TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Vormittagssitzung

Dr. Jonitz, Vorstand der Bundesärztekammer:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben einen ganz zentralen Tagesordnungspunkt: Dieser Tagesordnungspunkt sind wir, die Ärztinnen und Ärzte. Wir stehen derzeit unter einem ganz enormen Druck; das braucht man niemandem hier im Saal zu erklären. Wenn die Entwicklung, die wir derzeit erleben, im Gesundheitswesen so weitergeht, geht sehr viel verloren.

Es gibt eine sehr wichtige Botschaft, die lautet: Die wichtigste Person im Leben eines kranken Menschen ist der Arzt. Wenn man krank ist, ist ein guter Arzt das Beste, was einem widerfahren kann. Er ist der Garant für eine erfolgreiche und gute Diagnose und Therapie.

Der Arztberuf ist ein besonders schöner und auch ein besonders verantwortungsvoller Beruf. Er ist schwieriger geworden. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder. Ich zeige Ihnen hier ein Bild des Malers Sir Luke Fildes aus dem 19. Jahrhundert, mit dem die Ärzte in Großbritannien groß werden. Hier wird ein romantisches Bild des Arztberufs gezeichnet. Man sieht einen Arzt, der ein krankes Kind behandelt. Man sieht ein offensichtlich todkrankes Kind in einem dunklen Raum und einen bärtigen, sehr konzentrierten Doktor. Der gesamte Fokus dieses Bildes beruht auf der intensiven Beziehung zwischen Arzt und Patient. Niemand sonst ist auf diesem Bild zu sehen; ausgenommen ganz im Hintergrund die Eltern. Certainly no economists - mit Sicherheit sind auf diesem Bild keine Ökonomen, keine Krankenkassenvertreter und keine Gesundheitsexperten.

(Beifall)

Dieses intensive und unmittelbare Arzt-Patienten-Verhältnis ist so nicht mehr vorhanden. Mittlerweile befindet sich auch der Ökonom in diesem Bild. Krankenkassenvertreter und so genannte Experten erteilen dem Arzt Ratschläge oder wollen ihm, was noch schlimmer ist, Vorschriften machen, was er zu tun hat.

Warum sind jetzt die Ökonomen mit im Bild? Das erste Problem ist ein banales, ein ökonomisches, ein finanzielles: Die Krankenkassen haben kein Geld mehr. Es hat eine gnadenlose Sparpolitik begonnen. Dass die Geldknappheit durch die Einnahmenseite verursacht ist, wissen wir alle.

Es gibt aber auch noch ein anderes Problem; dieses liegt letzten Endes bei uns, in der Medizin selber. Die Medizin ist sehr komplex geworden. Während es früher zu bestimmten Krankheiten gar keine Therapie gab, tauchte anschließend eine Therapie auf, später wurden es mehr, heute gibt es dazu fünf oder sechs unterschiedliche Therapien. Meine Großmutter mütterlicherseits ist selbstverständlich noch im diabetischen Koma gestorben, meine beiden Großeltern väterlicherseits haben eine Schenkelhalsfraktur nicht überlebt, weil diese damals noch nicht operabel war. Mittlerweile kann ich beide Krankheiten hervorragend und sehr exquisit behandeln. Aber die Frage, welche Therapie denn nun die beste für den Patienten ist, ist sehr schwierig zu beantworten.

Wir haben unter dem Tagesordnungspunkt II die banale Frage zu beantworten: Was hilft dem Arzt, damit er eine gute Medizin betreibt? Wer hilft dem Arzt, damit er eine gute Medizin machen kann, damit die Patienten optimal behandelt werden können? Ein Vorschlag läuft darauf hinaus, dass wir Ärztinnen und Ärzte eine systematische Unterstützung brauchen, um möglichst gut zu erkennen, was eine relevante und nicht nur eine signifikant bessere Therapie ist. Da sind gute Leitlinien eine wichtige Grundlage für die Entscheidungsfindung in der täglichen Praxis und auch in der Klinik.

Wir müssen die Fremdbeeinflussung klein halten. Das Gesundheitswesen ist keine Spielwiese für machtpolitische Interessen oder ideologische Vorstellungen. Wir müssen uns dagegen wehren, dass Leute herkommen und aus dem Gesundheitswesen persönlichen Profit schlagen, weil sie auf diese Weise bestimmte revolutionäre Ideen umzusetzen versuchen.
Wir müssen - auch diesen Aspekt bitte ich dringend zu beachten - die Bedürfnisse der Menschen in diesem System wesentlich besser berücksichtigen als früher. Die Menschen in diesem System sind zum einen die Menschen, die behandelt werden. Ein Gesunder hat viele Wünsche, ein Kranker nur einen. Es geht zum anderen auch um die Menschen, die in diesem System arbeiten: Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern, Pflegerinnen und Pfleger, alle anderen therapeutischen und Hilfsberufe.

Die Begegnung zwischen Arzt und Patient ist primär eine Begegnung zwischen zwei Menschen. Die Humanisierung des Gesundheitswesens - das ist viel wichtiger als die Ökonomisierung - gilt für Patient und Arzt.

(Vereinzelt Beifall)

Wir müssen uns bemühen - das hat Fritz Kolkmann bereits gesagt -, primäre ärztliche Tugenden wieder zu entdecken in einem relativen Chaos aus Gesundheitsökonomie und einem wissenschaftlichen bzw. pseudowissenschaftlichen Wirrwarr. Es ist schwieriger geworden, herauszufinden, worin die optimale Medizin besteht. Die drei Grundfragen lauten: Was braucht der Patient? Behandeln wir den Patienten und seine Krankheiten oder die Laborwerte? Was kann ich gut, wo bin ich gut, wo kann ich noch besser werden als Arzt? Mit Verlaub: Derjenige Arzt, der nicht auf der Höhe der Zeit ist, aber mit seiner klinischen Nase sehr schnell die relevanten Symptome als solche erkennt und diesen nachgeht, betreibt nicht selten die bessere Therapie als derjenige, der gerade vom neuesten Fachkongress zurückkehrt.

(Beifall)

Wir müssen die Wissenschaftlichkeit in der Medizin natürlich auch auf eine Alltagswissenschaft umstellen. Ich träume von einem Zustand, in dem wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland eines Tages auf Knopfdruck mit unseren Daten und unseren Erfahrungen aus der Behandlung großen Studien aus anderen Ländern entgegnen können. Wenn jemand kommt und sagt, in Arkansas gibt es bei dieser und jener Krankheit diese und jene Therapie mit einem bestimmten Erfolg, und wir schauen in Praxis und Krankenhaus in unsere Computer und können definieren, dass wir mit einer anderen Therapie sehr viel besser sind, dann haben wir die eigentliche Weisheit und Wahrheit dort gefunden, wo sie zu finden ist, nämlich im Alltag.

Wir müssen die Wissenschaft studieren und die Kunst praktizieren. Dann gehen die Ökonomen auch gerne wieder fort.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Schönen Dank, Herr Jonitz, auch für das schöne Bild. - Als nächster Redner bitte Herr Kossow.

© 2002, Bundesärztekammer.