Prof. Dr. Henne-Bruns, Referentin:
Sehr geehrter Herr Hoppe! Sehr geehrte Frau Ministerin Bulmahn!
Sehr geehrte Frau Bühren! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich darf mich zunächst einmal bei der Bundesärztekammer
für die Einladung zu diesem Referat bedanken. Die offizielle
Rolle, die ich hier repräsentiere, ist Ihnen ja bereits angekündigt
worden: Es ist die Rolle der Hochschullehrerin mit der Vertretung
des Faches Chirurgie.
Die inoffizielle Rolle dabei ist gleichzeitig die des seltenen Tieres
im Medizinerzoo. Meine persönliche Rolle dabei ist die der
berufstätigen Mutter eines sechsjährigen Sohnes mit Kenntnis
all der Facetten dieser Kombination aus Beruf und Familie.
Wenn ich Ihnen anschließend meine Ausführungen präsentiere,
werden Sie sehen, dass bei mir alle Rollen von Bedeutung sind.
Es ist bekannt, dass die Ist-Situation in der Medizin dadurch gekennzeichnet
ist, dass die Anzahl der Studienanfängerinnen mehr als 50 Prozent
beträgt, im Jahr 2001 der Anteil der Ärztinnen bei den
bestandenen ärztlichen Prüfungen 51,2 Prozent betrug,
der Anteil der berufstätigen Ärztinnen nur etwa 75 Prozent
beträgt, jedoch der Anteil der C-4-Professorinnen in den klinischen
Fächern in der Medizin nur noch 2,8 Prozent umfasst.
Die Ist-Situation in der medizinischen Versorgung ist weiterhin
gekennzeichnet durch einen relativen Ärztemangel, der unter
anderem durch die zunehmende Abwanderung von Kolleginnen und Kollegen
in nicht klinische Tätigkeiten bedingt ist.
Drittens ist die Ist-Situation dadurch gekennzeichnet, dass zur
Erlangung der Facharztweiterbildung alle klinisch tätigen Kolleginnen
und Kollegen im niedergelassenen Bereich wie im Klinikbereich während
der Facharztweiterbildung eine Klinikausbildung durchlaufen müssen,
die nach wie vor durch eine sehr starre Hierarchie gekennzeichnet
ist. Hinzu kommt, dass die Karriereziele von jungen Kollegen aufgrund
der bestehenden Abhängigkeiten innerhalb der existierenden
Hierarchie nach wie vor ausgenutzt werden.
Viertens ist die Ist-Situation der klinischen Tätigkeit gekennzeichnet
durch hohe Arbeitsbelastung, lange Arbeitszeiten und unzureichende
Versorgungsstrukturen in der Kinderbetreuung.
Fünftens ist die Ist-Situation gekennzeichnet durch einen Wandel
des Stellenwerts des Berufs im persönlichen Leben und somit
eine veränderte Wertschätzung beispielsweise des Familien-
und des sozialen Lebensbereichs.
Unter dem Titel "Ärztinnen in Klinik und Wissenschaft
- Chancen zur Umsetzung neuer Ideen und Strukturen" verbirgt
sich die Frage, welche Chancen sich derzeit überhaupt ergeben.
Die erste Chance liegt zweifellos in der Vermehrung des Ärztinnenanteils
in der klinischen Tätigkeit nicht zuletzt aufgrund einer Mangelsituation.
Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist die Nutzung der
teuren Ausbildungsinvestition natürlich sehr zu begrüßen.
Die Vermehrung des Frauenanteils führt aber per se zu keinem
Systemwandel, sondern bedeutet lediglich eine Erhöhung des
Prozentsatzes berufstätiger Kolleginnen.
Die wirkliche Chance, so meine ich, muss man an anderen Punkten
suchen. Zuvor stellt sich aber die Frage, warum wir einen Systemwandel
überhaupt benötigen.
Betrachtet man den Mangel an klinisch tätigen Ärztinnen
und Ärzten insgesamt, so ist klar, dass die bisherigen Versorgungsstrukturen
durch zunehmende Einstellung von Ärztinnen derzeit noch aufrechterhalten
werden können. Mittelfristig ist jedoch zu befürchten,
dass die jetzt bei Männern bevorzugt auftretende Abwanderungstendenz
aus der klinischen Medizin bereits in wenigen Jahren genauso von
Ärztinnen vollzogen werden wird. Sollte eine derartige Situation
eintreten, so kann sich bereits in absehbarer Zeit eine Entwicklung
einstellen, die die qualifizierte Versorgung der Bevölkerung
gefährden könnte.
