Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 20. Mai 2003, 10.00 Uhr

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und der Ärztekammer Nordrhein:

Sehr verehrte Frau Ministerin Schmidt! Meine Damen und Herren Bundestagsabgeordneten! Sehr verehrte Frau Landesministerin Fischer! Meine Damen und Herren Abgeordneten der Landtage! Meine sehr verehrten Damen! Sehr verehrte Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich sehr herzlich beim Düsseldorfer Ärzteorchester für die musikalische Umrahmung unter der Leitung von Jürgen Schmeer bedanken.

(Beifall)

Ich tue dies aus drei Gründen: erstens wegen der schönen Musik; zweitens, weil Sie sich alle einen Tag haben frei nehmen müssen - es sind nicht nur Ärztinnen und Ärzte in diesem Orchester; das weiß ich ganz genau, denn ich habe früher dort selber mitgespielt -; drittens, weil Sie es gewagt haben, von Düsseldorf nach Köln in die Philharmonie zu kommen. Das ist schon etwas Besonderes.

(Beifall)

Bei Herrn Oberbürgermeister Schramma darf ich mich herzlich bedanken. Es ist das erste Mal, dass der Oberbürgermeister selber gekommen ist und uns die Ehre seiner Anwesenheit gegeben hat. Er musste uns leider bereits verlassen. Wir haben den Sitz der Bundesärztekammer seit über 50 Jahren hier in Köln. Wir haben uns in Köln wohl gefühlt. Nächstes Jahr ziehen wir nach Berlin und werden uns dort hoffentlich auch wohl fühlen. Ich möchte ausdrücklich festhalten: Die 50 Jahre in Köln waren für die Ärzteschaft wertvolle und wichtige Jahre. Die Bundesärztekammer konnte hier in Köln durch die Beziehungen nach Bonn wirkungsvolle Leistungen erbringen. Vielen Dank an die Stadt Köln!

(Beifall)

Verehrte Frau Ministerin Fischer, Ihre Hinweise auf Gemeinsamkeiten bei der Frage einer gleichmäßigen und einkommensunabhängigen Versorgung sind natürlich mit unseren Vorstellungen identisch. Vorurteilsfreie Diskussionen führen auch wir gern. Ich habe nur eine Bitte: ob wir nicht gemeinsam darauf hinwirken könnten, dass man, wenn es um Körperschaften des öffentlichen Rechts wie die Ärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung geht, die ja Gebilde des Staates sind, davon ablässt, den Ausdruck „Ärztelobby“ zu benutzen.

(Beifall)

Wir erfüllen Aufgaben, die uns der Staat übertragen hat. Wir erfüllen Aufgaben, die wir aus eigener Kraft erledigen sollen, aber auch dies wiederum im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen. Wir geben uns Mühe, das richtig zu machen. Das ist kein Lobbyismus. Lobbyismus liegt nur dann vor, wenn man einseitige Interessen vertritt. Das tun wir nicht. Wenn wir es tun, machen Sie uns bitte als Aufsichtsministerin darauf aufmerksam, dass Sie meinen, dass wir etwas falsch machen. Ich kenne eine Stelle, wo Sie das getan haben.

Frau Ministerin Schmidt, in meinen Ausführungen werde ich viele Dinge ansprechen, die Sie bereits erwähnt haben. Eines möchte ich vorab sagen: Wir wollen keine Millionäre sein.

(Beifall)

Natürlich ist das schön, aber das ist nicht unser Ziel. Wenn das gesagt wird, hat das immer den Hintergrund einer Neiddiskussion. Diese Neiddiskussionen sind einfach schlecht. Sie bringen keinen gedeihlichen Meinungsaustausch. Deshalb sollte man einen solchen Soupçon nicht bringen. Ich glaube, darüber sind wir uns ganz schnell einig. Wir wollen keine Millionäre sein. Ich möchte auch, dass die Assoziation Arzt/Geld nicht das Wichtige ist, was in der Öffentlichkeit ankommt.

(Beifall)

Wir freuen uns auf jeden Fall, dass Sie alle da sind, um das Gespräch mit uns zu führen, was Sie ja auch schon wahrgenommen haben. Wir haben den Dialog auf dem außerordentlichen Deutschen Ärztetag in Berlin nachhaltig angeboten und das auch eingehalten, weil wir meinen, dass, wie Sie schon ganz richtig gesagt haben, eine Gesundheitsreform nötig ist. Aber eine Gesundheitsreform ohne Ärzte ist wie eine Sache ohne Verstand!

(Beifall)

Deshalb haben wir auf dem Sonderärztetag ganz konkrete Reformvorschläge unterbreitet. Wir haben Reformwillen gezeigt, um das Vertrauen der Menschen in unserem Lande in unser Gesundheitswesen zu stärken.

Wir haben uns bereit erklärt, Verantwortung zu übernehmen im Umgang mit der drohenden Rationierung von medizinischen Leistungen. Und wir haben unseren festen Willen bekundet, trotz all dieser widrigen Umstände die Qualität in der medizinischen Versorgung - so gut es denn geht - aufrechtzuerhalten.

Denn Tag für Tag versuchen Ärztinnen und Ärzte, das für den kranken Menschen Mögliche zu tun. Sie leisten dafür unbezahlte Überstunden, verzichten vielfach auf Freizeit und auch auf privates Leben. Immer noch wollen wir Ärztinnen und Ärzte einer - wir empfinden das so - Berufung nachgehen, und zwar mit Leib und Seele. Deshalb versuchen wir, auch dann noch etwas zu machen, wenn eigentlich gar nichts mehr geht.

Dieses Engagement von Ärztinnen und Ärzten für die Kranken und das Vertrauen der Patienten in den Arztberuf erst machen aus dem Behandlungsfall die - zu Recht - so häufig angeführte individuelle Patient-Arzt-Beziehung. Ohne dieses Maß an Menschlichkeit wäre die Medizin nur Naturwissenschaft, machte sich - wie jetzt in der Politik - mechanistisches Denken über Medizin breit. Das wollen wir nicht.

(Beifall)

Deshalb kämpfen wir für Therapiefreiheit und Patientenautonomie, deshalb ist Vertrauen in den Arztberuf so wichtig.

Vertrauen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Grundlage dafür, dass sich jemand in einer riskanten oder persönlich bedrohten Situation einer anderen Person mit allen Konsequenzen anvertraut. Und Vertrauen basiert auch auf der Erwartung, dass die Partnerin oder der Partner der Erwartung gerecht wird.

