Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer und Präsidium
der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen-Medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF) (Drucksache II-1) unter Berücksichtigung der Anträge
von Dr. Dietz (Drucksache II-1b), Herrn Henke (Drucksache II-1c),
Dr. Emminger, Prof. Dr. Lob (Drucksache II-1d) und Dr. Deeg (Drucksache
II-1e) fasst der 105. Deutsche Ärztetag mit großer Mehrheit
folgende Entschließung:
Der Deutsche Ärztetag stellt fest:
· Immer neue "Gesundheitsreformen" haben die Patientenversorgung
in eine bedrohliche Situation gebracht.
· Bürokratie und Rationierungsvorgaben engen den Entscheidungs-
und Handlungsspielraum der Ärztinnen und Ärzten immer
mehr ein.
· Nicht mehr allein medizinisch begründete Ziele einer
spezifischen und individuellen Patientenversorgung bestimmen die
Inhalte ärztlicher Berufsausübung, sondern zunehmend
fiskalische Vorgaben und praxisferner Expertenrat.
· Maßgebend für die Fortentwicklung der Medizin
und die Weiterentwicklung medizinischer Inhalte ist allein die
wissenschaftliche Erkenntnis, gewonnen von der medizinischen Wissenschaft
in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen; die Behandlung der
individuellen Patienten erfolgt nach dem jeweiligen aktuellen
Stand von medizinischer Wissenschaft und Technik sowie der ärztlichen
Erfahrung.
· Externe, an Vorgaben orientierte Institute, die die Qualität
des ärztlichen Handelns vorschreiben wollen, werden als systemfremd
und nicht qualitätsfördernd abgelehnt.
· Eine ausschließlich statistisch/epidemiologisch begründete
Medizin ohne Berücksichtigung klinischer Erkenntnisse wird
abgelehnt. Eine schematisierte Medizin verursacht permanente Über-,
Unter- und Fehlversorgungen, da ein starres Maßnahmenbündel
zur Anwendung gelangt, ohne Ansehen des Einzelfalls;
· Leitlinien sind ein modernes Instrument zur komprimierten
Darstellung von Diagnose und Therapie von Krankheitsbildern entsprechend
dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik und ein wertvolles
Hilfsmittel zur Absicherung von diagnostischen und therapeutischen
Prozeduren im Einzelfall. Leitlinien sind Orientierungshilfen.
· Allein der Patient in seiner individuellen medizinischen
Situation und mit seinem Willen muss die Begründung für
die diagnostischen und therapeutischen Verfahren sein; die Entscheidungs-
und Handlungsfreiheit von Patient und Arzt müssen erhalten
bleiben. Patient/Patientin und Arzt/Ärztin müssen auch
in ihrer Entscheidung frei bleiben, Maßnahmen in Therapie
und Diagnostik unterlassen zu können.
Der Deutsche Ärztetag fordert deshalb:
· eine Gesundheitspolitik, die Heilungschancen für
Patientinnen und Patienten höher bewertet als inflexible
ökonomische Vorgaben;
· das Primat einer wissenschaftlich begründeten Medizin
gegenüber unsachgemäßen Eingrenzungen der therapeutischen
Möglichkeiten durch inflexible, standardisierte Vorgaben;
· das Vertrauensverhältnis von Patient und Arzt nicht
durch externe steuernde Eingriffe Dritter (z. B. im Rahmen strukturierter
Versorgungsprogramme) zu beeinträchtigen;
· den Schutz ärztlicher Verantwortung und Autonomie
bei Vertragsabschlüssen innerhalb der Selbstverwaltung durch
ärztliche Körperschaften.
Gefahren einseitig politisch geprägter Gesundheitspolitik
In der aktuellen Diskussion zur Reform des Gesundheitssystems
durch Maßnahmen für eine effektivere und effizientere
Ressourcennutzung wird häufig derjenige außer acht
gelassen, um den es eigentlich geht: der kranke Mensch. Alle geben
vor, die Interessen der Patienten zu vertreten, doch zumeist erfolgt
nur Rationierung von Sozialversicherungsleistungen und Umverteilung
von Steuern im Interesse von Kostenträgern. Gegenseitige
Schuldzuweisungen sind ebenso wenig hilfreich wie hektischer Aktionismus
durch den Erlass von Richtlinien, Vorschriften und Gesetzen. Im
allseitigen Bemühen zur Entwicklung neuer Strukturen und
Organisationen werden die originären Ziele einer effektiven
Krankenversorgung immer mehr aus dem Blick verloren.
In dieser Analyse stimmen Bundesärztekammer (BÄK) und
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen-Medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF) überein. Gemeinsam fordern sie, die Rahmenbedingungen
ärztlicher Berufsausübung so zu gestalten, dass eine
patientenzentrierte, qualitätvolle Versorgung in Deutschland
wieder möglich wird. Dabei geht es vor allem darum, von Seiten
der Ärzteschaft und der medizinischen Wissenschaft nachdrücklich
den zentralen Auftrag aller Beteiligten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung
zu erfüllen.
