Dr. Schindler, Referent:
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte über die Palliativmedizin im
ambulanten Sektor referieren. Vor welchem Hintergrund tue ich das? Ich komme
ursprünglich aus der Allgemeinmedizin, arbeite aber seit acht Jahren
ausschließlich palliativmedizinisch in mehreren Modellprojekten: zunächst sechs
Jahre in Berlin, seit 2001 im Palliativmedizinischen Konsiliardienst in
Nordrhein-Westfalen, der vom dortigen Gesundheitsministerium
mit Unterstützung der Kammern in Nordrhein-Westfalen und der beiden KVen finanziert
wird.
Zunächst möchte ich Ihnen eine kurze Einführung über die
Situation im ambulanten Sektor geben, dann über einige Modellprojekte
informieren, die es in Deutschland seit einigen Jahren gibt, und zum Schluss
möchte ich noch auf einige spezielle Fragen wie den Bedarf und die Finanzierung eingehen.
Zunächst zu den Sterbeorten von Krebspatienten in
Deutschland. Wir wissen aus vielen repräsentativen Untersuchungen, dass die
meisten Menschen, wenn sie es sich denn wünschen dürften, zu Hause sterben möchten,
selbstverständlich auch die Krebspatienten. Die Realität sieht anders aus. Nur
30 Prozent der an einer Krebserkrankung versterbenden Menschen sterben zu
Hause, die anderen 70 Prozent in stationären Einrichtungen. Die Frage ist:
Kann das anders werden?
Wie ist die Palliativmedizin in den Gebührenordnungen
repräsentiert? Das ist jetzt ein scharfer Schnitt, aber er gehört durchaus an
diese Stelle. Sie ist so gut wie überhaupt nicht repräsentiert. Es gibt zwar im
EBM die Ziffer 20, aber durch Budgetierungen und viele Ausschlüsse wird nicht
im Mindesten der zeit- und betreuungsintensive Aufwand abgedeckt, den gerade
schwerkranke und sterbenskranke Menschen für den behandelnden Arzt bedeuten.
Auch mit einzelnen Sondervereinbarungen in einigen KV-Bezirken kommt man nicht
weiter. Was die Modellprojekte angeht, so gibt es große Probleme, wenn es darum
geht, die Modellprojekte in die Regelfinanzierung zu übernehmen.
Kurz gesagt: Das, was wir uns unter Palliativmedizin oder
auch Palliativpflege vorstellen, wird in der Regelversorgung praktisch nicht
honoriert. Wenn man also will, dass dieser Bereich gestärkt wird, muss man auch
da ansetzen.
Es gibt auch die Hospizdienste. In der Hospizbewegung hat
sich in den letzten Jahren in Deutschland viel getan. Es gibt über 1 000
Gruppen, die vor allem ehrenamtlich organisiert sind. Es geht dort um die
psychosoziale Sterbebegleitung. Seit dem letzten Jahr gibt es eine Änderung in
§ 39 a Abs. 2 SGB V, dass ambulante Hospizdienste, die
palliativpflegerische Beratungsleistungen anbieten, von den Krankenkassen
gefördert werden sollen. Das ist ein großer Fortschritt, reicht aber bei weitem
nicht aus.
Frau Dr. Auerswald sagte schon: Es gibt in Deutschland
etwa 30 ambulante Palliativdienste, also spezialisierte Dienste mit mehreren
hauptamtlichen Mitarbeitern, die in diesem Bereich tätig sind. Das ist eine
sehr geringe Anzahl. Einige bezweifeln, dass wir sie überhaupt benötigen.
Ich möchte nun darüber berichten, was durch die Arbeit der
ambulanten Palliativdienste möglich ist. Grundsätzlich muss man zwischen rein
pflegerischen, rein ärztlichen und multiprofessionellen Angeboten
unterscheiden. Letztere heißen in einigen Regionen palliative Care-Teams. Diese
Dienste können entweder rein beratend oder auch direkt in der Versorgung tätig
sein. Es gibt hier sehr unterschiedliche Konzepte. Sie werden verstehen, dass
ich mich hier und heute auf diejenigen Projekte beschränken möchte, bei denen
die ärztliche Expertise eine wesentliche Rolle spielt.
Wenn von Nordrhein-Westfalen die Rede ist, muss auch von
dem Schwesterprojekt gesprochen werden, dem Modellprojekt Palliativpflege. Die
Pflege spielt in der Versorgung Schwerkranker und Sterbender, zumal zu Hause,
eine extrem wichtige Rolle. In Nordrhein-Westfalen gibt es 17 Dienste, die über
Sondervereinbarungen mit den Krankenkassen diese palliativpflegerische Tätigkeit abrechnen können. Jeder dieser Dienste
muss mindestens drei examinierte Krankenpflegekräfte mit einer
Palliative-Care-Fortbildung haben.
