TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Vormittagssitzung

Dr. Schilling, Berlin:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich ist in Deutschland die medizinische Versorgung der Bevölkerung über weite Strecken beklagenswert.

Selbstverständlich ist die medizinische Versorgung von chronisch Kranken und Schwerstkranken verbesserungswürdig. Selbstver-ständlich ist die häusliche Versorgung der Alten und Pflegebedürftigen durch ambulante Pflegedienste lausig.

Es ist ebenso richtig, dass wir jährlich Milliardenbeträge an Medikamenten verordnen, die unnütz, überflüssig sind oder nicht eingenommen werden. Ebenso richtig ist, dass wir unsinnige, überflüssige Untersuchungen am Patienten durchführen.

Allerdings stellt sich die Frage: Wie können wir das verhindern? Wer ist daran schuld? Wir reden immer so gern von der patientenzentrierten Medizin und meinen eigentlich das Gegenteil dessen, was wir damit ausdrücken wollen. Patientenzentrierte Medizin in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet nämlich, dass einzig und allein der Patient darüber entscheidet, in welchem Umfang und wie oft die medizinische Versorgung an ihm durchgeführt wird.

Patientenzentrierte Medizin bedeutet auch, dass ausschließlich der Patient darüber entscheidet, ob er freiwillig an irgendwelchen Programmen teilnimmt oder nicht. Die Allgemeinheit soll es dann bezahlen. Patientenzentrierte Medizin bedeutet bei uns auch, dass der Patient die Wahlfreiheit hat, zu welchem Arzt er geht, wie oft er dort hingeht und zu welchem Zeitpunkt er dort hingeht.

Dies ist kontraproduktiv, extrem kostenbelastend und ist nicht uns anzulasten. Wir können es nicht ändern. Patientenzentrierte Medizin, wie wir sie verstehen und eigentlich auch ausdrücken wollen, bedeutet, dass sich fachliche Kompetenz durch uns Ärzte um das Zentrum, den Patienten, dreht und allein der Arzt darüber entscheidet, was wie oft und wann durchgeführt werden soll.

Die Ärztetage gefallen sich immer darin, dass sie den Patienten in den Mittelpunkt des ärztlichen Handelns stellen. Sie meinen damit kurioserweise, dass der Patient der Anteilnahme des Arztes bedarf - Anteilnahme falsch verstanden: im Nachgeben, im therapeutischen Betreuen, im Aufsuchen zu Hause, in der Bereitstellung von Sozialdiensten, wenn der Patient nicht bereit ist, den notwendigen Beitrag zu seiner Gesundung zu leisten.

Das kann es nicht sein. Die Kosten für dieses System sind nicht aufzubringen. Sie werden exorbitant steigen. Da helfen weder Leitlinien noch die evidenzbasierte Medizin. An diesem System werden die beiden Projekte vorbeigehen. Die Kosten werden dadurch in keiner Weise minimiert. Wenn wir nicht bereit sind, die Rahmenbedingungen zu ändern, den Patienten mit in die Verantwortung einzubeziehen und unsere Kompetenz zu stärken, wird das Gesundheitswesen nicht auf die Beine kommen. Wir werden Unsummen verschwenden, ohne dass wir dem Patienten dafür irgendeinen Gefallen tun.

Anhand der drei großen Krankheiten Diabetes, Hypertonie, koronare Herzerkrankung können Sie erkennen, dass schon durch die Tatsache, dass die meisten Patienten übergewichtig sind, Schäden gesetzt werden.

(Zuruf: Ist aber schön!)

- Das mag sein. Solange sie nicht krank sind, ist alles in Ordnung. Allein durch den Mangel an Bewegung entstehen der Volkswirtschaft Schäden in Höhe von 100 Milliarden DM. In anderen Bereichen ist es ähnlich. Allein diese Summen sind so exorbitant, dass sich jede weitere Diskussion darüber eigentlich erübrigt.

Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Schönen Dank. - Als nächster Redner Herr Dr. Eisenkeil aus Bayern. Bitte schön.

© 2002, Bundesärztekammer.