Dienstag, 20. Mai 2003, 10.00 Uhr
Birgit Fischer, MdL, Ministerin
für
Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen:
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Schramma! Sehr
geehrter Herr Präsident Professor Hoppe! Sehr geehrte Frau Ministerin
Schmidt! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich begrüße Sie alle recht
herzlich hier in Nordrhein-Westfalen zum 106. Deutschen Ärztetag.
Ich freue mich, dass Sie heute hier in Köln, in Nordrhein-Westfalen,
tagen.
Als Landesgesundheitsministerin verberge ich natürlich
nicht, dass es ein Wermutstropfen für mich ist, wenn ich daran denke, dass dies
vielleicht der letzte Ärztetag hier in Nordrhein-Westfalen ist. Ich bin mir
sicher, dass die Zusammenarbeit zwischen der Bundesärztekammer und dem Land
Nordrhein-Westfalen auch in Zukunft gut sein wird. Nach der wunderbaren
Einleitung und diesem wunderschönen Raum hier denke ich, dass dieser Ärztetag
bei Ihnen in guter Erinnerung bleibt und es vielleicht ab und zu doch den
Wunsch gibt, gelegentlich einen Abstecher nach Nordrhein-Westfalen zu machen.
(Beifall)
Ich begrüße Sie hier auch recht herzlich im Namen des
Ministerpräsidenten Peer Steinbrück.
Ich bedanke mich bei Ihnen, dass ich die Gelegenheit habe,
vor dem Parlament der deutschen Ärzteschaft heute einige einleitende Worte zu
sagen. Ich knüpfe sehr gern an das an, was hier als Vision dargestellt wurde,
die wir vielleicht in 20 Jahren realisieren können. Ich wünsche mir, dass wir
heute die Grundsteine zur Realisierung dieser Vision legen und dass es nicht 20
Jahre dauert, bis wir diese Vision realisiert haben, sondern dass wir höchstens
die kommenden zehn Jahre nutzen, um aus dieser Vision ein Stück Wirklichkeit
werden zu lassen.
Ich freue mich, wie gesagt, über die Gelegenheit, in einer
Zeit hier reden zu können, die ziemlich turbulent ist und die für das
Gesundheitswesen in Deutschland von großer Bedeutung ist und die eine große
Aufmerksamkeit erfährt.
Natürlich
sind die Diskussionen, die wir über die Gesundheitsreform führen, zum Teil
hitzig, zum Teil aufgebracht, weil sie unterschiedliche Interessen berühren,
unterschiedliche Bedürfnisse berühren und weil alle letztendlich nach dem
richtigen Lösungsweg suchen. Man kann aber nur dann etwas verändern, wenn es
auch gelingt, Blockaden zu überwinden und ein großes Maß an Übereinstimmung
gemeinsam umzusetzen. Ich möchte deshalb heute dafür werben, dass wir alle
zunächst einmal tief Luft holen, ein paar Schritte zurücktreten und dann mit
der nötigen Distanz wieder ruhiger und sachlicher aufeinander zugehen. Wenn wir
es dann schaffen, uns gegenseitig unvoreingenommen zuzuhören, anstatt die
Ausführungen des jeweils anderen von vornherein in die Schublade zu stecken und
die Meinungsäußerungen des anderen als einseitige und interessengeleitete
Meinungsäußerungen abzuqualifizieren, wird es uns gelingen, etwas zu erreichen.
Wir müssen uns gegenseitig zuhören, die jeweils anderen Vorschläge ernst nehmen
und die Gemeinsamkeiten herausstellen. Wir
müssen
feststellen, wo wir grundsätzlich übereinstimmen, sodass es sich lohnt,
gemeinsam etwas für unsere Gesellschaft in Deutschland zu erreichen.
(Beifall)
Auf der Basis gemeinsamer Ziele und Werte kann man auch sachlicher
über vorhandene Schwächen und auch über Defizite reden. Das kreative und innovative
Potenzial ist immer dann am größten, je größer die Bereitschaft ist, aus
Fehlern zu lernen, und je größer die Bereitschaft ist, aus neuen Herausforderungen
auch Konsequenzen zu ziehen. Es geht einzig und allein darum, wie wir die
Leistungsfähigkeit und die vorhandenen Kompetenzen aller Beteiligten und die
vorhandenen Ressourcen nutzen können, um noch besser zu werden.
Für eine reiche und fortschrittliche Industrienation wie die
unsrige wünsche ich mir, dass in Deutschland auch noch in zehn oder 20 Jahren
alle Bürgerinnen und Bürger den gleichen Zugang zu einer hochwertigen
medizinischen Versorgung und vor allem auch zum medizinischen Fortschritt
haben, unabhängig von ihrem Alter, von ihrem sozialen Status oder von ihrer
eigenen individuellen Finanzkraft.
