TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Nachmittagssitzung

Dr. Josten, Nordrhein:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Jonitz hat vorhin ein Bild gezeigt, das eine Arzt-Patienten-Beziehung zum Inhalt hat. Ein ähnliches Bild hat Picasso 1898 gemalt. Es trägt den Titel "Wissenschaft und Zuwendung". Da wir heutzutage die Zuwendung numerisch so schlecht erfassen können, begeben wir uns auf eine wissenschaftliche Ebene, die in etwa lautet: In god we trust, all other needs data.

Bei den Berufsgenossenschaften ist es immerhin noch so - alle, die es besser wissen, mögen mich korrigieren -, dass man seine Angaben in Deutsch machen muss. Bei den Disease-Management-Programmen ist es schon so, dass die Patienten Englisch können müssen. Die Patienten tauchen ja gar nicht mehr auf. Der Patient wird in seiner Betroffenheit nicht mehr erfasst. Diese Semantik erscheint entlarvend. 08/15 ist gefragt, nicht der genetische Pleomorphismus. Den sehen wir auch hier im Saal, und zwar nicht nur in seiner xy-Variation. Wir müssen einem Standard Rechnung tragen, einem Panzer.

Mich verwundert es - darauf hat auch Herr Henke abgestellt -, dass die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages den NHS Ihrer Majestät als so vorbildlich dargestellt hat. Archibald Cochrane, der Ziehvater und Mentor des heute erwähnten Autors, hat in deutscher Kriegsgefangenschaft 1916, also in einer minimalistischen Situation der Gesundheitsversorgung, die Grundform der evidence based medicine entwickelt. Dieser Mann hat später das NHS durch einen Besuch im Krematorium beschrieben. Er sah einen Mitarbeiter, der ausgesprochen heiter und gelassen war. An einem solchen Ort erwartet man aber ein ernstes Gesicht. Er fragte diesen Mitarbeiter, weshalb er so heiter sei. Der Mitarbeiter antwortete: Das ist ganz verwunderlich, da kommt so viel herein und so wenig heraus!

Cochrane hat gedacht: So ähnlich ist es mit dem Gesundheitssystem Ihrer Majestät auch. Das denken einige Briten wohl auch derzeit.

Gleichwohl ist es sinnvoll - ich mag hier als advocatus diaboli erscheinen -, Programme wie die Versorgungsleitlinien bei der Bundesärztekammer aufzulegen, denn diese können bei komplexen Krankheitsbildern, die eine große Zahl von Patientinnen und Patienten betreffen, Hilfestellung leisten, auch die Schnittstellenproblematik, die wir in der Versorgung ja durchaus zu verzeichnen haben, zu überwinden.

Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Schönen Dank, Herr Josten, auch für die historische Darstellung. - Der nächste Redner ist Herr Dr. Hansen aus Nordrhein.

© 2002, Bundesärztekammer.