Wir Ärztinnen und Ärzte haben unseren Patienten versprochen, das nach unseren Möglichkeiten Beste zu geben, um ihre Krankheiten zu heilen und ihre Schmerzen zu lindern. Der Patient und die Patientin vertrauen ihrem Arzt und ihrer Ärztin und wir müssen alles geben, um uns dieses Vertrauens würdig zu erweisen. Das ist eine aktive Rolle, die wir haben. Jeder, der das unterlässt, gefährdet die Gemeinschaft insgesamt.

Aber wir erfahren in unserem täglichen Bemühen manchmal nicht die notwendige politische Unterstützung. Wenn ich die letzten Jahre Revue passieren lasse, komme ich zu dieser Ansicht. Dabei ist die Gutachteninflation, mit der wir es besonders in den letzten Jahren zu tun hatten, nur ein Symptom einer gegenüber der Medizin sich gravierend verändernden Einstellung. Anstelle des Vertrauens in die handelnden Personen hat sich eine defätistische Misstrauenskultur breit gemacht.

(Beifall)

Das wirtschaftliche Ziel der Kosteneinsparung wird aus politischen Gründen als Qualitätsoffensive bemäntelt, statt offen zuzugeben, dass das Spektrum der von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckten medizinischen Leistungen verschmälert werden soll, um zukünftig tolerable Beitragssätze zu erhalten. Zur Unterfütterung der Qualitätsdebatte fließen Mittel in pseudowissenschaftliche Ursachenanalysen und fragwürdige gesundheitspolitische Hochrechnungen, die besser in klinische Studien oder wissenschaftlich fundierte Versorgungsforschung geflossen wären.

(Beifall)

Beispielhaft nenne ich nur die Studie der WHO-Autoren, die ähnlich wie der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hinsichtlich der Über-, Unter- und Fehlversorgung ihre Aussagen auf Einschätzungen von so genannten „key informants“ gründet, statt harte Daten zu verwenden.

Der bekannte Gesundheitsökonom Williams stellt zum Beispiel zu der WHO-Studie fest:

Es ist unwahrscheinlich, dass man jemals wieder Zeuge einer virtuoseren Schlittschuhfahrt auf so dünnem Eis wird. Das große Dilemma besteht für den Betrachter darin, ob er den maßlosen Ehrgeiz und die gekonnte Ausführung der Darsteller bewundern soll oder ob er die traurige Verschwendung von so viel Talent beklagen soll, das man in solche nutzlosen Unternehmen gesteckt hat.

Ich stimme ihm voll zu.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, nicht zuletzt die Inflation solch zweifelhafter Gutachten hat den rezidivierenden Kontrollzwang begünstigt, der sich wie ein roter Faden durch die Gesundheitsreformgesetze der letzten Jahre zieht. Und nicht nur das: Es wird allzu oft - ich darf es vorsichtig formulieren - der Eindruck erweckt, man könne das Gesundheitswesen auf Kosten der Ärztinnen und Ärzte sanieren, ganz so, als wären wir verantwortlich für die Bevölkerungsentwicklung und die volkswirtschaftliche Gesamtlage. Da bin ich eigentlich dankbar, dass man uns wenigstens nicht auch noch den medizinischen Fortschritt zum Vorwurf macht!

(Beifall)

Probleme muss man offen und ehrlich angehen, nicht nur in der Medizin, auch in der Politik. Mit Schuldzuweisungen und Unterstellungen über angeblich mangelnde Qualität der medizinischen Behandlung lösen wir die Probleme nicht, sondern führen das Gesundheitswesen nach der Finanzierungskrise auch noch in eine hochbrisante Vertrauenskrise.

(Beifall)

Einem Gesundheitswesen aber, dem die Menschen nicht mehr vertrauen, können auch wir Ärztinnen und Ärzte nicht mehr vertrauen.

Wir sind für Transparenz, für Nachvollziehbarkeit und Offenlegung der Entscheidungsabläufe und auch der Finanzströme im Gesundheitswesen. Wir haben das häufig und mit Nachdruck gefordert. Doch verläuft die ärztliche Behandlung eben nicht in festen Strukturen; sie ist individuell, auf den einzelnen Menschen abgestellt. Leitlinien, die wir ja selbst initiiert haben, können da Behandlungskorridore aufzeigen, aber keinen Metaplan zur Heilung abgeben.

Wir wollen das Ärztliche im Arztberuf bewahren. Wir sind schließlich keine Manager, keine Ökonomen und auch keine richtigen Politiker. Wir müssen auch nicht ständig dem Zeitgeist nachlaufen und uns in der Gesellschaft neu in Szene setzen. Wir sind den Kranken und ihrer Heilung verpflichtet - und das in einer langen Tradition. Ich erinnere hier an Paracelsus.

Die eigentliche Basis für das Vertrauen der Patienten zu ihren Ärztinnen und Ärzten sind fachliche Kompetenz, Verschwiegenheit, die Beachtung des Grundsatzes „nil nocere“ und die Gewissheit, dass materielle Aspekte für die ärztliche Entscheidung unbedeutend sind.

Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen keinen Gesundheitsmanager, die Menschen wollen nach wie vor Ärztinnen und Ärzte, denen sie vertrauen können.

Frau Ministerin, Sie haben jetzt einen 376 Seiten starken Gesetzentwurf vorgelegt - nach mehreren anderen Entwürfen; das mussten wir alles lesen -, das so genannte Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz, mit dem Sie unser Gesundheitswesen verbessern wollen - ein wirklich umfangreiches Reformvorhaben. Aber haben Sie dabei auch bedacht, dass Vertrauen weder institutionell abgesichert werden kann noch substituiert werden kann noch kompensiert werden kann? Das ist unsere Frage.

(Beifall)

Wir haben alles analysiert und uns überlegt: Welche Gedanken liegen diesem Werk zugrunde? Ich glaube, die Philosophie dieses Gesetzentwurfs ist die Rationierung - das steht nicht drin, aber wenn man es analysiert, kommt man zu dem Schluss -, und zwar Rationierung im statistischen, aber auch im individuellen Sinne. Diese gewollte Rationierung soll verdeckt werden, weil die Öffentlichkeit nicht bereit ist, Rationierung zu akzeptieren. Deswegen muss das gemacht, darf aber nicht gesagt werden. Das ist das Problem, mit dem wir es in Wirklichkeit zu tun haben.

(Beifall)

Was uns dabei so betroffen macht, ist, dass diese Verdeckung der Rationierung, das Aussperren des Aussprechens dadurch geschehen soll, dass Misstrauen gegenüber den Leistungserbringern, besonders gegenüber uns Ärztinnen und Ärzten, gesetzlich implementiert werden soll.