Das Interessante ist: Wir können schon dort Unterschiede
feststellen zwischen den Diensten, die an eine Palliativstation angedockt sind,
also auch sektorenübergreifend tätig sind, den Diensten, die aus der
Hospizlandschaft heraus operieren, und den Diensten, die aus der ambulanten
Pflege kommen. Parallel dazu gibt es, wie gesagt, den palliativmedizinischen
Konsiliardienst, der eine Beratungshotline für niedergelassene Ärzte zu
palliativmedizinischen Fragestellungen anbietet und dezentrale
Fortbildungsveranstaltungen durchführt.
Von den 17 Palliativpflegediensten wurden im letzten Jahr
644 Betreuungen abgeschlossen. Diese Patienten sind also alle gestorben. 95
Prozent litten an einer Krebserkrankung; diese Zahl findet man auch auf
Palliativstationen in stationären Hospizen.
Interessant ist, dass der Kontakt zu diesen
spezialisierten Diensten in 36 Prozent der Fälle von den Angehörigen
hergestellt werden musste und dass nur in 18 Prozent der Fälle die Überweisung,
wie es angedacht war und vielleicht auch sein sollte, von den niedergelassenen
Ärzten direkt kam. Das deutet doch darauf hin, dass dort noch eine Menge
Informationsbedarf besteht.
Interessant ist ebenfalls, dass 60 Prozent der betreuten
Personen keine Einstufung im Rahmen der Pflegeversicherung aufwiesen. Das ist
deswegen interessant, weil wir immer ganz anderes hören, nämlich dass diese
Menschen am Ende doch auch mithilfe der Pflegeversicherung abgesichert werden.
Dem ist nicht so.
Die Lebenserwartung, die diesen Menschen verbleibt, ist
sehr begrenzt, nämlich im Durchschnitt 40 Tage, im Median 20 Tage. Wenn man
sich in dieser letzten Lebenszeit auch noch mit den Problemen einer Einstufung
herumschlagen muss - Wann kommt der Gutachter? Welche Stufe wird
bewilligt? ‑, dann ist das schon ein sehr, sehr großes Problem.
Ich möchte Ihnen nun einige Daten aus der Evaluation des
Palliativmedizinischen Konsiliardienstes in Nordrhein-Westfalen vorstellen. Es
wird deutlich, dass in der niedergelassenen Ärzteschaft Bedarf an Konsilen,
telefonischen Konsilen, auch Konsiliarbesuchen vorhanden ist und dass eine
relativ große Anzahl von Kollegen sich
durchaus die Übernahme von schwerkranken und sterbenden Patienten durch
entsprechende Dienste wünscht.
Nun ein Blick auf zwei Modellprojekte aus Berlin. Das
Vorbild des Konsiliardienstes in Nordrhein-Westfalen war der
Palliativmedizinische Konsiliardienst für Berliner Hausärzte, ein Projekt, das
in Berlin nicht nur von den Kostenträgern und der KV getragen wurde, sondern
auch von der Europäischen Union. Es gibt in Berlin für zwei Jahre Sonderziffern
nicht nur für den Konsiliardienst, sondern auch für die sich beteiligenden
Hausärzte. Das wurde von den Ärzten, die mitgemacht haben, sehr gut angenommen.
95 Prozent der Kollegen haben sich
gewünscht, dass diese Einrichtung erhalten bleibt. Wir konnten nachweisen, dass
durch eine deutliche Verringerung der Krankenhauseinweisungen am Lebensende und
durch eine Verkürzung der Krankenhausverweildauer theoretisch Kosten hätten
eingespart werden können. Ich muss es so kompliziert formulieren, weil wir von
den Krankenkassen immer wieder entsprechende Forderungen hören. Erst sollen wir
nachweisen, dass es kosteneinsparend ist, dann schaffen wir das auch, aber dann
ist es nichts wert, weil die Gelder wegen der sektoralen Budgets nicht
verlagert werden können.
Das ist ein durchaus unerfreuliches Kapitel. Deshalb gibt
es dieses Projekt leider nicht mehr. Es gibt in Berlin aber ein anderes
Projekt, und zwar seit Mitte der 90er-Jahre, das ebenfalls sehr erfolgreich
ist. Es nennt sich Home Care Berlin und wird durch die Kostenträger mit unterstützt.
Dort werden schwerkranke Patienten in ihren Wohnungen von so genannten
Home-Care-Ärzten versorgt. Der Nutzen dieses Angebots ist sehr, sehr hoch.
