TOP III : Ärztinnen: Zukunftsperspektive für die Medizin

3. Tag: Donnerstag, 30. Mai 2002 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Henne-Bruns, Referentin:

Sehr geehrter Herr Hoppe! Sehr geehrte Frau Ministerin Bulmahn! Sehr geehrte Frau Bühren! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf mich zunächst einmal bei der Bundesärztekammer für die Einladung zu diesem Referat bedanken. Die offizielle Rolle, die ich hier repräsentiere, ist Ihnen ja bereits angekündigt worden: Es ist die Rolle der Hochschullehrerin mit der Vertretung des Faches Chirurgie.

Die inoffizielle Rolle dabei ist gleichzeitig die des seltenen Tieres im Medizinerzoo. Meine persönliche Rolle dabei ist die der berufstätigen Mutter eines sechsjährigen Sohnes mit Kenntnis all der Facetten dieser Kombination aus Beruf und Familie.

Wenn ich Ihnen anschließend meine Ausführungen präsentiere, werden Sie sehen, dass bei mir alle Rollen von Bedeutung sind.

Es ist bekannt, dass die Ist-Situation in der Medizin dadurch gekennzeichnet ist, dass die Anzahl der Studienanfängerinnen mehr als 50 Prozent beträgt, im Jahr 2001 der Anteil der Ärztinnen bei den bestandenen ärztlichen Prüfungen 51,2 Prozent betrug, der Anteil der berufstätigen Ärztinnen nur etwa 75 Prozent beträgt, jedoch der Anteil der C-4-Professorinnen in den klinischen Fächern in der Medizin nur noch 2,8 Prozent umfasst.

Die Ist-Situation in der medizinischen Versorgung ist weiterhin gekennzeichnet durch einen relativen Ärztemangel, der unter anderem durch die zunehmende Abwanderung von Kolleginnen und Kollegen in nicht klinische Tätigkeiten bedingt ist.

Drittens ist die Ist-Situation dadurch gekennzeichnet, dass zur Erlangung der Facharztweiterbildung alle klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen im niedergelassenen Bereich wie im Klinikbereich während der Facharztweiterbildung eine Klinikausbildung durchlaufen müssen, die nach wie vor durch eine sehr starre Hierarchie gekennzeichnet ist. Hinzu kommt, dass die Karriereziele von jungen Kollegen aufgrund der bestehenden Abhängigkeiten innerhalb der existierenden Hierarchie nach wie vor ausgenutzt werden.
Viertens ist die Ist-Situation der klinischen Tätigkeit gekennzeichnet durch hohe Arbeitsbelastung, lange Arbeitszeiten und unzureichende Versorgungsstrukturen in der Kinderbetreuung.

Fünftens ist die Ist-Situation gekennzeichnet durch einen Wandel des Stellenwerts des Berufs im persönlichen Leben und somit eine veränderte Wertschätzung beispielsweise des Familien- und des sozialen Lebensbereichs.

Unter dem Titel "Ärztinnen in Klinik und Wissenschaft - Chancen zur Umsetzung neuer Ideen und Strukturen" verbirgt sich die Frage, welche Chancen sich derzeit überhaupt ergeben. Die erste Chance liegt zweifellos in der Vermehrung des Ärztinnenanteils in der klinischen Tätigkeit nicht zuletzt aufgrund einer Mangelsituation. Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist die Nutzung der teuren Ausbildungsinvestition natürlich sehr zu begrüßen. Die Vermehrung des Frauenanteils führt aber per se zu keinem Systemwandel, sondern bedeutet lediglich eine Erhöhung des Prozentsatzes berufstätiger Kolleginnen.

Die wirkliche Chance, so meine ich, muss man an anderen Punkten suchen. Zuvor stellt sich aber die Frage, warum wir einen Systemwandel überhaupt benötigen.