(Beifall)

Alle wichtigen Regelungen, die der Gesetzentwurf vorsieht, sind dem Ziel dieser geplanten Rationierung untergeordnet.

Wir haben den Eindruck, dass künftig die Therapie nicht mehr das Ergebnis der freien und gemeinsamen Entscheidung von Patient und Arzt sein soll, sondern dass vielmehr ein ganz anderer Arzttypus angestrebt wird: der durch Leitlinien und Therapievorschriften gelenkte, umfassend überwachungsbedürftige Medizindienstleister, der den Träger einer Krankheit möglichst kostengünstig abzufertigen hat.

Mit Arztsein, meine Damen und Herren, hat das nach unserem Verständnis
aber nichts mehr zu tun!

(Beifall)

Im Gegenteil, käme das Gesetz so, würde eine Prüf- und Überwachungsbürokratie etabliert, wie sie mit einem modernen und auch menschlichen Gesundheitswesens meines Erachtens nicht vereinbar ist. Ich meine, das sollten wir nicht zulassen. Darüber müssen wir gründlich diskutieren, damit Sie verstehen, wie wir das meinen.

(Beifall)

Freiheit wird da keinem mehr zugetraut, weder uns Ärztinnen und Ärzten noch den Patienten. Doch mit der Freiheit stirbt auch die Verantwortung - das gilt nicht nur im Gesundheitswesen -, ohne die Vertrauen nicht mehr möglich ist.

Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf liest sich denn auch in vielen Passagen eher wie ein Gesetz zur Förderung der Misstrauenskultur. Nehmen Sie allein den von Ihnen heute nicht angesprochenen Beauftragten zur Bekämpfung von Missbrauch und Korruption im Gesundheitswesen. An den kann sich jeder wenden, nicht nur bei einem strafrechtlich relevanten oder rechtswidrigen Verhalten, sondern auch bei einem - ich zitiere wörtlich - „gesellschaftspolitisch nicht akzeptablen Verhalten“.

(Zurufe)

Hier würde eine ideologisch begründete Anprangerung Einzelner möglich nach Willkür des so genannten Missbrauchsbeauftragten und in Kumpanei mit einer politischen Bürokratie.

(Beifall)

Wie sollen sich Betroffene gegen solche Angriffe auf der Basis gesellschaftspolitischer Wertungen wehren können? Das geht gar nicht.

Hier erwächst Raum zu einer willkürlichen Prüfung sozialstaatlichen Wohlverhaltens, die mit Rechtsstaatsgrundsätzen nach unserer Meinung nicht mehr vereinbar ist.

(Beifall)

Dann wird ganz automatisch über allem, was passiert, der Ruch der Korruption und des Missbrauchs hängen. Ständig werden wir uns in einer Verteidigungsposition befinden, dass wir nicht missbrauchen. Es muss nicht nachgewiesen werden, dass man missbraucht, sondern man muss selbst dauernd beweisen, dass man nicht korrumpiert ist und nicht missbraucht. Das ist doch wohl unzumutbar!

(Beifall)

Ich bin sicher, dass Sie das nicht wollen, Frau Ministerin, ganz sicher. Deswegen schlage ich Ihnen vor, dass wir zwei einen neuen Text machen.

(Heiterkeit - Beifall)

Ich frage Sie, meine Damen und Herren, und Sie, Frau Ministerin: Werden wir für ein derart modernisiertes Gesundheitswesen in Zukunft noch ausreichend Ärztinnen und Ärzte finden? Das ist wohl eine verlorene Sache.

Oder nehmen Sie das geplante und von Ihnen ja angesprochene „Deutsche Zentrum für Qualität in der Medizin“ mit der Krankenhausgesellschaft, den Krankenkassen, den Ärztinnen und Ärzten, dem Pflegerat, verschiedenen Patientenorganisationen und vor allem dem Bundesgesundheitsministerium: Was soll dieses Zentrum nicht alles leisten? Es soll evidenzbasierte Leitlinien erstellen und die Informationsstelle für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes werden, um sich über die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Diagnostik und Therapie in der Medizin zu informieren.

Das geht dann so: Der Patient der Zukunft lässt sich also über Krankheit und Behandlung im Zentrum informieren und der Arzt der Zukunft führt dann nur noch das aus, was ihm dort aufgegeben wird. Er ist nur noch der Vollstrecker. Das ist eine schöne heile Welt! Die kommt in einem Sciencefictionroman vor, aber nicht in einem vernünftigen Gesundheitswesen. Das kann nicht unser Ziel sein.

(Beifall)

Das Zentrum mit der Beteiligung des Gesundheitsministeriums - ob als Aufsicht oder fachlich einwirkend; wir haben das schon im Koordinierungsausschuss erlebt - ist als apokryphe Form der Selbstverwaltung, als „Quasi-Behörde“ mittelbarer Staatsverwaltung angelegt. Das muss man einfach so sagen. Es war im Rohentwurf eine pur staatliche Sache. Das ist eine Spur zurückgenommen, aber es ist immer noch eine starke Staatsverwaltung. Über den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen werden die von dieser Stelle empfohlenen Richtlinien zur Behandlung von Krankheiten dann als Konsens der Selbstverwaltung dargestellt werden. Das erleben wir ja auch jetzt.

Das ist - ich darf es so ausdrücken - eine Mogelpackung, mit der suggeriert werden soll, dass es auch künftig nicht zu Qualitätsabsenkungen kommen wird. Doch das Gegenteil ist der Fall. Mit der verdeckten, behördlich angeordneten Medizin soll Rationierung überdeckt werden. Wir haben die große Befürchtung, dass es bei diesem Zentrum wie schon bei der Diabetesrichtlinie im Koordinierungsausschuss aus fiskalischen Gründen zu Qualitätsminderungen in der Versorgung kommt. Und wir Ärztinnen und Ärzte sollen dann für diese Minderstandards wieder den Kopf hinhalten. Deshalb auch ist dieses Zentrum formal in eine Mischstruktur aus BMGS und Verbänden eingebettet; denn der Staat muss dann nicht - vielleicht weil er auch nicht will - für diese Art der verheimlichten Rationierung die Verantwortung übernehmen und sich öffentlich rechtfertigen, weil das ja eine Selbstverwaltungsentscheidung war.