Dafür haben wir verschiedene Indikatoren. Für mich ist einer der wichtigsten
Indikatoren zweifellos die Befragung derer, die von dem Angebot profitieren
sollen. Genau so, wie sich beim Palliativmedizinischen Konsiliardienst die
Hausärzte sehr positiv über diese Art der Unterstützung geäußert haben, haben
sehr ausführliche Angehörigenbefragungen nach dem Tod der Betroffenen ergeben,
wie wichtig das zusätzliche Angebot der Home-Care-Ärzte war und wie sehr sie
sich, also die Angehörigen, ermutigt gefühlt haben, in der letzten Lebenszeit
den schwerkranken Angehörigen zu Hause zu pflegen. Diese Ermutigung brauchen
die Angehörigen. Es bleibt ja keine leichte Angelegenheit.
Ein anderer Indikator für das, was durch eine richtige
Palliativmedizin möglich ist, ist sicherlich der Verlauf von Symptomen. In den
Jahren 1999 und 2000 wurden 2 340 Patienten von den Home-Care-Ärzten in
Berlin betreut. Sie sehen an dem gezeigten Schaubild, wie die Symptome selbst
bei einer sehr kurzen verbleibenden Lebenszeit deutlich gebessert werden
konnten. Dadurch verbesserte sich natürlich auch die Lebensqualität.
Interessant ist, dass gerade häufig vorkommende Symptome wie Schmerzen und die
gastrointestinale Symptompalette relativ gut behandelbar sind. Allerdings
lassen sich diese Symptome nicht auf null reduzieren. Diesen Anspruch sollte
man auch gar nicht erheben.
Ein ganz wichtiger Punkt in der Palliativmedizin ist, den
Patienten und die Angehörigen zu begleiten, auch mit Symptomen, die bleiben,
die in ihrer Stärke aber deutlich reduziert sind. Es bleiben immer noch
Perspektiven.
Ich möchte noch einen Blick auf zwei andere Modellprojekte
werfen, die vom Bundesgesundheitsministerium über vier Jahre gefördert und
finanziert worden sind, und zwar in Niedersachsen und in
Mecklenburg-Vorpommern. Auch das ist ein sehr trauriges Kapitel. Ein sehr
schönes Kapitel ist es allerdings, weil auch die Projekte in Göttingen und
Greifswald zeigen konnten, wie viel Nutzen ein palliativmedizinisches Angebot,
kombiniert mit Palliativpflege, am Lebensende haben kann, wie sehr Ärzte und
Patienten davon profitieren. Es ist allerdings ein Trauerspiel, dass trotz
aller guten Ergebnisse - gerade die Greifswalder haben belegen können, dass es
durch ein solches Projekts überhaupt nicht zu einer Kostenexplosion kommen
muss, sondern im Gegenteil - selbst diese Projekte mit größten Mühen überhaupt
noch existieren können. Beide sind bisher nicht in die Regelversorgung
überführt worden, beide haben große Schwierigkeiten, sich sozusagen zu
behaupten. Darüber kann man nur den Kopf schütteln, wenn man die guten
Ergebnisse sieht, die hier erreicht wurden.
Schließlich noch ein Blick nach Tübingen. Dort existiert
schon relativ lange ein multiprofessionelles Team. Dort ist die Pflege
integriert, dort ist ein Arzt integriert, man arbeitet sektorenübergreifend. Es
werden relativ viele Patienten betreut. Die Resonanz gerade bei den primär
behandelnden Hausärzten ist enorm. Auch dort hat man im letzten Jahr eine
umfangreiche Befragung durchgeführt. Die Hausärzte sind sehr, sehr dankbar für
die Unterstützung, die sie in Gestalt des Tübinger Teams erhalten.
Auch hier wird deutlich, dass die primären Probleme am
Lebensende, wenn man die physische Symptomatik relativ gut behandeln kann, ganz
oft psychosozialer Natur sind, also den Umgang mit der Erkrankung bzw. die
Belastung der Angehörigen betreffend.
Wenn ein zusätzliches palliativmedizinisches Angebot
existiert, verlagern sich die Sterbeorte. Ich möchte Ihnen das anhand von
Krebspatienten in Deutschland demonstrieren. 30 Prozent der Krebspatienten in
Deutschland, die an ihrer Tumorerkrankung sterben, sterben zu Hause. Durch das
Hinzuziehen eines Unterstützungssystems werden die Zahlen zum Teil auf den Kopf
gestellt. Dort, wo ein lang eingespieltes Team - am besten sektorenübergreifend
- tätig ist, gibt es fast nur noch 20 Prozent Patienten, die am Lebensende
noch in eine Klinik eingewiesen werden müssen. Die meisten Patienten kann man
zu Hause versorgen, und zwar gut.
