürfen sich aber in der Empfehlung von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen grundsätzlich nicht über die wissenschaftlichen Erkenntnisse hinwegsetzen. Dabei setze ich voraus, dass der weltweite Erkenntnisfortschritt in den wissenschaftlichen Fachgesellschaften zur Verfügung steht und berücksichtigt wird.

Die von den wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften unter Leitung der AWMF seit 1994 auf Anregung des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen erarbeiteten und methodisch ständig weiter entwickelten "Medizinischen Leitlinien" werden häufig von äußeren "Experten" in Zweifel gezogen oder um der schnellen Einführung gesetzlicher Bestimmungen und mutmaßlicher Kosteneinsparungen bei den Krankenkassen willen inhaltlich verfälscht. Lauterbach und Mitarbeiter bescheinigen dem deutschen Gesundheitssystem zwar durchaus Vorteile, empfehlen aber aus gesundheitsökonomischen und gesundheitspolitischen Gründen die beliebige Übernahme von passenden "Leitlinien" aus anderen Ländern. Die Gesundheitsministerin möchte schließlich Ärzte und Krankenkassen von der Erstellung von Leitlinien ganz ausschließen und diese Aufgabe einem Nationalen Institut übertragen; so auf dem Gesundheitspolitischen Wahlparteitag der SPD im April 2002.

Die Hinzufügung der evidence based medicine (EBM), einer attraktiven Wissenschaftshypothese, hat die Problematik noch verschärft. Herr Kolkmann ist auf die Definition und den Gewinn durch evidenzbasierte Leitlinien bereits eingegangen. Wir alle wissen, dass ein nicht geringer Anteil von Erkrankungen durch evidenzbasierte Leitlinien nicht abgebildet werden kann. Gerade in den operativen Fächern wäre die Einführung neuer Operationsmethoden oder Indikationen wie beispielsweise die heute in 80 Prozent der Fälle mögliche konservative Behandlung von stumpfen parenchymatösen Organverletzungen mithilfe klinischer Studien überhaupt nicht möglich gewesen.

Die AWMF hat die Anregung des Sachverständigenrats aufgenommen und mithilfe einer kompetenten Leitlinienkommission eine Methodik zu deren Erstellung erarbeitet, deren Einhaltung aus wissenschaftlicher und ärztlicher Sicht für alle "Leitlinien" gilt.

Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung haben parallel dazu die Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssicherung als Clearingstelle für die Praxis geschaffen. An dieser Stelle möchte ich den beiden Moderatoren Wilfried Lorenz für die AWMF und Günther Ollenschläger für die ÄZQ für ihr Engagement und ihre Kooperation zwischen Ärztekammer und wissenschaftlichen Fachgesellschaften ausdrücklich danken.

(Beifall)

Die individuelle Behandlung von Patienten und die Anwendung wissenschaftlich begründeter Leitlinien sind keine Gegensätze, sondern müssen sinnvoll miteinander verbunden werden. Die Berücksichtigung der evidence based medicine in ihrer ursprünglichen Bedeutung kann dabei durchaus hilfreich sein. Kern der evidence based medicine ist die Nutzung der bestmöglichen Evidenz äußeren Wissens für die Behandlung des individuellen Patienten. Dabei muss dringend angemerkt werden, dass die EBM nicht allein mit klinischen Studien gleichgesetzt werden darf, dass die EBM durch die Praxis bedingt verschiedene Evidenzgrade berücksichtigen muss und dass je nach Krankheitsbild auch Leitlinien mit geringerer Evidenz, aber kompetentem Expertenwissen in der Praxis sehr hilfreich oder gar der einzige Weg sein können.