(Beifall)

Das ist ein Symptom für die Analyse am Anfang: Es handelt sich hier um ein Gesetz, bei dem es wirklich um Rationierung geht. Darauf komme ich auch noch in meinen weiteren Ausführungen zu sprechen.

Meine Damen und Herren, Ressourcenknappheit führt immer auch zu den Problemen der Verteilungsgerechtigkeit. Aber die sich daraus ergebenden Konflikte dürfen nicht verschwiegen werden. Wir müssen offen über Rationierung reden. Die Versuche, mit den Vorwürfen der Über-, Unter- und Fehlversorgung dieses Problem einseitig auf uns Ärztinnen und Ärzte abzuwälzen, ist schlicht unmoralisch!

(Beifall)

Heimliche Rationierung muss offenkundig gemacht werden, sonst zerstört sie auf Dauer das Vertrauen im Patient-Arzt-Verhältnis und damit auch die Möglichkeit, im gesellschaftlichen Konsens die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren. Deshalb fordern wir den offen geführten Diskurs zur Mittelknappheit im Gesundheitswesen, nicht nur in irgendwelchen Zirkeln, von denen ich Ihnen irgendwelche Niederdrucke vorlesen könnte. Das ist nicht offen.

Wir bestehen darauf, dass dabei die Einheit der Rechtsordnung zwingend gewahrt bleibt. Im Klartext: Es darf von den Ärztinnen und Ärzten nach dem Haftungsrecht oder gar dem Strafrecht nicht mehr verlangt werden, als das Sozialrecht ermöglicht.

(Beifall)

Wir werden uns nicht in diese Ethikfalle führen und dann als Abzocker und Verschwender verschreien lassen, nur weil Vater Staat den offenen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern scheut!

(Beifall)

Da klingt es für uns schon ein wenig wie Hohn - wir empfinden es so -, wenn vor diesem Hintergrund im Gesetzentwurf von einer Qualitätsoffensive im Gesundheitswesen die Rede ist. Wir brauchen eine andere, eine neue Diskussionskultur, die frei ist von Schuldzuweisungen, meine Damen und Herren, sonst ist das Versorgungsniveau der Zukunft in dem modernisierten Gesundheitswesen auf die Dauer tiefer gelegt.

Zur Offensive der Bundesregierung gehört offensichtlich auch die gesetzlich geregelte Fortbildungspflicht. So sollen Vertragsärztinnen und -ärzte alle fünf Jahre den Nachweis erbringen, dass sie ihrer Fortbildungspflicht nachgekommen sind; im Krankenhausbereich soll zur Fortbildungspflicht der Fachärzte auch noch die Ergebnisqualität festgelegt werden, was den Umfang der Dienstaufgaben erheblich erweitert und die nötigen Stellen um eine fünfstellige Zahl erhöhen wird, wobei die erste Ziffer nicht eine eins ist. Allein dieser Vorgang kostet etwa 20 000 Stellen, damit alles im Rahmen der Dienstzeit erledigt werden kann.

Wir halten ein solches Maß an Standardisierung und Schematisierung ärztlicher Heilkunst für völlig verfehlt. Zwar wirkt es gefällig, den Ärzte-TÜV zu propagieren, und nur allzu oft hören wir von Politikern - erst unlängst wieder -, da sei so ein Druck entstanden und da müsse man halt was tun. Auch das sind selbstverständlich legitime Triebfedern der Politik. Aber sind sie deshalb sachgerecht? Wird da nicht vielmehr ein Popanz aufgebaut?

Natürlich sind wir für konsequente Fortbildung; sie ist deshalb ja längst als Verpflichtung der Ärztinnen und Ärzte in der Berufsordnung festgeschrieben. Aber zur Freiberuflichkeit des Arztes gehört es eben auch, die Art und Weise der Fortbildung selbst wählen zu können.

(Beifall)

Wer hier die Selbstbestimmung von Ärztinnen und Ärzten durch Zwangsregulierung ersetzt, zerstört die außerordentlich hohe Eigenmotivation und Lernbereitschaft bei Ärztinnen und Ärzten.

Auch die Verweise auf das Ausland sind mehr als dürftig. Lediglich in Kroatien und Slowenien gibt es ähnliche Rezertifizierungsversuche, die aber inzwischen als zu bürokratisch und aufwändig angesehen werden. Das in jüngster Zeit so gern zitierte Beispiel Kanada ist ebenfalls auf hiesige Verhältnisse nicht übertragbar - wir haben das untersucht -, denn dort handelt es sich um eine extrem kostenintensive Peer-review-Kontrolle von Ärztinnen und Ärzten, die in entlegenen Gebieten als Einzelkämpfer agieren und deshalb durch ihre eigenen Kollegen in der Umgebung überhaupt nicht kontrolliert werden können. Das ist ja wohl kein Vorbild für Deutschland.

(Beifall)

Die Ärztekammern in Deutschland dagegen haben ganz pragmatisch ein praxisbezogenes freiwilliges Fortbildungszertifikat entwickelt, das den Besonderheiten einer individuellen Patientenversorgung auf wissenschaftlicher Basis Rechnung trägt und den Fortbildungswillen von Ärztinnen und Ärzten gegenüber dem Patienten sichtbar macht. Wir werden auf diesem Ärztetag die dreijährige Modellphase abschließend bewerten und die Gelegenheit nutzen, dieses Zertifikat herauszustellen. Ich darf schon jetzt sagen, dass in den Ländermodellversuchen ein außerordentlich hohes Fortbildungsengagement sichtbar geworden ist. Heyo Eckel, dem Deutschen Senat für ärztliche Fortbildung und der Geschäftsführung an dieser Stelle herzlichen Dank für diese Arbeit.

(Beifall)

Nun versucht das Gesundheitsministerium, mit dem ehemals freiwilligen Fortbildungszertifikat die Zwangsfortbildung zu versüßen, doch es bleibt der fade, bittere Nachgeschmack der staatlichen Überregulierung. Aus einem erfolgreichen freiwilligen Modell der ärztlichen Selbstverwaltung, das immer mehr an Freiwilligkeit verliert, bei dem es sich der Einzelne gar nicht mehr leisten kann, es freiwillig zu lassen, würde ein Bürokratismus werden, der im Übrigen auch gar nicht zu finanzieren ist, weil er hohe finanzielle Forderungen nach sich zieht.

Meine Damen und Herren, glaubt denn allen Ernstes jemand daran, dass wir mit einem so behördenkonformen Arzttypus unser Gesundheitswesen wirklich modernisieren können?

