Henke, Vorstand der Bundesärztekammer:
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Professor Kolkmann
hat in seinem Vortrag mehrfach David Sackett, den Vater der evidence
based medicine, zitiert. Dafür bin ich dankbar, weil mir dies
die Gelegenheit gibt, klar zu machen, dass die evidence based medicine,
wie Sackett sie formuliert hat, auch missbraucht wird. Der heutige
Gebrauch von evidence based medicine im Bereich der Gesundheitspolitik,
im Bereich der Kassenverwaltungen ist ein Missbrauch. Es ist 1997
ein Aufsatz von Sackett erschienen, in dem er die evidence based
medicine von der "Kochbuchmedizin" abgrenzt. Er schreibt:
Weil es eines "Bottom-up"-Ansatzes bedarf,
der die beste verfügbare externe Evidenz mit individueller
klinischer Expertise und Patientenpräferenzen verbindet,
ist das Konzept nicht mit dem sklavischen Befolgen eines "Kochrezeptes"
zur Patientenbehandlung vereinbar.
Sackett fährt fort:
Externe klinische Evidenz kann individuelle klinische
Erfahrung zwar ergänzen, aber niemals ersetzen.
Das scheint mir der Grund dafür zu sein, warum diejenigen,
die die evidence based medicine im Sinne von Sackett interpretieren,
gemeinsam mit uns, wie ich glaube, auf der Barrikade stehen, wenn
es ihnen so geht, dass sie evidence based medicine von Einkäufern
von Gesundheitsleistungen und von Managern gekidnappt sehen.
So sieht die Situation nämlich aus, die wir heute erleben.
Wie weit das in die politische Diskussion vorgedrungen ist, kann
man erkennen, wenn man in eines der beiden möglichen Szenarien
hineinschaut, die die vom Deutschen Bundestag eingesetzte und über
drei Legislaturperioden hinweg tätig gewesene Enquete-Kommission
"Demographischer Wandel" in ihren Abschlussbericht aufgenommen
hat. Ich zitiere wörtlich:
Im Gegensatz zu anderen europäischen und
außereuropäischen Ländern wie zum Beispiel Großbritannien
oder Kanada gibt es in Deutschland keine einheitliche oder verbindliche
Definition von Versorgungszielen im Gesundheitswesen. Dies hat
dazu geführt, dass es in Deutschland bis heute keine qualitativ
hochwertigen Behandlungsleitlinien für wichtige Volkskrankheiten
gibt. Vielmehr existiert eine Vielzahl von Pseudostandards, die
zusammen mit einem opinion based management des einzelnen Arztes
zu einer großen Varianz in der Therapie führen.
Das heißt, der Gesetzgeber geht - jedenfalls in seiner jetzigen
Zusammensetzung - davon aus, dass es ein Mangel ist, dass wir in
der Therapie eine große Varianz vorfinden, während die
Anhänger und Väter der evidence based medicine davon ausgehen,
dass es gerade diese große Varianzbreite ist, die überhaupt
die Prüfung möglich macht, ob eine Evidenz auf den Einzelfall
anwendbar ist, ob die noch so exzellenten Ergebnisse von Forschungsstudien
im Einzelfall überhaupt angewendet werden können.
Ich glaube, es ist diese krasse Missachtung des Könnens und
der Urteilskraft von Ärzten, die krasse Missachtung dessen,
was unsere Erfahrung, unsere klinische Praxis uns zur Verfügung
stellt, was in der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Debatte
dazu führt, dass viele Ärzte inzwischen den Eindruck haben,
dass sie aus dieser Rolle des Patientenanwalts verdrängt werden
und dass sie - das ist bewusst sehr hart formuliert, aber ich glaube,
das ist auch unser Gefühl - zum Kassenknecht oder zum Verwaltungsvasallen
gemacht werden sollen, anstatt Patientenanwalt zu bleiben. Dazu
müssen wir Nein sagen, dem müssen wir entgegentreten.
Ich glaube allerdings nicht, dass die Formulierung richtig ist,
dass wir alle gesundheitspolitischen Fehlentscheidungen verhindern
können. Ich würde von "Entgegentreten" sprechen.
Dem entgegentreten, das müssen wir in der Tat tun, das ist
der Auftrag unseres Berufs. Wenn wir das nicht tun, rauben wir mit
dem Verzicht auf unsere eigene Freiheit dem Patienten den Raum für
seine Freiheit und für seine Würde.
Ich bedanke mich.
(Beifall)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank. - Vor der Mittagspause hören wir jetzt noch Herrn
Professor Griebenow aus Nordrhein.
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