Hieraus folgt, dass ein Systemwandel notwendig ist, der die Attraktivität
der klinischen Tätigkeit sowohl für Männer wie für
Frauen insgesamt erhöht. Hierzu ist es notwendig, im Detail
die Hintergründe des Attraktivitätsverlustes des Berufs
im bestehenden System zu analysieren. Dazu bedarf es einer kurzen
Betrachtung der Rollenerwartungen an Frauen und Männer.
Aus zahlreichen soziologischen Untersuchungen ist bekannt, dass
im Rollenverhalten von Männern und Frauen Stereotypien bestehen,
die sowohl von Männern als auch von Frauen übertragen
und damit erhalten werden. Schulforscherinnen haben beispielsweise
gezeigt, dass von Lehrerinnen wie von Lehrern die schulischen Leistungen
von Jungen besser bewertet werden als die von Mädchen und die
Jungen öfter aufgerufen werden als die Mädchen. Dies bedeutet
- so schloss bereits 1984 Skinningrud -, dass die schon früh
in der Schule gelernte Geringschätzung der Leistungen von Mädchen
die Entwicklung von deren Selbstwertgefühl negativ beeinträchtigt.
Inwieweit ein derartiges Beurteilungsmuster von Frauen gegenüber
anderen Frauen an der Hochschule bei der Auswahl und der Förderung
der Studentinnen, der Ärztinnen oder der Professorinnen eine
Fortführung erfährt, ist nicht ausreichend untersucht.
Vor diesem Hintergrund ist aber die Forderung nach weiblichen Rollenvorbildern
unter akademischen Gesichtspunkten ein wenig zu hinterfragen, da
nicht bekannt ist, wie viel stereotype Rollenvorbilder hierbei weitervermittelt
werden.
Die Ergebnisse einer seit 1995 an der Universität Erlangen-Nürnberg
durchgeführten Studie zum "Frauenschwund" in akademischen
und speziell medizinischen Berufen liefern erste Hinweise. Die Sozialpsychologin
Professor Dr. Andrea Abele-Brehm berichtet von einer "Berufsverlaufsschere".
Die nach dem AiP beurteilten Frauen sehen ihre beruflichen Erfolgs-
und Aufstiegschancen deutlich pessimistischer und ihr berufliches
Selbstvertrauen ist deutlich niedriger als das ihrer männlichen
Kollegen. Bei Ärztinnen mit Kindern ist der "Karriereknick"
noch deutlicher als bei Ärztinnen ohne Kinder.
Die besagte Studie zeigt aber auch, dass nicht nur die Frauen an
einer Veränderung interessiert sind, sondern auch Männer
eine stärkere Vereinbarung der beiden Lebenswelten Beruf und
Privatleben mit Familie wünschen.
Die veränderten Rollenerwartungen beträfen also ebenso
die Männer. So ist beispielsweise das Stereotyp des kraftstrotzenden,
permanent leistungsstarken, unermüdlichen, stets rational entscheidenden,
erfolgreichen Chirurgen zum einen irrational und zum anderen nicht
erreichbar.
(Beifall)
Darüber hinaus steht es in einem eklatanten Widerspruch zu
weiteren gesellschaftlichen Erwartungen an moderne Männer in
der heutigen Zeit. Die erwähnte aktive Teilnahme am Familienleben
- Kindererziehung, Übernahme von Aufgaben im häuslichen
Bereich, gemeinsame Freizeitaktivitäten - steht nach wie vor
in deutlichem Widerspruch zu der beruflichen zeitlichen Beanspruchung
und ist darüber hinaus mit einem männlichen Negativimage
belegt. Selbst die im beruflichen Bereich heutzutage geforderten
Team- und Kommunikationsfähigkeiten stehen im Widerspruch zu
dem, was bei Männern im bisherigen System gefördert wird.