(Beifall)
Das will die große Mehrheit aller Politikerinnen und
Politiker quer über die Parteigrenzen hinweg, und dass will auch die
Ärzteschaft - eine wichtige und grundsätzliche Übereinstimmung.
Natürlich ist dies leichter gesagt als getan. Es ist eine
große gesellschaftliche Herausforderung, dies auch langfristig sicherzustellen;
denn wegen der absehbaren demographischen Entwicklung wird die Nachfrage nach
Gesundheitsleistungen steigen, während gleichzeitig die solidarische
Finanzkraft der GKV abnimmt.
Grundsätzlich gibt es aus meiner Sicht drei Möglichkeiten,
diesem Problem zu begegnen. Man kann erstens zusätzliches Geld in das System
bringen, etwa durch die Erhöhung des Beitragsaufkommens, die Erhöhung der
Zuzahlungen oder durch Steuertransfers. Man kann zweitens drastisch die
Leistungen der GKV reduzieren und drittens kann man die Produktivität vehement
steigern.
(Widerspruch)
- Zur Produktivität komme ich noch. Ich bin davon überzeugt:
Wir liegen hier nicht so weit auseinander.
Wenn der gleiche Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zu
einer medizinischen Versorgung vorrangiges Ziel ist, kann die Ausgrenzung
medizinisch notwendiger Leistungen aus dem Leistungskatalog nur in engen
Grenzen infrage kommen. Die zentralen Ansatzpunkte für die langfristige
Absicherung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung müssen deshalb die
Modernisierung des Gesundheitswesens mit dem Ziel einer deutlichen
Produktivitätserhöhung einerseits und der Stabilisierung der Finanzierungsbasis
der GKV andererseits sein.
Meine Damen und Herren, ich habe es gerade als typisch
empfunden, dass meine Erwähnung des Stichworts Produktivitätssteigerung oder
Produktivitätserhöhung einen Lacheffekt bei Ihnen ausgelöst hat. Ich sage
deutlich: Mir ist in allen Diskussionen über die Gesundheitsreform aufgefallen
- da warne ich uns vor einem Fehler in der Diskussion -, dass damit nicht die
Leistung des einzelnen Arztes und der einzelnen Ärztin gemeint ist, sondern
dass mit Produktivitätssteigerung die Anpassung der Strukturen unseres
Gesundheitswesens an die Herausforderungen, aber auch an die Möglichkeiten,
Kompetenzen und Fähigkeiten der Ärzte und der Ärztinnen gemeint ist. Ich
bezweifle, dass die vorhandenen Strukturen für die Patientinnen und Patienten
tatsächlich das möglich machen, was Sie alle an Fähigkeiten, Kompetenzen und
Ressourcen mitbringen und was uns der medizinische Fortschritt heute bietet.
Es ist nahe liegend, dass die Modernisierung des Gesundheitswesens
dabei vor allem die Angebotsstruktur ins Visier nehmen muss. Die derzeitigen
Strukturen werden dem heute vorherrschenden Krankheitsspektrum, das zunehmend
von chronischen Erkrankungen und mehrfach erkrankten Patientinnen und Patienten
geprägt wird, immer weniger gerecht. Chronisch kranke und multimorbide ältere
Patienten brauchen komplexe, multiprofessionelle und multidisziplinäre
Versorgungsketten über einen langen Zeitraum hinweg, oft ein Leben lang.
Diesen Anforderungen wird die heutige fragmentierte und
sektorierte Angebotsstruktur nur sehr bedingt gerecht. Die Produktivität der
Versorgung muss in einer solchen Struktur hinter dem Machbaren zurückbleiben,
weil nämlich rechtliche Eingrenzungen, falsch geleitete Finanzströme und
mangelnder Wettbewerb um Qualität und Wirtschaftlichkeit die einzelnen
Leistungserbringer in ihren Möglichkeiten einschränken. Wir brauchen Chancen
für die Bildung von Verbünden der Leistungserbringer, die die gesamte
Versorgungskette oder zumindest erhebliche Teile davon aus einer Hand auch zur
Komplexvergütung anbieten und dabei die Optimierung der gesamten
Versorgungskette im Interesse der Patienten und Patientinnen im Auge haben.
