TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Griebenow, Nordrhein:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kolkmann, verehrter Herr Encke, vielen Dank für Ihre Beiträge. Ich denke, es ist ganz klar: Wir betreiben kein diagnostisches oder therapeutisches Lassez-faire, das erst durch Leitlinien, seien diese auch schnell aus dem Ausland importiert, strukturiert werden müsste; das haben wir auch nie getan. Diese uns aus der Politik heraus aufgezwungene Diskussionsebene müssen wir uneingeschränkt ablehnen.

(Vereinzelt Beifall)

Ich bin Ihnen dankbar, Herr Encke, dass Sie auf die unterschiedlichen Facetten der ärztlichen Kompetenz in der Darstellung von Herrn Schuster hingewiesen haben. Dort steht ja nicht ohne Grund an erster Stelle die wissenschaftliche Kompetenz. In diesem Rahmen bestimmen nun einmal klinische Studien und ihre statistische Bewertung unseren Entscheidungsrahmen, der zum einen festlegt, wann mit regelhaften Ergebnissen unserer ärztlichen Tätigkeit zu rechnen ist, der auf der anderen Seite klar macht, wann wir auf nichts anderes zurückgeworfen sind als auf unsere ärztliche Therapiefreiheit. Sie wirken quasi als Trigger für das Wirksamwerden der anderen von Ihnen genannten Kompetenzfelder wie etwa die klinische Erfahrung oder die soziale Kompetenz.

Diese gedankliche Standortbestimmung erscheint mir unerlässlich, wenn man das große Spektrum unserer ärztlichen Erkenntnisbasis betrachtet. Sie haben selber auf die Probleme bei der Durchführung randomisierter Studien in der Chirurgie hingewiesen. Ich möchte meinerseits seltene Erkrankungen erwähnen, bei denen es uns wahrscheinlich nie gelingen wird, auf statistisch aussagekräftige Zahlen zu kommen. Oder nehmen Sie als anderes Extrem die Ergebnisse globaler Studien etwa in meinem Fachgebiet, der Kardiologie, wo Patienten in Größenordnungen eingeschlossen worden sind, die ich während meiner Lebensarbeitszeit wahrscheinlich nie behandeln werde, um die dort beobachteten Effekte nachvollziehen zu können.

Wenn wir die individualisierte Sicht der Medizin ernst nehmen, müssen wir also über die Entwicklung von Leitlinien hinausgehen; denn die Leitlinien stellen ja auch nur wieder einen Versuch dar, das Vorhandene zu strukturieren, der ein standardisiertes Verhalten zur Folge hat. Wenn wir uns fragen, wie dies geschehen kann, möchte ich gerade auch aus der Erfahrung eines Fortbildungsbeauftragten heraus sagen: Wir müssen es schaffen, die Zeitfalle aufzulösen. Wir müssen es schaffen, dass dem Einzelnen an seinem Arbeitsplatz die Evidenz, die zur Verfügung steht und die seinen Entscheidungsrahmen bestimmt, ad hoc verfügbar ist, und zwar in garantierter Aktualität. Hier sehe ich - da möchte ich Sie ansprechen, Herr Encke - gerade eine Verantwortung der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften. Es reicht aus meiner Sicht nicht, dass sie den state of the art im Zweifelsfall im Abstand von Jahren definieren, so verdienstvoll und so anerkennungsfähig dies auch ist und wir dies auch gern tun wollen.
Ich habe einen Änderungsantrag zum sechsten Spiegelstrich des Antrags II-1 eingebracht.

Bisher heißt es dort:

Eine ausschließlich statistisch/epidemiologisch begründete Medizin ohne Berücksichtigung klinischer Erkenntnisse wird abgelehnt.

Wenn der zweite Satz dieses Spiegelstrichs zutrifft, bedeutet dies, dass wir darauf dringen müssen, dass eine die individuelle Situation des einzelnen Patienten berücksichtigende klinische Medizin die Ad-hoc-Verfügbarkeit der Evidenz klinischer Studien im alltäglichen Behandlungsprozess voraussetzt.

Ich darf Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitten, dieser Alternativformulierung, die Sie noch umgedruckt erhalten werden, zuzustimmen. Ich möchte Sie, Herr Encke, auffordern: Leiten Sie in den Fachgesellschaften einen Paradigmenwechsel in der Kommunikation ein, indem wir nicht mehr nur zu den Fachkongressen, so schön sie auch sein mögen, fahren müssen, sondern indem dafür gesorgt wird, dass mit der Ihnen zur Verfügung stehenden Fachkompetenz dem einzelnen Arzt ein Medium zur Verfügung steht - wir haben die digitale Technologie dafür -, das ihm eine Ad-hoc-Verfügbarkeit der Evidenz in garantierter Aktualität gewährleistet.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Schönen Dank, Herr Griebenow. - Bevor wir gleich in die Mittagspause eintreten, darf ich kurz Herrn Kollegen Hardt das Wort für einen Hinweis geben. Bitte schön.

© 2002, Bundesärztekammer.