Schulpädagogische Forschungsergebnisse - so Joachim Schröder
1995 - zeigen, dass die Schule auch den Jungen keine Möglichkeiten
bietet, über tradierte Rollenerwartungen hinauszuwachsen.
Es stellt sich nun erneut die Frage: Wo liegt die Chance zur Umsetzung
neuer Ideen und Strukturen bzw. wo sehe ich eine derartige Chance?
Die Basis einer möglichen Veränderung liegt zweifellos
in der Schaffung adäquater Rahmenbedingungen, die in der Regelung
der Arbeitszeit, der Bereitstellung von Kinderbetreuung etc. bestehen.
Diese Rahmenpunkte wurden in der letzten Zeit und auch hier häufig
thematisiert.
Die das System verändernde Chance kann sich aber nur dann
entwickeln, wenn wir ferner beginnen, eine sorgfältige Analyse
der Ist-Situation bezüglich der Rollenstereotypien sowohl der
weiblichen wie der männlichen Rollenerwartungen vorzunehmen.
Eines der bisher wenigen Beispiele ist die Arbeit von Frau Privatdozent
Dr. Dr. Margret Zuber aus Leipzig an der Elite-Forschungseinrichtung
MIT, dem Massachusetts Institute of Technology in Boston, die beschrieben
hat, welche Ungleichheiten zwischen hochrangigen Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern an der Universität bezüglich Gehalt,
Drittmittelverteilung, Laborflächenzuweisung usw. bestehen.
Aufgrund einer ersten beschreibenden Bestandsaufnahme wurde am
MIT eine ständige Kommission eingerichtet, die die Gleichbehandlung
überwachte. Aus der Analyse dieser beschreibenden Untersuchung
wird klar, dass erstens eine Motivation zur Analyse des Systems
bestehen muss; dass Veränderungen nur dann stattfinden können,
wenn eine sorgfältige Bestandsanalyse durchgeführt wurde;
Transparenz bezüglich der Ergebnisse geschaffen wird und damit
eine Veränderung des Bewusstseinsgrades erwirkt wird; dass
ein Interesse besteht, diese Veränderungen einzuleiten - am
MIT durch Einrichtung einer Kommission -, um das wissenschaftliche
Potenzial der Kolleginnen zu nutzen; dass auf
oberster Ebene ein Gremium eingesetzt wird, welches befugt ist,
bestehende hierarchische Verhältnisse zu verändern.
Übertragen auf die bundesdeutschen Verhältnisse stellt
sich da die Frage: Wie könnten wir jetzt konkret vorgehen bzw.
was ist die Ist-Situation bezüglich der fünf zuletzt genannten
Punkte?
Die Antwort beginnt mit Punkt 1 der Liste, der Motivation. Der Umfang
der Motivation in Bezug auf die Änderung der Rahmenbedingungen
ist für mich nicht abzuschätzen, da die meisten Veränderungen
derzeit aufgrund der veränderten Gesetzgebung - beispielsweise
Arbeitszeitgesetz, EU-Richtlinien, Veränderungen im Gesundheitssystem,
z. B. DRG-Einführung - und somit unter einem Druck von außen
und nicht von innen stattfinden.
Die Motivation zur Einleitung weiterer Veränderungen an Hochschulen
auf der Basis einer Systemanalyse halte ich zum aktuellen Zeitpunkt
für äußerst gering. Ein Grund dafür ist anzunehmenderweise,
dass die in der derzeitigen Situation notwendigen Maßnahmen,
bedingt durch Arbeitszeitgesetzgebung, DRG-Einführung, Krankenhausbedarfsplanung
usw., enorme Ressourcen binden bzw. zum Großteil noch ungelöste
Probleme darstellen.
Zusätzlich ist anzunehmen, dass die Idee einer Analyse der
tradierten Hierarchieverhältnisse sowie die Ableitung von Vorschlägen
zu ihrer Veränderung nicht gerade bei denen die große
Begeisterung auslöst, die von dem bestehenden System am meisten
profitieren. Verständlich ist daher, dass genau diejenigen
neue Ideen entwickeln, deren Selbstverständnis außerhalb
des Systems liegt bzw. die an der Entwicklung des Systems interessiert
sind.