Solche Strukturen können Behandlungsabläufe systematisch
optimieren und die Standards ständig anhand der neuesten Erkenntnisse
verbessern, die Organisationsentwicklung, Qualitätssicherung und gezielte
Fortbildung aller Beteiligten voranbringen. Viele Akteure, vor allem Ärzte und
Krankenhäuser, bewegen sich schon heute genau in diese Richtung. Sie stoßen
aber unter den gegebenen Bedingungen schnell an die Grenzen starrer rechtlicher
Regelungen, sie stoßen an die Grenzen des Berufsrechts. Das
Sozialversicherungsrecht setzt Grenzen, ebenso das Arzneimittelrecht und auch
das Krankenhausgesetz.
Die Gesundheitsreform 2003 soll deshalb vorrangig die
rechtlichen Hindernisse beseitigen, die diesen neuen Versorgungsformen im Weg
stehen, und Bedingungen schaffen, die den Aufbau moderner Strukturen für alle
Beteiligten - die Leistungsanbieter, die Krankenkassen und die Versicherten -
attraktiv machen.
Zu den wichtigsten Maßnahmen in diesem Zusammenhang gehören
die Ablösung der starren sektoralen Budgets und erweiterte vertragliche
Möglichkeiten. Wie kann man integrierte Versorgungsstrukturen für die Anbieter,
das heißt: auch für Sie - attraktiv machen? Nun, Sie sollten weit gehende
Vertragsfreiheiten erhalten, um bei der Vernetzung die Formen und Bedingungen
der Zusammenarbeit frei auszuhandeln. Die so entstehenden integrierten
Leistungsanbieter oder Anbietergemeinschaften können den Krankenkassen
Leistungspakete anbieten und die dafür zu zahlenden Preise frei aushandeln.
(Lachen)
Damit sich das für Anbieter und Krankenkassen gleichermaßen
lohnt, werden sie von vielen Einschränkungen und rechtlichen Regulierungen
befreit.
(Lachen)
So dürfen integrierte Anbieter die Arbeitsteilung frei
gestalten, natürlich im Rahmen des Berufsrechts. Das heißt, das Krankenhaus
kann ambulante Leistungen erbringen und umgekehrt sollen niedergelassene
Vertragsärzte in der stationären Versorgung tätig werden können. Sie sollen
intern Positivlisten aufstellen und die Wirkstoffe frei aushandeln dürfen. Sie
dürfen Preisverhandlungen mit Apotheken vor Ort, aber auch mit Versandapotheken
führen. Sie können Versorgungsketten kostengünstiger organisieren,
kostengünstiger als in den herkömmlichen Strukturen.
Das gibt den Spielraum für eine leistungsgerechte Vergütung
der Leistungsanbieter einerseits und attraktive Preisangebote an die Kassen und
damit an die Versicherten andererseits.
Das alles - das betone ich - muss freiwillig sein, für die
Leistungserbringer
ebenso wie für die Versicherten.
(Lachen - Beifall)
- Es ist vielleicht schwer, damit umzugehen, wenn man
plötzlich die Freiheit der Entscheidung und Gestaltung erhält
(Lachen)
und dabei betont wird, dass das Ziel ist, eine Wahlfreiheit
sowohl bei den Patienten und Patientinnen als auch bei der Ärzteschaft zu
ermöglichen. Ich bin davon überzeugt, dass dies der richtige Weg ist und wir
eine riesengroße Chance haben, zum jetzigen Zeitpunkt einen qualitativen Sprung
in der gesundheitlichen Versorgung und in der Nutzung unserer Möglichkeiten zu
machen. Diese Chance sollten wir nutzen.
Daher müssen die neuen Angebote, wenn sie sich durchsetzen
sollen, nicht nur für die Krankenkassen, sondern auch für die Patienten und
Patientinnen attraktiv gestaltet werden: durch patientenfreundlichen Service,
durch hohe Qualität. Diese Qualität muss für die Patienten und Patientinnen
nachgewiesen und transparent gemacht werden, durch eine patientengerechte Information
und Beratung. Darüber hinaus sieht der vorliegende Gesetzentwurf vor,
Versicherte, die solche integrierten Angebote annehmen, teilweise von
Zuzahlungen zu befreien.
Aus meiner Sicht werden betriebswirtschaftliche Gründe und
Gründe der Qualitätssicherung diesen bereits erkennbaren Trend zur Bildung von
Praxisgemeinschaften und Gemeinschaftspraxen weiter verstärken und insgesamt zu
größeren Verbünden führen. Ich werbe auch bei Ihnen dafür - das ist sicherlich
deutlich geworden -, sich in diesen Prozess aktiv einzubringen und
patientengerechte Versorgungsformen in Deutschland mit aufzubauen, die unseren
heutigen medizinischen Möglichkeiten auch tatsächlich Geltung verschaffen.