Betrachtet man den Mangel an klinisch tätigen Ärztinnen und Ärzten insgesamt, so ist klar, dass die bisherigen Versorgungsstrukturen durch zunehmende Einstellung von Ärztinnen derzeit noch aufrechterhalten werden können. Mittelfristig ist jedoch zu befürchten, dass die jetzt bei Männern bevorzugt auftretende Abwanderungstendenz aus der klinischen Medizin bereits in wenigen Jahren genauso von Ärztinnen vollzogen werden wird. Sollte eine derartige Situation eintreten, so kann sich bereits in absehbarer Zeit eine Entwicklung einstellen, die die qualifizierte Versorgung der Bevölkerung gefährden könnte.

Hieraus folgt, dass ein Systemwandel notwendig ist, der die Attraktivität der klinischen Tätigkeit sowohl für Männer wie für Frauen insgesamt erhöht. Hierzu ist es notwendig, im Detail die Hintergründe des Attraktivitätsverlustes des Berufs im bestehenden System zu analysieren. Dazu bedarf es einer kurzen Betrachtung der Rollenerwartungen an Frauen und Männer.
Aus zahlreichen soziologischen Untersuchungen ist bekannt, dass im Rollenverhalten von Männern und Frauen Stereotypien bestehen, die sowohl von Männern als auch von Frauen übertragen und damit erhalten werden. Schulforscherinnen haben beispielsweise gezeigt, dass von Lehrerinnen wie von Lehrern die schulischen Leistungen von Jungen besser bewertet werden als die von Mädchen und die Jungen öfter aufgerufen werden als die Mädchen. Dies bedeutet - so schloss bereits 1984 Skinningrud -, dass die schon früh in der Schule gelernte Geringschätzung der Leistungen von Mädchen die Entwicklung von deren Selbstwertgefühl negativ beeinträchtigt.

Inwieweit ein derartiges Beurteilungsmuster von Frauen gegenüber anderen Frauen an der Hochschule bei der Auswahl und der Förderung der Studentinnen, der Ärztinnen oder der Professorinnen eine Fortführung erfährt, ist nicht ausreichend untersucht. Vor diesem Hintergrund ist aber die Forderung nach weiblichen Rollenvorbildern unter akademischen Gesichtspunkten ein wenig zu hinterfragen, da nicht bekannt ist, wie viel stereotype Rollenvorbilder hierbei weitervermittelt werden.

Die Ergebnisse einer seit 1995 an der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführten Studie zum "Frauenschwund" in akademischen und speziell medizinischen Berufen liefern erste Hinweise. Die Sozialpsychologin Professor Dr. Andrea Abele-Brehm berichtet von einer "Berufsverlaufsschere". Die nach dem AiP beurteilten Frauen sehen ihre beruflichen Erfolgs- und Aufstiegschancen deutlich pessimistischer und ihr berufliches Selbstvertrauen ist deutlich niedriger als das ihrer männlichen Kollegen. Bei Ärztinnen mit Kindern ist der "Karriereknick" noch deutlicher als bei Ärztinnen ohne Kinder.

Die besagte Studie zeigt aber auch, dass nicht nur die Frauen an einer Veränderung interessiert sind, sondern auch Männer eine stärkere Vereinbarung der beiden Lebenswelten Beruf und Privatleben mit Familie wünschen.

Die veränderten Rollenerwartungen beträfen also ebenso die Männer. So ist beispielsweise das Stereotyp des kraftstrotzenden, permanent leistungsstarken, unermüdlichen, stets rational entscheidenden, erfolgreichen Chirurgen zum einen irrational und zum anderen nicht erreichbar.

(Beifall)

Darüber hinaus steht es in einem eklatanten Widerspruch zu weiteren gesellschaftlichen Erwartungen an moderne Männer in der heutigen Zeit. Die erwähnte aktive Teilnahme am Familienleben - Kindererziehung, Übernahme von Aufgaben im häuslichen Bereich, gemeinsame Freizeitaktivitäten - steht nach wie vor in deutlichem Widerspruch zu der beruflichen zeitlichen Beanspruchung und ist darüber hinaus mit einem männlichen Negativimage belegt. Selbst die im beruflichen Bereich heutzutage geforderten Team- und Kommunikationsfähigkeiten stehen im Widerspruch zu dem, was bei Männern im bisherigen System gefördert wird. Schulpädagogische Forschungsergebnisse - so Joachim Schröder 1995 - zeigen, dass die Schule auch den Jungen keine Möglichkeiten bietet, über tradierte Rollenerwartungen hinauszuwachsen.