Leitlinien sind keine Richtlinien oder Standards. Sie dürfen nicht ohne wissenschaftliche Überprüfung von einzelnen Partnern des Gesundheitssystems je nach Beliebigkeit gebraucht oder missbraucht werden. Die vorschnelle Verankerung derartiger Begriffe in Gesetzestexte - in der Regel nach Anhörung von Interessenvertretern, aber nicht von anerkannten ärztlichen Wissenschaftlern -, die Androhung, gegebenenfalls Leitlinien außerhalb unseres Landes "einzukaufen", oder gar die politische Androhung, die Erstellung von Leitlinien den Ärzten und Krankenkassen zu entziehen, ist aus der Sicht der Ärzteschaft und der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften völlig inakzeptabel.

(Beifall)

Hier haben wir eine Aufklärungspflicht gegenüber der Öffentlichkeit und den erkrankten Menschen. Diese wollen nämlich nicht als Kunden wirtschaftlich erfolgreich operierender Krankenhausträger oder Krankenkassen noch als attraktive oder unattraktive DRG-Fälle missbraucht, sondern unter Berücksichtigung des aktuellen Standes wissenschaftlicher Erkenntnisse mit ihrem individuellen Krankheitsbild behandelt werden. Die Bundesärztekammer hat mit dem Angebot eines "Nationalen Leitlinienprogramms" unter Einbindung der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Beide, Bundesärztekammer und AWMF, haben bei der unter Zeitdruck erfolgten Erstellung nationaler Leitlinien für die ersten vier Krankheitsbilder des Disease-Management-Programms aus meiner Sicht ihre schnelle und flexible Kompromissbereitschaft auf dem Boden wissenschaftlicher Daten unter Beweis gestellt. Sie halten die erste Ausgabe hinsichtlich des Diabetes II frisch in den Händen. Sie können heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen, dass offenbar die Öffentlichkeit nicht klar differenzieren kann zwischen einem solchen nationalen, ärztlich untermauerten Programm und dem vom Koordinierungsausschuss verordneten Minimalprogramm. Ich glaube, hierauf müssen wir zukünftig in der Öffentlichkeit deutlich hinweisen. Wenn die Ärzteschaft - damit meine ich auch die verschiedenen Spezialisten; diese unter einen Hut zu bringen ist innerhalb der Fachgesellschaften, wie Sie alle wissen, nicht immer leicht - sich in den grundsätzlichen Empfehlungen eines solchen Programms einig ist, dürften wir keine Schwierigkeit haben, dies gegenüber allen anderen Interessenvertretern durchzusetzen.

Von der Politik und den Kostenträgern erwarten wir darüber hinaus noch ein klares Bekenntnis zur Finanzierung derartiger Leitlinienprogramme, die bisher überhaupt nicht geklärt ist.
Lassen Sie mich als zweites Beispiel der Veränderung des Arztbildes auf den gegenwärtigen Nachwuchsmangel eingehen. Durch Erhebungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wissen wir, dass die Zahl der Medizinstudenten bei konstanter Zahl von Studienanfängern in den letzten sieben Jahren um 11,3 Prozent zurückgegangen ist. Die Zahl der Absolventen des Medizinstudiums ist in den letzten sechs Jahren um 23 Prozent gesunken. Die Zahl der Studienabbrecher bzw. Studienplatzwechsler ist steigend. Die Zahl der Ärzte im Praktikum hat zwischen 1994 und 2000 um ein Viertel abgenommen, die Zahl der Approbationen im gleichen Zeitraum um 22 Prozent.

Auch unter den Ärzten mit abgeschlossener Ausbildung (Approbation) ist eine zunehmende Abwanderung von Ärztinnen und Ärzte in nicht ärztliche Tätigkeiten oder in das Ausland zu registrieren. Dies trifft in besonderer Weise die operativen Fächer.

Die Gründe für berufliche Alternativen von Absolventen des Medizinstudiums sollten uns zu denken geben: die Arbeitszeit, das Arbeitszeitgesetz, die mangelhafte Strukturierung der studentischen Ausbildung und der Facharztweiterbildung. Letztere wird in der Regel nicht als Bildungsordnung aufgefasst, sondern als Strukturordnung von den verschiedenen Interessenvertretern missbraucht. Zu nennen sind ferner Kurzzeitverträge, unattraktive Endpositionen, nicht ärztliche Tätigkeiten, insbesondere im Bereich der Dokumentation, die niedrige Einkommenserwartung und die veränderten Ansprüche unserer Gesellschaft - auch der Ärzte - an die Lebensqualität.