Sehen Sie darin auch eine Chance zu einer leistungs- und qualitätsorientierten
Vergütung für sich, aber auch eine Chance, Ihre Arbeit neu zu gestalten. Die
heute floatende Vergütung, die gute und schlechte Leistungen,
fortbildungsfreudige und fortbildungsunwillige Ärztinnen und Ärzte
(Zurufe)
gleich behandelt, entspricht nicht dem Engagement und der
Leistung der einzelnen Ärztin und des einzelnen Arztes. Neue Versorgungsformen
werden untereinander und mit der herkömmlichen Versorgung im Wettbewerb stehen.
Dem muss eine Stärkung des Verbraucherschutzes
gegenüberstehen. Den Anbietern soll deshalb aufgegeben werden, ihre Qualität
extern auch anhand vergleichbarer Parameter zertifizieren zu lassen, zu
dokumentieren und öffentlich zu machen.
(Zurufe: Aufhören!)
Gemeinsam mit der Selbstverwaltung wird der Gesetzgeber
dafür sorgen müssen, dass Qualitätsstandards definiert und eingehalten werden.
Behandlungsleitlinien, die der Orientierung des einzelnen Arztes und der
einzelnen Ärztin dienen, sind dabei hilfreich, wenn sie aus fachlichem
Interesse gespeist sind. Bei ihrer Erarbeitung müssen internationale
Verfahrensstandards eingehen und die Entscheidungsfindung muss transparent und
unter Beteiligung aller relevanten Gruppen durch medizinische Experten
erfolgen.
Wer Behandlungsleitlinien leichtfertig als staatliche
Richtlinien und Billigmedizin abtut, übersieht, dass heute für viele wichtige
Krankheiten oft Tausende Gutachten, Studienuntersuchungen und Aufsätze
vorliegen. Der einzelne Arzt, die einzelne Ärztin ist objektiv völlig
überfordert, hier auch nur annähernd auf dem aktuellsten Erkenntnisstand zu
sein und diesen auch in die Behandlung einfließen zu lassen.
(Widerspruch)
Sehr geehrte Damen und Herren, die Entwicklung neuer
Versorgungsstrukturen und -formen ist das wichtigste Ziel der
Gesundheitsreform, die im Ergebnis zu einer besseren Qualität und zu einer
größeren Wirtschaftlichkeit unseres Gesundheitswesens führt.
Daneben müssen dringend die Finanzierungsgrundlagen der GKV
einer Reform unterzogen werden, nicht um kurzfristig mehr Geld ins System zu
bringen, sondern um mittel- und langfristig die Einnahmenseite zu stabilisieren
und dem prognostizierten drastischen Beitragsanstieg in den nächsten
Jahrzehnten entgegenzuwirken. Ich habe mich in diesem Zusammenhang für eine
Verbreiterung der Einnahmenbasis durch die Einbeziehung von Einkünften aus
Kapital, Vermietung und Verpachtung in die Beitragsbemessungsgrenze und die
Einbeziehung weiterer Personengruppen in die GKV durch die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze
ausgesprochen. Für zumutbar halte ich auch eine für die Betroffenen kostenneutrale
Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze.
Daneben begrüße ich die vorgesehene Steuerfinanzierung
versicherungsfremder Leistungen und die Gegenfinanzierung über eine
entsprechende Erhöhung der Tabaksteuer.
Sehr geehrte Damen und Herren, auch die Ergebnisse des
Deutschen Ärztetages werden in einer breiten Öffentlichkeit mit Spannung
beobachtet. Es geht um die durchaus wichtigen eigenen Interessen der
Ärzteschaft, aber vorrangig um die gesundheitlichen Belange der Patienten und
Patientinnen. Ich wünsche mir, dass auch Ihre Veranstaltung dazu beiträgt, dass
die Patienten und Patientinnen nicht länger das Gefühl haben müssen, dass sie
als die größte Gruppe weiterhin nur das kleinste Rädchen im Gesundheitswesen
darstellen.
(Widerspruch)
Ich teile die Meinung von Herrn Professor Andreesen, dem
Direktor des Instituts für Mikrobiologie an der Universität Halle, der in einem
Kommentar treffend sagt: Wenn die Ärzte das Vertrauen und den Glauben der
Patienten verspielen, verlieren sie damit ihr wirksamstes und das älteste
Heilmittel. Maßstab für alle Reformbemühungen müssen für die Ärzteschaft
genauso wie für die Politik die Patienteninteressen, das Patientenwohl sein.
Ich wünsche dem 106. Deutschen Ärztetag in diesem Sinne
erfolgreiche und konstruktive Diskussionen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
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