Es stellt sich nun erneut die Frage: Wo liegt die Chance zur Umsetzung neuer Ideen und Strukturen bzw. wo sehe ich eine derartige Chance?

Die Basis einer möglichen Veränderung liegt zweifellos in der Schaffung adäquater Rahmenbedingungen, die in der Regelung der Arbeitszeit, der Bereitstellung von Kinderbetreuung etc. bestehen. Diese Rahmenpunkte wurden in der letzten Zeit und auch hier häufig thematisiert.

Die das System verändernde Chance kann sich aber nur dann entwickeln, wenn wir ferner beginnen, eine sorgfältige Analyse der Ist-Situation bezüglich der Rollenstereotypien sowohl der weiblichen wie der männlichen Rollenerwartungen vorzunehmen. Eines der bisher wenigen Beispiele ist die Arbeit von Frau Privatdozent Dr. Dr. Margret Zuber aus Leipzig an der Elite-Forschungseinrichtung MIT, dem Massachusetts Institute of Technology in Boston, die beschrieben hat, welche Ungleichheiten zwischen hochrangigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Universität bezüglich Gehalt, Drittmittelverteilung, Laborflächenzuweisung usw. bestehen.

Aufgrund einer ersten beschreibenden Bestandsaufnahme wurde am MIT eine ständige Kommission eingerichtet, die die Gleichbehandlung überwachte. Aus der Analyse dieser beschreibenden Untersuchung wird klar, dass erstens eine Motivation zur Analyse des Systems bestehen muss; dass Veränderungen nur dann stattfinden können, wenn eine sorgfältige Bestandsanalyse durchgeführt wurde; Transparenz bezüglich der Ergebnisse geschaffen wird und damit eine Veränderung des Bewusstseinsgrades erwirkt wird; dass ein Interesse besteht, diese Veränderungen einzuleiten - am MIT durch Einrichtung einer Kommission -, um das wissenschaftliche Potenzial der Kolleginnen zu nutzen; dass auf
oberster Ebene ein Gremium eingesetzt wird, welches befugt ist, bestehende hierarchische Verhältnisse zu verändern.

Übertragen auf die bundesdeutschen Verhältnisse stellt sich da die Frage: Wie könnten wir jetzt konkret vorgehen bzw. was ist die Ist-Situation bezüglich der fünf zuletzt genannten Punkte?
Die Antwort beginnt mit Punkt 1 der Liste, der Motivation. Der Umfang der Motivation in Bezug auf die Änderung der Rahmenbedingungen ist für mich nicht abzuschätzen, da die meisten Veränderungen derzeit aufgrund der veränderten Gesetzgebung - beispielsweise Arbeitszeitgesetz, EU-Richtlinien, Veränderungen im Gesundheitssystem, z. B. DRG-Einführung - und somit unter einem Druck von außen und nicht von innen stattfinden.

Die Motivation zur Einleitung weiterer Veränderungen an Hochschulen auf der Basis einer Systemanalyse halte ich zum aktuellen Zeitpunkt für äußerst gering. Ein Grund dafür ist anzunehmenderweise, dass die in der derzeitigen Situation notwendigen Maßnahmen, bedingt durch Arbeitszeitgesetzgebung, DRG-Einführung, Krankenhausbedarfsplanung usw., enorme Ressourcen binden bzw. zum Großteil noch ungelöste Probleme darstellen.

Zusätzlich ist anzunehmen, dass die Idee einer Analyse der tradierten Hierarchieverhältnisse sowie die Ableitung von Vorschlägen zu ihrer Veränderung nicht gerade bei denen die große Begeisterung auslöst, die von dem bestehenden System am meisten profitieren. Verständlich ist daher, dass genau diejenigen neue Ideen entwickeln, deren Selbstverständnis außerhalb des Systems liegt bzw. die an der Entwicklung des Systems interessiert sind.