Aber auch die Patienten werden in ihrer Freiheit erheblich beschnitten. Trotz aller Beteuerung der Patientenautonomie und der Wichtigkeit von Patientenrechten ist es doch erklärtes Ziel des Gesetzentwurfs, die freie Facharztwahl aufzuheben. Das bedeutet nicht nur die Reduktion der kassenärztlichen Selbstverwaltung auf den hausärztlichen Bereich, das bedeutet auch ganz konkret für die Patientinnen und Patienten, dass sie nicht mehr ohne weiteres die Fachärztin/den Facharzt ihres Vertrauens aufsuchen können. Denn die Krankenkassen, denen für diesen Versorgungsbereich der Sicherstellungsauftrag überantwortet werden soll, können, müssen aber nicht mit jedem niedergelassenen Facharzt einen Vertrag abschließen. Wer also künftig einen Hautarzt, HNO-Arzt, Orthopäden oder einen anderen Facharzt aufsuchen will, muss zunächst einmal prüfen, ob seine Kasse mit besagtem Arzt einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat - oder umgekehrt, nicht unwichtig, ob der Arzt überhaupt ein Interesse daran hatte, mit dieser Kasse einen Vertrag abzuschließen. Das gilt ja vice versa. Es hat ja jeder das Recht, einen Vertrag zu schließen; es gehören immer mindestens zwei dazu. Von Versorgungssicherheit in der Fläche kann dann wohl nicht mehr die Rede sein.

Unsere Patientinnen und Patienten aber erwarten doch eigentlich zu Recht, dass sie unabhängig von der Kassenzugehörigkeit weiterhin einen Anspruch auf eine einheitliche flächendeckende Versorgung durch Fachärztinnen und Fachärzte ihrer Wahl haben.

(Beifall)

Das sicherzustellen kann niemand besser als die Kassenärztlichen Vereinigungen. Das haben sie in den Jahrzehnten nach dem Krieg deutlich unter Beweis gestellt.

(Beifall)

Es gibt deshalb auch keinen vernünftigen Grund, den KVen die Sicherstellungsverpflichtung für die fachärztliche Versorgung zu entziehen, es sei denn, man wolle schrittweise die gesamte ambulante Versorgung umkrempeln und den Krankenkassen allein die Steuerung über die Versorgung überlassen. Das ist offensichtlich das Ziel der beabsichtigten Teilung des Sicherstellungsauftrags, der ja früher zwischen KVen und Krankenkassen gemeinsam getragen wurde.

In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es dazu wörtlich:

Die Krankenkassen erhalten das Instrumentarium, mengen- und qualitätsgesteuert und damit zielgenau die notwendigen Leistungen für ihre Versicherten zu einem angemessenen Preis einzukaufen. Die auf diesen fachärztlichen Versorgungsbereich bezogene Sicherstellungsverpflichtung obliegt deshalb zukünftig den Krankenkassen und ihren Verbänden und nicht mehr den Kassenärztlichen Vereinigungen.

Ist diese Sprache nicht verräterisch? „Einkaufen“ ist Kommerz; der Arzt wird damit zum Handelspartner. Zum „Dr. Discounter“ ist es dann nur noch ein kleiner Schritt - aber dann auch, meine Damen und Herren, möglicherweise zur „Billigkrankenkasse“. Was man damit anstößt und was daraus alles wird, weiß man gar nicht. Ich nehme eher an, dass es eine Verschlechterung gibt, als dass ich die Hoffnung habe, dass es besser wird.

Die Kassen übernehmen damit also zukünftig die Sicherstellung der ambulanten fachärztlichen Versorgung, ausgenommen Augenärzte und Gynäkologen. Ist die bedarfsgerechte Versorgung gefährdet, können die Krankenkassen - auch das sieht der Entwurf ausdrücklich vor - zur Behebung der Versorgungsdefizite Verträge mit zugelassenen Krankenhäusern zur Teilnahme an der ambulanten Versorgung schließen. Das, meine Damen und Herren, ist der Einstieg in den Ausstieg aus der niedergelassenen fachärztlichen Versorgung.

(Beifall)

Dort steht ja ausdrücklich: Krankenhäuser. Es kommen auch Krankenhausärzte unter bestimmten Bedingungen - für hoch spezialisierte Leistungen - vor, aber auch die Institutionen sind gemeint.

Deswegen die Aussage: Alle Macht den Kassen. Wir empfinden es so. Wir meinen, das kann doch nicht das Ziel einer Gesundheitsreform sein, die den Patienten in den Mittelpunkt stellen will, nicht den Versicherer. Das ist ja ein Unterschied.

(Beifall)

Warum es keinen gemeinsamen, sondern nur einen geteilten Sicherstellungsauftrag geben soll, macht ein Blick auf die hausärztliche Versorgungssituation deutlich. Denn hier gibt es ja in einigen Regionen schon jetzt Versorgungsdefizite, die sich in den nächsten Jahren noch erheblich ausweiten werden. Die Schwerstarbeit der Sicherstellung obliegt also den Kassenärztlichen Vereinigungen, die Krankenkassen dürfen sich da fein heraushalten.

Wer die Verhältnisse in Ostdeutschland kennt, wo schon jetzt ganz erhebliche Defizite in der hausärztlichen Versorgung bestehen, kann die KVen um diese Aufgabe wirklich nicht beneiden. Aus der aktuellen Ärztestatistik der Bundesärztekammer - Stand: 31. Dezember 2002 - wird ersichtlich, dass die Zahl der ambulant tätigen Ärzte in vier Ärztekammerbezirken, nämlich Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt, gegenüber dem Vorjahr erstmals gesunken ist. Dies hat seine primäre Ursache in der rückläufigen Zahl der Hausärzte.

Die Probleme werden sich sogar noch verstärken; denn in den nächsten zehn Jahren werden im Osten Deutschlands sehr viele ältere Ärzte, etwa 35 bis 40 Prozent, in den Ruhestand gehen, ohne dass ausreichender Nachwuchs zur Verfügung steht. Vor allem in den ländlichen Regionen ist ein dramatischer Ärztemangel zu befürchten.

Dass die Kassen dafür nicht die Verantwortung übernehmen wollen, verstehe ich, das erschließt sich von selbst. Im Zweifel werden wir Ärztinnen und Ärzte dann wieder zur Verantwortung gezogen.

Diese Zersplitterung der Versorgung wird als Wettbewerb dargestellt. Doch in Wahrheit werden die Fachärzte in einzelvertragliche Abhängigkeiten einer AOK-dominierten Kassenfront geführt und für die Patienten wird de facto doch die freie Arztwahl aufgehoben.