Gesundheit im gesellschaftlichen Wandel
Bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel haben sich auf dem
Hintergrund des wachsenden Wohlstandes die Bedürfnisse und
Ansprüche der Bevölkerung geändert. Während
früher Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit bzw. Notwendigkeit
medizinischer Behandlung verstanden wurde, scheint sich mehr und
mehr die kollektive Erwartung von "vollständigem körperlichen,
psychischen und sozialen Wohlbefinden" durchzusetzen. Die
stetig steigende Inanspruchnahme der Leistungen sowie der daraus
resultierende Anstieg der Ausgaben der Sozialleistungsträger
und Versicherungen sind eine Konsequenz dieser gesellschaftlichen
Entwicklung. Das zunehmende Wissen um Einflüsse von Ernährung,
Lebensführung, Umwelt etc. auf die Gesundheit hat ein steigendes
Angebot an neuen gesundheitsbezogenen Waren und Dienstleistungen
ermöglicht, so dass ein dynamisch wachsender Gesundheitsmarkt
entstanden ist, der um "Kunden" wirbt. Die medizinische
Wissenschaft hat große Fortschritte in der Verbesserung
diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen erzielt. Die
Folge ist, dass das System der Gesundheitsversorgung in seiner
Vielschichtigkeit und seiner Vielfalt - wenn überhaupt -
nur noch für Experten überschaubar ist. Dadurch ergeben
sich nicht nur Probleme für die gesundheitspolitische Steuerung,
sondern für die kranken Menschen und für die Menschen,
die selbstverantwortlich und aktiv ihre Gesundheit erhalten wollen.
Die Versicherten und Patienten können die Informationsflut
in den Medien, die vielfältig sich widersprechenden politischen
Stellungnahmen und Gutachten kaum verstehen, für die eigene
Meinungsbildung nutzen und im Fall eigener Betroffenheit durch
Gesundheitsstörungen und Krankheiten umsetzen .
Deprofessionalisierung des Arztberufes
Wichtig für eine hohe Qualität der Patientenversorgung
ist die zentrale Funktion der Ärztinnen und Ärzte bei
Diagnose, Therapie und Prävention.
Die Rolle des Arztes erfährt heute im Zuge gesellschaftlicher
Prozesse eine Neudefinition dadurch, dass die Entscheidungsbefugnis
der Ärztinnen und Ärzte über die von ihnen zu leistenden
Tätigkeiten eingeengt wird. Der Arzt hat in seinen ureigenen
Tätigkeitsfeldern zunehmend externe Vorschriften zu berücksichtigen.
Dazu gehören fiskalpolitische und verfahrenstechnische Vorschriften
bei hohem Dokumentationsaufwand und viel Bürokratie. Der
Arzt wird damit vom Gestalter zum Mitgestalter, vom Verantwortlichen
zum Mitverantwortlichen. Die Selbstständigkeit des Arztes
- wann, wie lange und zu welchen Kosten an Patienten medizinische
Maßnahmen durchzuführen sind - unterliegt dabei zunehmend
öffentlicher Kritik und Einflussnahme.
Ein herausragender Faktor dieser Entwicklung ist das aktuelle
Krankenkassensystem mit seiner mittlerweile in den Vordergrund
getretenen Steuerungsfunktion.
In besonderem Maße fördert das System der Krankenkassen
mit seiner übermächtigen Steuerungsfunktion diese Deprofessionalisierung
des Arztberufes.
Die Krankenkassen haben sich im Laufe der Jahrzehnte von der
ihnen übertragenen Mittler- und Finanzierungsfunktion grundlegend
entfernt. Die unternehmerische Dynamik der Krankenkassen lässt
sie um Umsätze und Marktanteile kämpfen und ökonomische
Ziele verfolgen. Sie sind eigenständige Wirtschaftsunternehmen,
die sich am Wettbewerb beteiligen, auf die Gestaltung des Gesundheitswesens
maßgeblich Einfluss nehmen und die fachliche Berufsausübung
der Ärzte beeinflussen.
Die gesellschaftlich gewollte Entwicklung der Entsolidarisierung
des sozialen Krankenversicherungssystems, seine stärkere
Durchdringung mit ökonomischen Fragestellungen findet ihren
Niederschlag auch in der ärztlichen Berufsausübung.
Die Deprofessionalisierung des Arztberufes hat schließlich
auch Folgewirkungen auf die Einheit des Berufsstandes: die Ärzteschaft
wird dividierbar, dies ist mit erheblichen politischen Nachteilen
verbunden.
Der ärztliche Auftrag
Seit Hippokrates gilt als zentrale Maxime der Medizin: Salus
aegroti suprema lex. Der kranke Mensch wünscht sich Ärztinnen
und Ärzte,
- die bei optimaler fachlicher Beratung und Behandlung versuchen,
ihn in seinem Leiden zu verstehen.
- die sich Zeit nehmen, um zuzuhören und dann die Erkenntnisse
der medizinischen Wissenschaft verantwortungsbewusst auf die jeweilige
individuelle Krankheitsproblematik und Gesundheitssituation anwenden.