Was ist jetzt zu tun? Der erste Schritt wäre, dass die universitären
Lehrer die aufgezeigten gesellschaftlichen Veränderungen erkennen
oder erlernen - nach dem Motto "train the trainer". Dieses
Training muss sich entsprechend dem Beispiel des MIT als Erstes
auf die Motivation beziehen.
Da der Druck von außen, wie wir wissen, meist mehr bewirkt
als sanfte Appelle, ist hierin eine Aufforderung auch an die Bundesministerin
enthalten, durch die Initiierung derartiger Projekte eine Bestandsanalyse
durchzuführen. Zu denken wäre beispielsweise an eine Studie,
die nicht einen Geschlechtervergleich allein, sondern eine Gesamterfassung
der ärztlichen Mitarbeiter an den Hochschulen bezüglich
leistungsgerechter Arbeits- und Strukturbedingungen beinhaltet.
Das Ziel einer solchen Analyse wäre die Aufdeckung von nicht
leistungsgemäßen Förderungsmechanismen und deren
anschließende Veränderung.
(Vereinzelt Beifall)
Die Studienkonzeption müsste vorsehen, dass die Ergebnisse
den beteiligten Abteilungen zurückgemeldet werden und dass
nach ein bis zwei Jahren eine Re-Evaluation der Veränderung
erfolgt. Somit könnte ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess
eingeleitet werden.
Da die Hochschullehrer die Studentinnen, PJler und AiPler als Rollenvorbild
prägen, müssen die Veränderungen zu Beginn der Ausbildung
ansetzen, damit sie in zukünftigen Generationen und nicht,
wie erwähnt, erst in 100 Jahren, sondern vielleicht in 20 Jahren
greifen können. Zur Erhöhung der Attraktivität der
klinischen Laufbahn habe ich in meiner Abteilung - ich bin erst
seit dem 1. Oktober vergangenen Jahres im Amt - bereits folgende
Maßnahmen eingeführt: Um eine flachere hierarchischere
Strukturierung erzielen zu können, müssen zuvor die Mitarbeiter
an der Verantwortungsübernahme beteiligt und somit primär
erst einmal ausgebildet werden. Dies geschieht in meiner Abteilung
beispielsweise durch Einbezug in konkrete Verbesserungsprojekte.
Hierdurch werden die Ressourcen aller Mitarbeiter genutzt und die
Motivation zur Verbesserung bei den Mitarbeitern wird gefördert.
Die Beteiligung an solchen Projekten sowie die Rolle im Projekt
ist nicht an die hierarchische Funktion im System gebunden, sondern
hängt allein von der Funktion und der Leistungsfähigkeit
der Person im Arbeitsbereich ab.
Mit der Einführung von Mitarbeitergesprächen als Mittel
eines modernen Führungsinstruments werden die Mitarbeiter konkret
beteiligt in der Vereinbarung ihrer Karriereziele und entsprechende
Unterstützung durch die Abteilungsleitung. Darüber hinaus
wurde ein externes Coaching, also ein Training für Führungskräfte
im OP-Bereich, durch eine externe, vom Kliniksystem unabhängige
Firma initiiert.
(Beifall)
Inwieweit diese Initiativen erfolgreich sind und einer leistungsgerechten
Förderung und Einbindung von Mitarbeitern in das Gesamtsystem
näher kommen, werde ich erst in zwei bis drei Jahren berichten
können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Probleme des relativen
Ärztemangels sind durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt.
Neben der Veränderung der Rahmenbedingungen ist im medizinischen
System auch ein inhaltlicher Wandel notwendig, der den sich ändernden
gesellschaftlichen Strukturen Rechnung trägt. Aus diesem Grunde
halte ich es für so wichtig, dass sich der Deutsche Ärztetag
der Problemlösung annimmt und eine Umsetzung unterstützt.
Vielen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank, Frau Kollegin Henne-Bruns, für diese Darstellung
und die am praktischen Beispiel dargestellte Analyse.
Bevor wir zum dritten Referat kommen, möchte ich die Ehrenpräsidentin
der Ärztekammer Schleswig-Holstein und frühere Kollegin
im Vorstand der Bundesärztekammer, Frau Dr. Ingeborg Retzlaff,
herzlich willkommen heißen.
(Beifall)
Jetzt bitte Frau Dr. Bühren.
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