Noch ein Wort zum Bedarf an solchen Diensten bzw.: Wie
viele Patienten sind Palliativpatienten in diesem Sinne, dass sie am Lebensende
eine spezialisierte Versorgung benötigen? Ist jeder Sterbende ein
Palliativpatient? - Sicherlich nicht in diesem Sinne. Wenn man eine sehr
defensive Rechnung aufmacht, kommt man auf eine Gesamtzahl von etwa 85 000
Palliativpatienten, die an ihrem Lebensende so viele Probleme haben, dass eine
zusätzliche Unterstützung dringend benötigt wird. Durch diese Unterstützung
kann der Verlauf sehr positiv beeinflusst werden.
Ein Wort zu den Kosten. Die Palliativmedizin ist nicht
kostenlos zu haben. Es hat in den letzten Jahren nicht viel geholfen, wenn wir
versucht haben, Gegenrechnungen aufzumachen, dass durch die vermiedenen
Krankenhauseinweisungen am Lebensende, durch die verkürzten
Krankenhausverweildauern Kosten gespart werden könnten. Wir haben uns auf diese
Rechnungen auch immer nur deshalb eingelassen, weil sie uns abverlangt worden
sind, nicht aus dem primären Grund, für die Palliativmedizin zu plädieren. Wir
konnten sehen, dass eine intensive ambulante Betreuung durchaus mit dem Schritt
halten kann, was ansonsten stationär gemacht werden muss, weil ambulant die
Versorgung offensichtlich nicht ausreicht.
Wenn man einen anderen Ansatz wählt und durchzurechnen
versucht, wie viel Geld wir bräuchten, wenn wir bedarfsdeckend im stationären
und im ambulanten Sektor palliativmedizinische Unterstützungsangebote in Form
von Palliativstationen oder ambulanten Palliativdiensten anbieten, kommen wir
auf eine Summe von etwa 630 Millionen Euro pro Jahr. Da werden einige die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: Das ist viel Geld! Wer soll das
bezahlen? - Diese Summe macht aber immer noch weniger als 0,5 Prozent
dessen aus, was die gesetzliche Krankenversicherung zurzeit pro Jahr ausgibt.
Wenn uns dieser Bereich so wichtig ist, müssen diese knapp 0,5 Prozent aufgebracht
werden können.
Die ambulanten Dienste, wenn wir sie flächendeckend über
die ganze Republik anbieten könnten, würden pro Jahr etwa 100 Millionen Euro
kosten. Wenn man auf der anderen Seite sieht, dass von der gesetzlichen
Krankenversicherung pro Jahr für Rhinologika 100 Millionen
Euro pro Jahr ausgegeben werden, frage ich mich, ob die Prioritäten nicht doch
sehr verrutscht sind.
Wie lautet das Fazit? Sicherlich
muss die Fort- und Weiterbildung in Palliativmedizin verbessert werden. Sie
muss sich ausbreiten. Es muss in Zukunft eine enge Kooperation mit den
ambulanten Hospizdiensten geben. Die Honorierung palliativmedizinischer
Leistungen gehört unbedingt auf die Tagesordnung. Regionale
Unterstützungssysteme mit berufsgruppenübergreifenden Angeboten sind zu
entwickeln und aufzubauen. Sie scheinen mit einem integrierten Ansatz das
Sinnvollste zu sein. So lautet jedenfalls die zusammengefasste Erfahrung aus
allen Modellprojekten, auf die wir inzwischen zurückschauen können.
Es sollte uns letztendlich ein
Leichtes sein, das zu erfüllen, was Hufeland vor rund 200 Jahren als die
vornehmste Pflicht des Arztes beschrieben hat:
Es ist die vornehmste Pflicht des
Arztes, die Kardinalsymptome menschlichen Leidens: Schmerz, Angst, Atemnot,
Unruhe und Durst, prompt, wirksam und dauerhaft zu lindern, den Sterbenden
Trost und Erleichterung und Erhebung des Gemütes zu verleihen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der
Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:
Vielen herzlichen Dank
allen drei Referenten. Ich glaube, wir haben das ideale Trio gefunden, um in
dieses schwierige Thema aus ärztlicher Sicht eingeführt zu werden. Noch einmal
vielen herzlichen Dank für diese komplette und umfassende Einführung.
Entsprechend reichlich viele Wortmeldungen
liegen bereits vor. Es liegen auch Anträge zu diesem Tagesordnungspunkt vor.
Wir treten nun in die Diskussion ein. Als ersten Redner rufe ich Herrn Dr.
Linden aus Westfalen-Lippe auf.
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