Zimmer, Nordrhein:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den Disease-Management-Programmen
habe ich eine Frage an die Referenten. Auf welcher EBM-Stufe basiert
eigentlich die Erkenntnis, dass sich die derzeit getroffene Auswahl
der vier Disease-Management-Programme als notwendig, zweckmäßig
und ausreichend darstellt? Das ist ja die Minimalvoraussetzung,
wenn wir auf einer Ebene arbeiten sollen, dass die Auswahl nach
den gleichen Kriterien erfolgt. Ich gehe davon aus, diese Antwort
gibt es gar nicht.
Für mich ist das eigentlich Erschreckende, dass die Disease-Management-Programm-Gruppen,
wie sie jetzt gewählt wurden, dazu führen, dass wir die
Patienten in einzelne Schubladen legen müssen. 70 Prozent meiner
Patienten, die in eine dieser Gruppen gehören, gehören
auch in eine zweite Gruppe. Ich dachte: Gut, diese Patienten sind
dann in beiden Gruppen. - Das ist aber nicht möglich. In diesem
Fall wird laut Gesetz die Zuordnung von der Krankenkasse vorgenommen.
Hier wirkt die Krankenkasse in das ärztliche Handeln hinein,
was im Weiteren mit einem Disease-Management-Patienten geschieht.
Das ist für mich untragbar. Die Krankheit eines Menschen ist
ja auch mit dem Schicksal seines Lebens verbunden. Es ist für
einen Diabetiker schon erheblich, ob er sein ganzes familiäres
Umfeld durch Tod verloren hat und einem HbA1C von 6,5 keine Bedeutung
mehr zumisst oder ob er vielleicht sagt: Nein, ich bin gerade Großvater
geworden, ich werde es im nächsten Jahr noch einmal, ich möchte
erfolgreich daran mitarbeiten, dass ich die Einschulung möglichst
vieler meiner Enkel erlebe.
Vor diesem Hintergrund frage ich mich natürlich: Wie sieht
es mit der Datenlieferung aus? Die Kolleginnen und Kollegen aus
Sachsen haben sehr gut dargestellt, mit wie geringer Datenlieferung
gute Qualität erreicht werden kann. Die Kassen wollen etwas
ganz anderes. Sie wollen eine maximale Datenlieferung.
Verinnerlichen Sie bitte das von mir bereits angesprochene WIR-Prinzip.
Welche Patienten sind wünschenswert für die Praxis und
für die Kasse? Das sind diejenigen, die möglichst ganz
unten bei der Einstiegsschwelle angesiedelt sind.
Die indifferenten Patienten kann ich ertragen; diese sind noch finanzierbar.
Dann gibt es die R-Patienten, die ruinös sind, und zwar sowohl
für die Praxis als auch für die Kasse.
Überlegen Sie bitte einmal: Wo werden diese Patienten letztlich
identifiziert und in das Disease-Management-Programm eingespielt?
Sie sind aber nach meiner Einschätzung die Wichtigsten. Liefern
wir jetzt auch noch vollständige Datensätze an die Krankenkassen,
die es ermöglichen, diese R-Patienten zu identifizieren, dann
ist genau derjenige Arzt, der die schwierigsten Patienten im schwierigsten
sozialen Umfeld behandelt, kassenstatistisch gesehen ein schlechter
Arzt, denn er hat nur schlechte Patienten. Diese haben aufgrund
ihrer persönlichen Lebenslage auch wenig Interesse, besser
zu werden.
Umgekehrt gilt: Diejenigen Patienten, die vielleicht aus Schicksalhaftigkeit
am gemeinsamen Therapieziel nicht gut mitarbeiten können, werden
von den Kassen ebenfalls als schlecht identifiziert. Wie lange werden
diese Patienten wohl in dieser Krankenkasse gelitten und mit entsprechenden
Ressourcen versorgt werden können? Für mich ist es ein
Albtraum, hier zum Verräter meiner Patienten zu werden. Ich
bitte Sie, wirklich genau zu überlegen, ob wir Disease-Management-Programme
in dieser Form in Zukunft stützen wollen.
Das gilt vor dem Hintergrund, dass all dies - das haben wir politisch
sauber definiert bekommen - kostenneutral sein soll, unter Entzug
von Ressourcen aus anderen Bereichen. Die Krankenkassenverwaltungskosten,
die zusätzlich entstehen, die Verwaltungskosten in unseren
Praxen müssen von denjenigen bezahlt werden, die im jetzigen
System Beiträge zahlen. Das heißt, für die Versorgung
aller anderen wird im Rahmen dieses Verwaltungsmolochs eine immer
größere Menge Geld abgezogen.
Wir können nur Widerstand leisten, aber auf eine ganz andere
Art. Ich glaube, der passive Widerstand im Sinne des Nichtstuns
ist nicht notwendig. Wir sollten jeden Tag darüber nachdenken,
welchen Patienten des Tages man durch eine bessere Kommunikation
mit zusätzlich fünf Minuten herüberkommen lassen
könnte, einen einzigen. Ich rufe dann den Kollegen an, mit
dem ich das bespreche. Ich steuere gerade diese Patienten - es wird
sich überwiegend um Hochbetagte oder Schwerkranke handeln -
so durch das System, dass sie ein bisschen länger im System
verbleiben. Dann setzen Sie sich bitte einmal hin, um auszurechnen,
was ein halbes Jahr mehr Leben bei lebenswerter Qualität in
diesem Sozialsystem kostet und wie sehr wir die Politik unter Druck
setzen können. Dann sind wir nicht mehr passiv agierend, sondern
aktiv handelnd.
Danke schön.
(Beifall)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Schönen Dank, Herr Zimmer. Gewisse gesundheitsökonomische
Institute sollten gelegentlich Anhörungen mit denjenigen durchführen,
die nachher mit dem umgehen müssen, was diese Institute produzieren.
Ich glaube, dann wer-den sie Zweifel haben, ob das, was sie vorschlagen,
wirklich richtig ist. Ich mache den Vorschlag: Herr Zimmer soll
zu den regelmäßig Anzuhörenden bei Herrn Lauterbach
werden. Das wäre doch eine Idee, oder?
(Beifall)
Das Wort zur Beantwortung hat jetzt Herr Kolkmann als Referent.
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