Alle diese Themen müssen dringend angegangen werden, um das zukünftige Arztbild für unsere nachrückenden Kollegen, hier vor allen Dingen für die Hälfte, nämlich unsere Kolleginnen mit ihrer besonderen Problematik zwischen Beruf und Familie, wieder attraktiv erscheinen zu lassen.

Ich fasse zusammen: Die ethischen Grundwerte des Arztbildes - Wissenschaftlichkeit, Erfahrung, persönliche Haltung und menschliche Zuneigung - haben einen unverändert hohen Stellenwert. Die Berücksichtigung der Entwicklung der modernen Medizin und die Erwartungen unserer Gesellschaft erfordern aber zusätzliche Qualifikationen: die Überprüfung und Erhaltung fundierten wissenschaftlichen Wissens, eine kommunikative Kompetenz über das direkte Arzt-Patienten-Verhältnis hinaus, die Gewährleistung einer medizinischen Qualitätssicherung und eine Managementkompetenz, die nicht zuletzt auch wirtschaftliche Überlegungen für die Solidargemeinschaft ernst nimmt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Herr Kollege Encke, für Ihren Vortrag. Vielen Dank auch dafür, dass Sie trotz Ihrer Infektion der Stimmbänder so durchgehalten haben und uns auch weiterhin zur Verfügung stehen. Ich glaube, wir sollten würdigen, dass es eine Premiere ist, dass der Deutsche Ärztetag und die Arbeitsgemeinschaft der Medizinischen Wissenschaftlichen Fachgesellschaften zu einem gemeinsamen Thema zusammengekommen sind und so weitgehend übereinstimmend die Probleme unseres Berufes sehen. Das ist durch die beiden Vorträge klar zum Ausdruck gekommen. Ich bedanke mich sehr herzlich, weil das für unsere Arbeit in den nächsten Monaten und einigen Jahren die Grundlage sein wird, vieles von dem, was verloren gegangen ist, in neuer Form zurückzuerobern. Dieser Aufgabe hat sich übrigens früher schon einmal der bereits an-gesprochene Murrhardter Kreis gestellt; heute geschieht das in einer wesentlich erweiterten Form.

Nochmals vielen herzlichen Dank beiden Referenten.

(Beifall)

Ohne diese Basierung wäre die nun folgende Diskussion nicht möglich.

Bevor ich in der Diskussion den ersten Redner aufrufe, darf ich zunächst Herrn Kollegen Oesingmann herzlich begrüßen. Er ist hier als Präsident des Bundesverbandes der Freien Berufe.

(Beifall)

Unter uns ist auch Herr Dr. Resnikov. Er stammt aus Russland, lebt aber in Deutschland und ist für uns ein wichtiger Verbindungsmann, wenn wir Verbindungen in die Russische Föderation aufnehmen wollen oder wenn aus der Russischen Föderation der Wunsch besteht, nach Deutschland Verbindungen aufzunehmen. Die Politik der Russischen Föderation - einschließlich der Regierung - interessiert sich sehr intensiv dafür, mit der deutschen Ärzteschaft in Gestalt der Bundesärztekammer Kontakt aufzunehmen, beinahe mehr als mit dem Ministerium. Herzlichen Dank, Herr Kollege Resnikov! Er ist sozusagen der Transmissionsriemen.

(Beifall)

Zu Tagesordnungspunkt II liegen bisher insgesamt drei Anträge vor. Wir kommen jetzt zur Diskussion. Der erste Redner ist Herr Kollege Jonitz, Präsident der Landesärztekammer Berlin. Bitte schön.

© 2002, Bundesärztekammer.