TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Nachmittagssitzung

Zimmer, Nordrhein:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den Disease-Management-Programmen habe ich eine Frage an die Referenten. Auf welcher EBM-Stufe basiert eigentlich die Erkenntnis, dass sich die derzeit getroffene Auswahl der vier Disease-Management-Programme als notwendig, zweckmäßig und ausreichend darstellt? Das ist ja die Minimalvoraussetzung, wenn wir auf einer Ebene arbeiten sollen, dass die Auswahl nach den gleichen Kriterien erfolgt. Ich gehe davon aus, diese Antwort gibt es gar nicht.

Für mich ist das eigentlich Erschreckende, dass die Disease-Management-Programm-Gruppen, wie sie jetzt gewählt wurden, dazu führen, dass wir die Patienten in einzelne Schubladen legen müssen. 70 Prozent meiner Patienten, die in eine dieser Gruppen gehören, gehören auch in eine zweite Gruppe. Ich dachte: Gut, diese Patienten sind dann in beiden Gruppen. - Das ist aber nicht möglich. In diesem Fall wird laut Gesetz die Zuordnung von der Krankenkasse vorgenommen. Hier wirkt die Krankenkasse in das ärztliche Handeln hinein, was im Weiteren mit einem Disease-Management-Patienten geschieht.

Das ist für mich untragbar. Die Krankheit eines Menschen ist ja auch mit dem Schicksal seines Lebens verbunden. Es ist für einen Diabetiker schon erheblich, ob er sein ganzes familiäres Umfeld durch Tod verloren hat und einem HbA1C von 6,5 keine Bedeutung mehr zumisst oder ob er vielleicht sagt: Nein, ich bin gerade Großvater geworden, ich werde es im nächsten Jahr noch einmal, ich möchte erfolgreich daran mitarbeiten, dass ich die Einschulung möglichst vieler meiner Enkel erlebe.

Vor diesem Hintergrund frage ich mich natürlich: Wie sieht es mit der Datenlieferung aus? Die Kolleginnen und Kollegen aus Sachsen haben sehr gut dargestellt, mit wie geringer Datenlieferung gute Qualität erreicht werden kann. Die Kassen wollen etwas ganz anderes. Sie wollen eine maximale Datenlieferung.

Verinnerlichen Sie bitte das von mir bereits angesprochene WIR-Prinzip. Welche Patienten sind wünschenswert für die Praxis und für die Kasse? Das sind diejenigen, die möglichst ganz unten bei der Einstiegsschwelle angesiedelt sind.

Die indifferenten Patienten kann ich ertragen; diese sind noch finanzierbar. Dann gibt es die R-Patienten, die ruinös sind, und zwar sowohl für die Praxis als auch für die Kasse.

Überlegen Sie bitte einmal: Wo werden diese Patienten letztlich identifiziert und in das Disease-Management-Programm eingespielt? Sie sind aber nach meiner Einschätzung die Wichtigsten. Liefern wir jetzt auch noch vollständige Datensätze an die Krankenkassen, die es ermöglichen, diese R-Patienten zu identifizieren, dann ist genau derjenige Arzt, der die schwierigsten Patienten im schwierigsten sozialen Umfeld behandelt, kassenstatistisch gesehen ein schlechter Arzt, denn er hat nur schlechte Patienten. Diese haben aufgrund ihrer persönlichen Lebenslage auch wenig Interesse, besser zu werden.

Umgekehrt gilt: Diejenigen Patienten, die vielleicht aus Schicksalhaftigkeit am gemeinsamen Therapieziel nicht gut mitarbeiten können, werden von den Kassen ebenfalls als schlecht identifiziert. Wie lange werden diese Patienten wohl in dieser Krankenkasse gelitten und mit entsprechenden Ressourcen versorgt werden können? Für mich ist es ein Albtraum, hier zum Verräter meiner Patienten zu werden. Ich bitte Sie, wirklich genau zu überlegen, ob wir Disease-Management-Programme in dieser Form in Zukunft stützen wollen.

Das gilt vor dem Hintergrund, dass all dies - das haben wir politisch sauber definiert bekommen - kostenneutral sein soll, unter Entzug von Ressourcen aus anderen Bereichen. Die Krankenkassenverwaltungskosten, die zusätzlich entstehen, die Verwaltungskosten in unseren Praxen müssen von denjenigen bezahlt werden, die im jetzigen System Beiträge zahlen. Das heißt, für die Versorgung aller anderen wird im Rahmen dieses Verwaltungsmolochs eine immer größere Menge Geld abgezogen.

Wir können nur Widerstand leisten, aber auf eine ganz andere Art. Ich glaube, der passive Widerstand im Sinne des Nichtstuns ist nicht notwendig. Wir sollten jeden Tag darüber nachdenken, welchen Patienten des Tages man durch eine bessere Kommunikation mit zusätzlich fünf Minuten herüberkommen lassen könnte, einen einzigen. Ich rufe dann den Kollegen an, mit dem ich das bespreche. Ich steuere gerade diese Patienten - es wird sich überwiegend um Hochbetagte oder Schwerkranke handeln - so durch das System, dass sie ein bisschen länger im System verbleiben. Dann setzen Sie sich bitte einmal hin, um auszurechnen, was ein halbes Jahr mehr Leben bei lebenswerter Qualität in diesem Sozialsystem kostet und wie sehr wir die Politik unter Druck setzen können. Dann sind wir nicht mehr passiv agierend, sondern aktiv handelnd.

Danke schön.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Schönen Dank, Herr Zimmer. Gewisse gesundheitsökonomische Institute sollten gelegentlich Anhörungen mit denjenigen durchführen, die nachher mit dem umgehen müssen, was diese Institute produzieren. Ich glaube, dann wer-den sie Zweifel haben, ob das, was sie vorschlagen, wirklich richtig ist. Ich mache den Vorschlag: Herr Zimmer soll zu den regelmäßig Anzuhörenden bei Herrn Lauterbach werden. Das wäre doch eine Idee, oder?

(Beifall)

Das Wort zur Beantwortung hat jetzt Herr Kolkmann als Referent.

© 2002, Bundesärztekammer.