Darüber hinaus wird die Kombination von Facharzt-Neuniederlassungen nur im Einzelvertrag und Errichtung von Gesundheitszentren junge Ärztinnen und Ärzte entmutigen, gegen solche Zentren anzutreten und eine eigene Praxis zu gründen.

(Beifall)

Wie sollen sie bei einem solchen Wettbewerb denn noch das Investitionsrisiko tragen? Zwangsläufige Folge wird eine Institutionalisierung der fachärztlichen Versorgung sein. Dann sind wir sukzessive sozusagen von hinten durch die Brust bei holländischen Verhältnissen.

(Beifall)

Sehr verehrte Frau Ministerin, meine Damen und Herren, wir haben konstruktive Zusammenarbeit angeboten und wollen auch jetzt noch unsere Erfahrung einbringen, damit es nicht zu einer Vertrauenskrise im Gesundheitswesen kommt. Die vor uns liegenden Probleme sind zu groß und auch zu lebensnah, als dass sie nur nach einer Lehrmeinung zu lösen sind.

Gemeinsam - und durchaus auch parteienübergreifend - könnten wir die He­rausforderungen schultern. Es gibt eine Vielzahl gemeinsamer Ansatzpunkte, so zum Ausbau der hausärztlichen Versorgung. Unsere Gesellschaft des langen Lebens braucht eine kontinuierliche Betreuung der Patientinnen und Patienten durch qualifizierte hausärztliche Versorgung, gerade auch wegen der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin. Eine modellhafte Erprobung freiwilliger Hausarzttarife ist deshalb sinnvoll.

Lassen Sie mich an dieser Stelle zu zwei wichtigen Tagesordnungspunkten des diesjährigen Ärztetages kommen: die Weiterbildungsordnung und die Berufsordnung - beides zentrale Regelwerke der ärztlichen Selbstverwaltung.

Unsere Berufsordnungsgremien haben das Thema „Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft und Industrie“ eingehend diskutiert. Um der geänderten Rechtsauffassung wie auch der erheblich gewachsenen Sensitivität auf dem Gebiet der möglichen Korruption in der öffentlichen Meinung Rechnung zu tragen, empfehlen sie dem Ärztetag, die geltenden Bestimmungen weiterzuentwickeln. Auch wir arbeiten an diesem Thema. Die Gremien sind davon ausgegangen, dass eine Zusammenarbeit von Ärzteschaft und Industrie notwendig und wünschenswert ist, so lange Ärztinnen und Ärzte unabhängig sind und nur das Patientenwohl oberste Maxime des ärztlichen Handelns bleibt.

(Beifall)

Um dieses Ziel zu erreichen, sollen im Berufsrecht folgende Prinzipien verankert werden - ich hoffe, Frau Ministerin Fischer wird das genehmigen; sie hat ja die Aufsicht darüber -:

- Transparenz der Finanzflüsse

- Trennung der Beschaffungsentscheidungen von dem Empfang von
Zuwendungen

- Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung

- Dokumentation aller Formen der Zusammenarbeit

Ich danke dem früheren Vorsitzenden der Berufsordnungsgremien, Herrn Kollegen Everz, und seinem Nachfolger in dieser Funktion, Herrn Kollegen Flenker, sowie den Damen und Herren von Ausschuss und Ständiger Konferenz sowie unserer Geschäftsführung einschließlich der Rechtsabteilung für die geleistete Arbeit der Vorbereitung für diesen Ärztetag.

(Beifall)

Ebenso danke ich Herrn Kollegen Koch aus Bayern als dem Vorsitzenden der Weiterbildungsgremien - und auch hier natürlich der Geschäftsführung - für die Vorbereitung der Novelle zu unserer Weiterbildungsordnung, die uns ja schon in den Jahren 2001 in Ludwigshafen und 2002 in Rostock beschäftigt hat. Lieber Hellmut Koch, Sie, der Ausschuss und die Ständige Konferenz haben eine Herkulesarbeit bewältigt, die es uns nunmehr möglich macht, auf diesem Ärztetag durch die Verabschiedung einer zeitgemäßen (Muster-)Weiterbildungs­ordnung die Funktionsfähigkeit und, wie ich ausdrücklich sagen möchte, Inte­grationskraft der ärztlichen Selbstverwaltung unter Beweis zu stellen - wenn auch nach heftigen Auseinandersetzungen, die denen in der so genannten großen Politik zweifellos nicht nachstehen. Herzlichen Dank dafür.

(Beifall)

Ich bitte nur sehr darum, dass wir die Emotionen, die ja zweifellos auch viel Leben in unsere Diskussion bringen, auf das unserem Beruf zuträgliche Maß begrenzen, auch in dieser Frage. Auch in dieser wichtigen Auseinandersetzung müssen wir trotz allem in der Öffentlichkeit ein anständiges Bild abgeben und dürfen nicht auch noch unsererseits Vertrauen zerstören. Schließlich ist das erste Ziel unserer Entscheidungen die Sicherstellung einer guten ärztlichen Patientenversorgung unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Entwicklung.

Es ist doch unsere gemeinsame Position, dass die hausärztliche Versorgung gestärkt werden muss. Dann müssen wir jetzt auch die Kraft finden, die weiterbildungsrechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es in den nächsten Jahrzehnten genügend gut qualifizierte Hausärztinnen und Hausärzte gibt, damit der eben genannte Vorwurf von vornherein rechtsunwirksam wird oder inhaltsleer.

(Beifall)

Die Stärkung der hausärztlichen Versorgung bedingt keineswegs einen Bedeutungsverlust für die ambulante fachärztliche Versorgung. Im Gegenteil: Ge­rade die steigende Zahl älterer Menschen macht auch eine wohnortnahe fachärztliche Versorgung notwendig, zumal nach der Finanzierungsumstellung im Krankenhaussektor auf diagnosebezogene Fallpauschalen wohnortnahe Krankenhäuser oder zumindest Krankenhausabteilungen, Fachrichtungen immer seltener werden dürften. Auch das ist bei den geplanten tief greifenden Einschnitten im ambulanten fachärztlichen Sektor bisher völlig unberücksichtigt geblieben.

