Anhang A
Beschlüsse und Entschließungen

TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG I - 26

Auf Antrag von Dr. Lorenzen (Drucksache I-26) fasst der 105. Deutsche Ärztetag folgende Entschließung:

Das Gesundheitswesen ist mehr als ein Wirtschaftszweig!

Ökonomisches Effizienzdenken gefährdet den humanen Umgang mit kranken Menschen!

"Kostenexplosion im Gesundheitswesen", "Beitragsstabilität in der Krankenversicherung" - das sind die Schlagworte, die in den letzten Jahren zunehmend die politische Reformdiskussion im Gesundheitswesen geprägt haben. Die Vorschläge zur Umgestaltung unseres Gesundheitswesens haben aufgrund der Dominanz ökonomischer Denkansätze inzwischen eine so bedrohliche Schieflage hervorgerufen, dass wir als Beschäftigte im Gesundheitswesen hierzu nicht mehr schweigen dürfen. Ein großer Kongress der IPPNW - Ärzte in sozialer Verantwortung zum Thema "Medizin und Gewissen" vom 24.-27. Mai 2001 mit über 1500 Teilnehmern hat auch in vielen Themenbereichen eindringlich deutlich gemacht, dass die derzeit beschlossenen und teilweise bereits umgesetzten Veränderungen der gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in zunehmenden Maße den humanen und ganzheitlichen Umgang mit den uns anvertrauten Kranken gefährden. Für den klinik-ärztlichen Alltag hat Konrad Görg im Deutschen Ärzteblatt (Heft 18, 4. Mai 2001, Jahrgang 98) unter dem Titel "Wandel um jeden Preis - Klinikärzte im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, Technik und Menschlichkeit" eine schonungslose, aber zutreffende Analyse geliefert. Er weist darauf hin, dass "ärztliches Handeln mehr und mehr durch einseitige wirtschaftliche Vorgaben gesteuert und zu einer ökonomischen Ressource reduziert wird". Er fragt zu recht: "Wo bleiben jedoch die für Arzt und Patient notwendigen menschlichen Rahmenbedingungen, wenn in den Krankenhäusern, wie überall in der Gesellschaft, zunehmend nur das Zweckhafte, Nützliche und Wirtschaftliche wertgeschätzt und die einzige ernsthafte Kommunikation nur in der Sprache der Technik, Wissenschaft oder Ökonomie erfolgt?"

Ab 2003 werden Ärzte in Zukunft zusätzlich die Hauptaufgabe bei der Implementierung eines neuen Entgeltsystems (DRG) übernehmen müssen. Dieses System reduziert den Patienten zu einer Summation von möglichst vielen Diagnosen und unseren ärztlichen Umgang zu einer Auflistung abrechnungsfähiger sogenannter Prozeduren. Das Ziel ärztlichen Handelns ist dann nur noch das wirtschaftliche Überleben des Krankenhauses/der Abteilung, Patienten werden degradiert zu Objekten wirtschaftlicher Ausbeutung. Parallel hierzu werden noch mehr als bisher nur abrechenbare technische Leistungen den Wert der ärztlichen Tätigkeit bestimmen. Menschliche Zuwendung, Eingehen auf die individuellen Wünsche und Ängste der Patienten werden dabei unweigerlich auf der Strecke bleiben. Dieser Strukturwandel wird sich innerhalb kurzer Zeit auch nachhaltig auf das ärztliche Selbstverständnis auswirken.

Die Delegierten des 105. Deutschen Ärztetages sind bestürzt über die Entwicklung. Da die politisch gestaltenden Kräfte in diesem Land, insbesondere die im Bundestag vertretenen Parteien, sich in ihren gesundheitspolitischen Programmen inzwischen grundsätzlich kaum noch unterscheiden und insbesondere in wesentlichen Punkten alle auf eine ökonomische Effizienzsteigerung aller Institutionen im Gesundheitswesen als Allheilmittel festgelegt haben, ist die öffentliche Debatte über die zukünftige Entwicklung unseres Gesundheitswesens in eine gefährliche Schieflage geraten. Die wichtigste Säule unseres Gesundheitssystems seit der Bismarck´schen Sozialpolitik - die Solidarität der Gesunden mit den Kranken - ist heute in Gefahr! Die wichtigsten Effizienzreserven sind in allen Institutionen unseres Gesundheitswesens im wesentlichen ausgeschöpft. Was fehlt, ist ein Mehr an menschlicher Zuwendung und individueller Betreuung der uns anvertrauten Kranken, das mit den verschärften und inzwischen unerträglichen Arbeitsbedingungen sowohl in der Klinik als auch in der Praxis nicht mehr geleistet werden kann. Die Tatsache, dass seit Jahrzehnten derselbe Anteil unseres Bruttosozialproduktes für Gesundheitsleistungen aufgewendet wird, obwohl, der Anteil alter und damit kränkerer Menschen ebenso wie der teure medizinische Fortschritt erheblich zugenommen haben, spricht dagegen, dass wir es heute überhaupt mit einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu tun haben. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, was uns unsere Gesundheit im Vergleich mit anderen Bereichen unseres Lebens tatsächlich wert ist. An dieser Diskussion müssen sich möglichst viele beteiligen. Es geht dabei nicht um für Ärzte mehr Geld oder einen größeren Profit der Pharmaindustrie, sondern um den Stellenwert, den wir der Prävention, der Behandlung kranker Menschen aller sozialer Schichten sowie der Rehabilitation zur Wiedereingliederung in ein möglichst selbst bestimmtes Leben nach durchgemachter Krankheit geben wollen.

Die Delegierten des 105. Deutschen Ärztetages wollen mit diesem Aufruf in letzter Minute vor einer wirtschaftlich zwar effizienten, für die Betroffenen jedoch unmenschlichen Entwicklung unseres Gesundheitswesens warnen. Ohne eine Neuorientierung aller derzeitigen Reformbemühungen, die den hohen Wert der Gesundheitserhaltung aller Mitglieder unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt, werden wir schon heute, in naher Zukunft aber erst recht den Bedürfnissen der uns anvertrauten Patientinnen und Patienten nicht gerecht werden können!

© 2001, Bundesärztekammer.