Prof. Dr. Griebenow, Nordrhein:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Kolkmann, verehrter Herr Encke, vielen Dank für
Ihre Beiträge. Ich denke, es ist ganz klar: Wir betreiben kein
diagnostisches oder therapeutisches Lassez-faire, das erst durch
Leitlinien, seien diese auch schnell aus dem Ausland importiert,
strukturiert werden müsste; das haben wir auch nie getan. Diese
uns aus der Politik heraus aufgezwungene Diskussionsebene müssen
wir uneingeschränkt ablehnen.
(Vereinzelt Beifall)
Ich bin Ihnen dankbar, Herr Encke, dass Sie auf die unterschiedlichen
Facetten der ärztlichen Kompetenz in der Darstellung von Herrn
Schuster hingewiesen haben. Dort steht ja nicht ohne Grund an erster
Stelle die wissenschaftliche Kompetenz. In diesem Rahmen bestimmen
nun einmal klinische Studien und ihre statistische Bewertung unseren
Entscheidungsrahmen, der zum einen festlegt, wann mit regelhaften
Ergebnissen unserer ärztlichen Tätigkeit zu rechnen ist,
der auf der anderen Seite klar macht, wann wir auf nichts anderes
zurückgeworfen sind als auf unsere ärztliche Therapiefreiheit.
Sie wirken quasi als Trigger für das Wirksamwerden der anderen
von Ihnen genannten Kompetenzfelder wie etwa die klinische Erfahrung
oder die soziale Kompetenz.
Diese gedankliche Standortbestimmung erscheint mir unerlässlich,
wenn man das große Spektrum unserer ärztlichen Erkenntnisbasis
betrachtet. Sie haben selber auf die Probleme bei der Durchführung
randomisierter Studien in der Chirurgie hingewiesen. Ich möchte
meinerseits seltene Erkrankungen erwähnen, bei denen es uns
wahrscheinlich nie gelingen wird, auf statistisch aussagekräftige
Zahlen zu kommen. Oder nehmen Sie als anderes Extrem die Ergebnisse
globaler Studien etwa in meinem Fachgebiet, der Kardiologie, wo
Patienten in Größenordnungen eingeschlossen worden sind,
die ich während meiner Lebensarbeitszeit wahrscheinlich nie
behandeln werde, um die dort beobachteten Effekte nachvollziehen
zu können.
Wenn wir die individualisierte Sicht der Medizin ernst nehmen, müssen
wir also über die Entwicklung von Leitlinien hinausgehen; denn
die Leitlinien stellen ja auch nur wieder einen Versuch dar, das
Vorhandene zu strukturieren, der ein standardisiertes Verhalten
zur Folge hat. Wenn wir uns fragen, wie dies geschehen kann, möchte
ich gerade auch aus der Erfahrung eines Fortbildungsbeauftragten
heraus sagen: Wir müssen es schaffen, die Zeitfalle aufzulösen.
Wir müssen es schaffen, dass dem Einzelnen an seinem Arbeitsplatz
die Evidenz, die zur Verfügung steht und die seinen Entscheidungsrahmen
bestimmt, ad hoc verfügbar ist, und zwar in garantierter Aktualität.
Hier sehe ich - da möchte ich Sie ansprechen, Herr Encke -
gerade eine Verantwortung der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften.
Es reicht aus meiner Sicht nicht, dass sie den state of the art
im Zweifelsfall im Abstand von Jahren definieren, so verdienstvoll
und so anerkennungsfähig dies auch ist und wir dies auch gern
tun wollen.
Ich habe einen Änderungsantrag zum sechsten Spiegelstrich des
Antrags II-1 eingebracht.
Bisher heißt es dort:
Eine ausschließlich statistisch/epidemiologisch
begründete Medizin ohne Berücksichtigung klinischer
Erkenntnisse wird abgelehnt.
Wenn der zweite Satz dieses Spiegelstrichs zutrifft, bedeutet dies,
dass wir darauf dringen müssen, dass eine die individuelle
Situation des einzelnen Patienten berücksichtigende klinische
Medizin die Ad-hoc-Verfügbarkeit der Evidenz klinischer Studien
im alltäglichen Behandlungsprozess voraussetzt.
Ich darf Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitten, dieser
Alternativformulierung, die Sie noch umgedruckt erhalten werden,
zuzustimmen. Ich möchte Sie, Herr Encke, auffordern: Leiten
Sie in den Fachgesellschaften einen Paradigmenwechsel in der Kommunikation
ein, indem wir nicht mehr nur zu den Fachkongressen, so schön
sie auch sein mögen, fahren müssen, sondern indem dafür
gesorgt wird, dass mit der Ihnen zur Verfügung stehenden Fachkompetenz
dem einzelnen Arzt ein Medium zur Verfügung steht - wir haben
die digitale Technologie dafür -, das ihm eine Ad-hoc-Verfügbarkeit
der Evidenz in garantierter Aktualität gewährleistet.
Vielen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Schönen Dank, Herr Griebenow. - Bevor wir gleich in die Mittagspause
eintreten, darf ich kurz Herrn Kollegen Hardt das Wort für
einen Hinweis geben. Bitte schön.
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