Das System der diagnosebezogenen Fallpauschalen ist ohnehin für uns Ärztinnen und Ärzte eine Dauerbaustelle mit höchstem Sorgenpotenzial. Das so genannte DRG-System wurde durch eine Ersatzvornahme des Gesundheitsministeriums in nur zwei Monaten erstellt. Dieses System enthält massive Fehler und wird dennoch entgegen ärztlicher Kritik seit dem 1. Januar 2003 mehr oder weniger freiwillig in etlichen Krankenhäusern - so übrigens auch in dem Krankenhaus, in dem ich arbeite - als so genanntes „lernendes System“ eingeführt. Dabei sind etliche Probleme der konkreten Ausgestaltung nach wie vor ungelöst. Geradezu symptomatisch dafür ist die Tatsache, dass dieses „lernende System“ bereits am 30. Tag seiner Anwendung in den Nachhilfeunterricht geschickt werden musste.

Immerhin können wir begrüßen, dass der Gesetzgeber im Fallpauschalenänderungsgesetz für Leistungen und Einrichtungen, die nicht sachgerecht über DRG-Fallpauschalen vergütet werden können, nunmehr seit Ende Januar dringend notwendige Öffnungsklauseln vorgesehen hat.

Wir tun dies auch keineswegs mit der Häme desjenigen, der auf diese Schwachstellen schon lange zuvor hingewiesen hat. Dafür ist die Bedeutung eines sachgerechten Krankenhausfinanzierungssystems für die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung auch über die Pforten der stationären Versorgung hinaus viel zu bedeutsam.

Neben dem Lob für die erste Einsicht des Gesetzgebers in den bestehenden Nachbesserungsbedarf muss jedoch die klare Kritik an der Fülle der weiterhin unbeachtet gebliebenen Probleme erneuert werden. Wir werden mit einem Beschluss des Deutschen Ärztetages detailliert auf diese Probleme hinweisen. Auf jeden Fall darf dieses System nicht allein versorgungswirksam eingesetzt werden, bis alles geklärt ist. Hier müssen Abfederungen erfolgen, sonst geht unsere Krankenhauslandschaft zu Bruch, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Übereinstimmung, verehrte Frau Ministerin Schmidt, gibt es auch bei der integrierten Versorgung, zumindest im Grundsatz. Wir wären dankbar, wenn man uns hier nicht ständig Blockade vorwerfen würde, da doch die Politik maßgeblich verantwortlich ist für die unterschiedlichen ordnungspolitischen Regelungen und die kooperationshemmenden Vergütungssysteme. Wir allein können die administrativen Hindernisse nicht abbauen.

Die Leistungen sollten natürlich dort erbracht werden können, wo sie für die Patientinnen und Patienten in der besten Qualität und auch wirtschaftlich ausgeführt werden können. Dazu sollten, so sagen wir, Krankenhausärzte über das heutige Maß hinaus personenbezogen in die hoch spezialisierte ambulante Versorgung einbezogen werden und umgekehrt sollten Vertragsärzte verstärkt auch am Krankenhaus tätig werden können. Das ist dann wirklich bedarfsgerechte Versorgung mit einem hohen Maß an freier Arztwahl.

Meine Damen und Herren, wir sind für Transparenz. Jede Patientin, jeder Patient sollte sich informieren können über die für sie bzw. ihn erbrachten Leistungen und auch über die Kosten, die dabei entstanden sind. Transparenz bedeutet aber auch, dass Patienten in der Krankenversicherung die Möglichkeit erhalten, an den Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Da haben wir in diesem Gesetzentwurf, Frau Ministerin Schmidt, leider bisher immer noch keine entsprechende Passage gefunden. Das müsste nachgebessert werden, denn einseitig kann es ja nicht gehen.

Auch in der Prävention sind wir uns weit gehend einig. Wir unterstützen nachhaltig die nationale Präventionskampagne und das von Ihnen initiierte „Forum für Prävention und Gesundheitsförderung“. Prävention ist wichtig, denn sie stärkt die Lebensqualität, gerade in einer Gesellschaft steigender Lebenserwartung.

Prävention erfordert ein gesteigertes Maß an Eigenverantwortung für die eigene Lebensführung. Aber man darf die Menschen auch nicht überfordern. Verhaltensänderungen brauchen ihre Zeit. Deshalb sollte man die möglichen Kosteneinsparungen durch Prävention auch nicht allzu hoch ansetzen. Erfolge werden erst auf längere Sicht feststellbar sein. Mich würde es schon freuen, wenn die Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande regelmäßig im Abstand von zehn Jahren ihren Impfstatus überprüfen lassen würden.

(Beifall)

Das gilt auch für uns Ärztinnen und Ärzte. Das kostet zwar nichts, kann aber ungemein hilfreich sein.

Es gibt noch viele andere Möglichkeiten der Prävention, die nichts kosten, aber sehr wirksam sein können, ohne dass sie einem den Spaß am Leben verderben. Dazu gehört etwa eine gesunde Ernährung.

Es gibt aber auch Dinge, die der Gesundheit außerordentlich schaden. Man kann es auf jeder Zigarettenpackung lesen, in Großbuchstaben: RAUCHEN SCHADET IHRER GESUNDHEIT. Trotzdem hat gerade unter Jugendlichen die Zahl der Raucher in den vergangenen Jahren stark zugenommen.

Die geplante Erhöhung der Tabaksteuer ist daher konsequent und richtig.

(Beifall)

Karsten Vilmar hat nach 22 Jahren Recht bekommen.

(Beifall)

Hier haben Sie, verehrte Frau Ministerin, unsere volle Unterstützung. Rauchen schadet nicht nur der Gesundheit, sondern verursacht auch erhebliche Kosten im Gesundheitswesen. Deshalb wäre schon viel gewonnen, wenn die Erhöhung der Preise dazu beitragen würde, Jugendliche vom Rauchen von vornherein abzuhalten. 4 Euro pro Schachtel haben da sicher einen erzieherischen Wert.

Und natürlich kann die Steuer ganz allgemein auch dazu beitragen, die gesetzliche Krankenversicherung von den versicherungsfremden Leistungen zu entlasten, so wie der Bundeskanzler das ja auch in seiner Regierungserklärung im März angemahnt hatte. In dieser Rede hat der Bundeskanzler weitere, für das Gesundheitswesen wichtige Signale gesetzt. So hat er klargestellt, dass Qualität und Standards unseres Gesundheitswesens im internationalen Vergleich immer noch vorbildlich sind.

Für diese Anerkennung danken wir dem Bundeskanzler,

(Beifall)

denn damit hat er ein Zeichen gegen diese entstandene Kultur des Kaputtredens gesetzt.

Weiter hat der Kanzler festgestellt, dass die Strategie der Kostendämpfung an ihre Grenzen gestoßen ist. Das ist zwar keine ganz neue Erkenntnis, aber ein Stück jener Ehrlichkeit, die wir uns von der Kanzlerrede erwartet hatten.