- die gelernt haben, mit ihrem Patienten dessen Krankheiten und
Gesundheitsprobleme zu diagnostizieren und gemeinsam Entscheidungen
über Therapiemaßnahmen zu treffen und erfolgreich durchzuführen.
Diese Anforderungen an den Arzt sind hoch - stellen aber den Kern
ärztlicher Tätigkeit dar.
Kranke wollen nicht als Kunden, sondern als Menschen mit persönlichen
Gesundheitsproblemen behandelt werden. Der Arzt soll diese auf
der Basis seiner wissenschaftlichen Schulung und Erfahrung erkennen,
angemessen beurteilen und behandeln. Sie wollen nicht als "ICD-Codes",
nicht als "DRG-Fälle" und nicht nach bürokratischen
Vorgaben in Form von Richtlinien abgearbeitet werden.
Die individuelle Behandlung von Patienten und die Anwendung wissenschaftlich
begründeter Leitlinien sind keine Gegensätze, sondern
müssen sinnvoll miteinander verbunden werden. Dazu ist es
notwendig, die Entscheidungskompetenzen des einzelnen Arztes und
seines Patienten zur Nutzung von Informationen über den aktuellen
Stand der medizinischen Wissenschaft (d. h. durch Leitlinien)
für die jeweils besondere Situation des kranken Menschen
zu stärken.
Die deutsche Ärzteschaft wird darauf hinwirken, den gesellschaftlichen
Auftrag zu erfüllen, kranken Menschen zu helfen soweit als
möglich wieder gesund zu werden und gesunden Menschen zu
helfen, soweit als möglich gesund zu bleiben.
Wissenschaftlich begründetes und patientenorientiertes
ärztliches Handeln
Wissenschaftlich begründete Leitlinien können für
den praktizierenden Arzt wichtige Hilfsmittel sein, um jederzeit
den aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu nutzen.
Allerdings dürfen "Evidenzbasierte Medizin"(EBM)",
pauschalierende Abrechnungssysteme ("diagnosis related groups",
DRGs) und strukturierte Behandlungsprogramme ("disease management
programs", (DMPs) nicht instrumentalisiert werden, um Patienten
zu typisieren und deren Behandlungsabläufe zu schematisieren.
In der individuellen Behandlung eines kranken Menschen kann der
Arzt seiner Aufgabe zur Berücksichtigung der jeweils besonderen
organischen, psychischen und sozialen Bedingungen nur gerecht
werden, wenn er im Einvernehmen mit seinem Patienten gleichermaßen
die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft und seine beruflichen
Erfahrungen umsetzt. Ärztliche Kunst besteht in der verantwortungsbewussten
Anwendung von verallgemeinerbaren Gesetzmäßigkeiten,
von Wissen und ärztlicher Erfahrung auf den besonderen, einmaligen
Fall. Mit dem vom Patienten erteilten Behandlungsauftrag übernimmt
der Arzt nicht nur die Verpflichtung, dessen Interessen zu vertreten
(der Arzt als Anwalt des Kranken), sondern auch eine besondere
Verantwortung zur Zusammenarbeit in unserem komplexen Gesundheitsversorgungssystem.
· 1 der Bundesärzteordnung (BÄO) verpflichtet
den Arzt zum Dienst an der Gesundheit des einzelnen Menschen und
der gesamten Bevölkerung. Daraus folgt, dass es nicht nur
das Recht, sondern geradezu die Pflicht der ärztlichen Selbstverwaltung
ist, gesundheitspolitische Fehlentscheidungen entgegenzutreten,
insbesondere solche, die in eine Gesundheitsversorgung ohne angemessene
Beteiligung praktischen ärztlichen Sachverstandes führen.
Die Qualitätssicherung in der Gesundheitsversorgung ist
nur dann sinnvoll, wenn gewährleistet ist, dass das ärztliche
Erfahrungswissen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medizin
gleichermaßen genutzt und die spezifischen Bedingungen der
medizinischen Praxis berücksichtigt werden.
Die ärztlichen Selbstverwaltungsgremien haben zudem mit
der von der Selbstverwaltung getragenen Einrichtung der Ärztlichen
Zentralstelle Qualitätssicherung (ÄZQ) dazu einen wesentlichen
Beitrag geleistet. Ein zentrales Nationales Institut für
Qualitätssicherungsfragen mit möglicherweise politischen
Vorgaben lehnt der Deutsche Ärztetag entschieden ab. Solchen
Nationalen Gesundheitsdiensten entlehnte Institute stoßen
auf Skepsis und Ablehnung.
Die deutsche Ärzteschaft muss jeder Form einer Medizin,
die den Ärzten starre Vorgaben macht, eine klare Absage erteilen.
Bevormundungen durch normsetzende Eingriffsverwaltungen und "Gesundheitsexperten"
mit einseitiger ökonomischer Ausrichtung gefährden ein
vertrauensvolles Patienten-Arzt-Verhältnis und missachten
sowohl den Willen als auch das Wohl der Patienten, die in ihrer
Autonomie zu respektieren sind.