Was ist jetzt zu tun? Der erste Schritt wäre, dass die universitären Lehrer die aufgezeigten gesellschaftlichen Veränderungen erkennen oder erlernen - nach dem Motto "train the trainer". Dieses Training muss sich entsprechend dem Beispiel des MIT als Erstes auf die Motivation beziehen.

Da der Druck von außen, wie wir wissen, meist mehr bewirkt als sanfte Appelle, ist hierin eine Aufforderung auch an die Bundesministerin enthalten, durch die Initiierung derartiger Projekte eine Bestandsanalyse durchzuführen. Zu denken wäre beispielsweise an eine Studie, die nicht einen Geschlechtervergleich allein, sondern eine Gesamterfassung der ärztlichen Mitarbeiter an den Hochschulen bezüglich leistungsgerechter Arbeits- und Strukturbedingungen beinhaltet.
Das Ziel einer solchen Analyse wäre die Aufdeckung von nicht leistungsgemäßen Förderungsmechanismen und deren anschließende Veränderung.

(Vereinzelt Beifall)

Die Studienkonzeption müsste vorsehen, dass die Ergebnisse den beteiligten Abteilungen zurückgemeldet werden und dass nach ein bis zwei Jahren eine Re-Evaluation der Veränderung erfolgt. Somit könnte ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess eingeleitet werden.

Da die Hochschullehrer die Studentinnen, PJler und AiPler als Rollenvorbild prägen, müssen die Veränderungen zu Beginn der Ausbildung ansetzen, damit sie in zukünftigen Generationen und nicht, wie erwähnt, erst in 100 Jahren, sondern vielleicht in 20 Jahren greifen können. Zur Erhöhung der Attraktivität der klinischen Laufbahn habe ich in meiner Abteilung - ich bin erst seit dem 1. Oktober vergangenen Jahres im Amt - bereits folgende Maßnahmen eingeführt: Um eine flachere hierarchischere Strukturierung erzielen zu können, müssen zuvor die Mitarbeiter an der Verantwortungsübernahme beteiligt und somit primär erst einmal ausgebildet werden. Dies geschieht in meiner Abteilung beispielsweise durch Einbezug in konkrete Verbesserungsprojekte. Hierdurch werden die Ressourcen aller Mitarbeiter genutzt und die Motivation zur Verbesserung bei den Mitarbeitern wird gefördert. Die Beteiligung an solchen Projekten sowie die Rolle im Projekt ist nicht an die hierarchische Funktion im System gebunden, sondern hängt allein von der Funktion und der Leistungsfähigkeit der Person im Arbeitsbereich ab.

Mit der Einführung von Mitarbeitergesprächen als Mittel eines modernen Führungsinstruments werden die Mitarbeiter konkret beteiligt in der Vereinbarung ihrer Karriereziele und entsprechende Unterstützung durch die Abteilungsleitung. Darüber hinaus wurde ein externes Coaching, also ein Training für Führungskräfte im OP-Bereich, durch eine externe, vom Kliniksystem unabhängige Firma initiiert.

(Beifall)

Inwieweit diese Initiativen erfolgreich sind und einer leistungsgerechten Förderung und Einbindung von Mitarbeitern in das Gesamtsystem näher kommen, werde ich erst in zwei bis drei Jahren berichten können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Probleme des relativen Ärztemangels sind durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt. Neben der Veränderung der Rahmenbedingungen ist im medizinischen System auch ein inhaltlicher Wandel notwendig, der den sich ändernden gesellschaftlichen Strukturen Rechnung trägt. Aus diesem Grunde halte ich es für so wichtig, dass sich der Deutsche Ärztetag der Problemlösung annimmt und eine Umsetzung unterstützt.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Frau Kollegin Henne-Bruns, für diese Darstellung und die am praktischen Beispiel dargestellte Analyse.

Bevor wir zum dritten Referat kommen, möchte ich die Ehrenpräsidentin der Ärztekammer Schleswig-Holstein und frühere Kollegin im Vorstand der Bundesärztekammer, Frau Dr. Ingeborg Retzlaff, herzlich willkommen heißen.

(Beifall)

Jetzt bitte Frau Dr. Bühren.

© 2002, Bundesärztekammer.