Ausdrücklich hat der Bundeskanzler auch anerkannt, dass der medizinische Fortschritt und die steigende Zahl älterer Mitbürger die Zahl gesundheitlicher Leistungen unabdingbar steigen lassen. Das sind Tatsachen, die jedem Reformansatz zugrunde liegen müssen.

Aus der zutreffenden Lageanalyse hat die Bundesregierung erste richtige Konsequenzen zur Finanzierung des Gesundheitswesens gezogen, vor allem durch die Ausgliederung und Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen. Damit wird eine langjährige Forderung der Ärzteschaft endlich erfüllt, und das begrüßen wir sehr.

Doch reicht das wirklich aus, um eine stabile Finanzierung der GKV mittelfristig zu gewährleisten? Hier gibt es nicht nur von uns erhebliche Zweifel. Ich darf einmal aus berufenem Munde zitieren:

Jetzt müssen wir mal sehen, dass wir den Kassen mit der Reform ein wenig Luft verschaffen. Doch eines ist klar: Auf Dauer wird auch dieses Geld nicht reichen.

Auch wenn es Sie jetzt erschreckt, Frau Ministerin Schmidt: Das, was Sie da kürzlich auf dem Chirurgentag in München gesagt haben, deckt sich völlig mit unseren Erfahrungen.

(Beifall)

Denn die Achillesferse der gesetzlichen Krankenversicherung ist nach wie vor die stark erodierende Einnahmenseite. Wenn die Leistungsfähigkeit und die Finanzierbarkeit der GKV wieder hergestellt und dauerhaft gesichert werden sollen, dann muss sich die Solidarität nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit richten, das heißt, dann muss die Beitragsbemessungsgrundlage über das Arbeitseinkommen hinaus verbreitert werden; dann muss die Eigenvorsorge und Eigenverantwortung einschließlich einer finanziellen Selbstbeteiligung verstärkt werden; dann müssen die versicherungsfremden Leistungen dauerhaft aus der GKV ausgegliedert werden. Vor allem aber muss endlich Schluss gemacht werden mit der Quersubventionierung anderer Sozialversicherungszweige mit Krankenkassenbeiträgen. Allein im Zeitraum 1995 bis 2000 machte das einen Betrag von rund 30 Milliarden Euro aus.

(Beifall)

Das, meine Damen und Herren, wäre wirklich einmal ein Fall für den Korruptions- und Missbrauchsbeauftragten.

(Beifall)

Wir haben schon in Berlin festgestellt: Das ist ein Betrug an den wirklichen Beitragszahlern. Ich wundere mich, dass noch kein Gericht oder eine sonstige juristisch tätige Behörde darauf gekommen ist.

Wir brauchen eine solide und saubere Finanzierung der GKV. Und ich werde nicht müde, zu fordern, dass wir eine ehrliche Diskussion darüber brauchen, wie viel der Gesellschaft die Gesundheit wert ist und welche Leistungen solidarisch bezahlt werden können, ohne die nachwachsende Generation zu überfordern.

Wir werden von unseren Kindern und Kindeskindern verantwortlich gemacht, wenn wir jetzt nicht verantwortlich handeln. Und wir legen jetzt fest, wie der Umgang mit alten Menschen - dazu gehören wir später auch - morgen sein wird.

Deshalb auch haben wir uns entschieden, neben allen Fragen der allgemeinen Gesundheitspolitik das Thema Palliativmedizin zu einem zentralen Thema dieses Ärztetages zu machen. Wir müssen für Vertrauen werben, dass Menschen auch in der letzten Phase ihres Lebens professionell betreut werden und die notwendige Zuwendung erfahren. Palliativmedizin bedeutet, dass auch unheilbar kranke Menschen bis zuletzt ihr Leben als lebenswert empfinden können. Den Ruf nach aktiver Sterbehilfe und Hilfe zur Selbsttötung lehnen wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland kategorisch ab.

(Beifall)

Mehr denn je haben wir heute die Möglichkeit, mit einer wirkungsvollen Schmerztherapie Leiden zu lindern und Angst zu nehmen. Schon im Medizinstudium sollte deshalb die Palliativmedizin ihren Platz erhalten und als Querschnittsbereich anerkannt werden.

Meine Damen und Herren, es wird so viel von der Würde des Menschen geredet. Setzen wir uns dafür ein, dass der Mensch diese Würde zu Beginn seines Lebens erhält und am Ende seines Lebens nicht verliert!

(Beifall)

Ich bin Frau Dr. Auerswald außerordentlich dankbar, dass sie dieses Thema so intensiv für den Ärztetag vorbereitet hat, um der Öffentlichkeit klar zu machen, dass auch der Umgang mit Sterbenden ein Gradmesser für die Menschlichkeit in unserer Gesellschaft ist. Vielen Dank, Ursula - genannt „Kuni“ - Auerswald.

(Beifall)

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, soziales Verhalten ist menschliche Selbstverpflichtung. Davon bin ich fest überzeugt. Wir haben diese Selbstverpflichtung kultiviert, über Gruppen und Glaubensgemeinschaften bis hin zum Sozialstaat. Hilfe, Nächstenliebe und Vertrauen sind die tragenden Prinzipien einer Gesellschaft auf Gegenseitigkeit. Und wenn wir nicht weiter ein „Nebeneinanderleben“, ein „Administrieren“ und „Abwickeln“ als kennzeichnend für den Umgang in unserer Gesellschaft dulden wollen, dann müssen wir umkehren zur Menschlichkeit. Wir brauchen mehr Soziales und weniger Staat!

Bevormundung und Misstrauen ersticken Eigenverantwortung. Subsidiarität ist keine Ebene staatlichen Handelns und die Selbstverwaltung als Ausdruck der Selbstverantwortung ist keine staatliche Auftragsverwaltung.

(Beifall)

Es darf nicht am Schreibtisch entschieden werden, was am OP-Tisch geschehen soll. Wir dürfen nicht zulassen, dass Zuwendung durch Zuteilung ersetzt wird.

(Beifall)

Deshalb appelliere ich an die Öffentlichkeit und besonders an die Politik: Stoppen Sie die Überreglementierung und beenden Sie die Kultur des Misstrauens! Lassen Sie uns endlich wieder Ärzte sein und die Patienten in ärztlicher Unabhängigkeit behandeln.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall)

(Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne)

Hiermit ist der 106. Deutsche Ärztetag eröffnet.

© 2003, Bundesärztekammer.