TOP III : Palliativmedizinische Versorgung in Deutschland

3. Tag: Donnerstag, 22. Mai 2003 Vormittagssitzung

Dr. Schindler, Referent:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte über die Palliativmedizin im ambulanten Sektor referieren. Vor welchem Hintergrund tue ich das? Ich komme ursprünglich aus der Allgemeinmedizin, arbeite aber seit acht Jahren ausschließlich palliativmedizinisch in mehreren Modellprojekten: zunächst sechs Jahre in Berlin, seit 2001 im Palliativmedizinischen Konsiliardienst in Nordrhein-Westfalen, der vom dortigen Gesundheitsministerium mit Unterstützung der Kammern in Nordrhein-Westfalen und der beiden KVen finanziert wird.

Zunächst möchte ich Ihnen eine kurze Einführung über die Situation im ambulanten Sektor geben, dann über einige Modellprojekte informieren, die es in Deutschland seit einigen Jahren gibt, und zum Schluss möchte ich noch auf einige spezielle Fragen wie den Bedarf und die Finanzierung eingehen.

Zunächst zu den Sterbeorten von Krebspatienten in Deutschland. Wir wissen aus vielen repräsentativen Untersuchungen, dass die meisten Menschen, wenn sie es sich denn wünschen dürften, zu Hause sterben möchten, selbstverständlich auch die Krebspatienten. Die Realität sieht anders aus. Nur 30 Prozent der an einer Krebserkrankung versterbenden Menschen sterben zu Hause, die anderen 70 Prozent in stationären Einrichtungen. Die Frage ist: Kann das anders werden?

Wie ist die Palliativmedizin in den Gebührenordnungen repräsentiert? Das ist jetzt ein scharfer Schnitt, aber er gehört durchaus an diese Stelle. Sie ist so gut wie überhaupt nicht repräsentiert. Es gibt zwar im EBM die Ziffer 20, aber durch Budgetierungen und viele Ausschlüsse wird nicht im Mindesten der zeit- und betreuungsintensive Aufwand abgedeckt, den gerade schwerkranke und sterbenskranke Menschen für den behandelnden Arzt bedeuten. Auch mit einzelnen Sondervereinbarungen in einigen KV-Bezirken kommt man nicht weiter. Was die Modellprojekte angeht, so gibt es große Probleme, wenn es darum geht, die Modellprojekte in die Regelfinanzierung zu übernehmen.

Kurz gesagt: Das, was wir uns unter Palliativmedizin oder auch Palliativpflege vorstellen, wird in der Regelversorgung praktisch nicht honoriert. Wenn man also will, dass dieser Bereich gestärkt wird, muss man auch da ansetzen.

Es gibt auch die Hospizdienste. In der Hospizbewegung hat sich in den letzten Jahren in Deutschland viel getan. Es gibt über 1 000 Gruppen, die vor allem ehrenamtlich organisiert sind. Es geht dort um die psychosoziale Sterbebegleitung. Seit dem letzten Jahr gibt es eine Änderung in § 39 a Abs. 2 SGB V, dass ambulante Hospizdienste, die palliativpflegerische Beratungsleistungen anbieten, von den Krankenkassen gefördert werden sollen. Das ist ein großer Fortschritt, reicht aber bei weitem nicht aus.

Frau Dr. Auerswald sagte schon: Es gibt in Deutschland etwa 30 ambulante Palliativdienste, also spezialisierte Dienste mit mehreren hauptamtlichen Mitarbeitern, die in diesem Bereich tätig sind. Das ist eine sehr geringe Anzahl. Einige bezweifeln, dass wir sie überhaupt benötigen.

Ich möchte nun darüber berichten, was durch die Arbeit der ambulanten Palliativdienste möglich ist. Grundsätzlich muss man zwischen rein pflegerischen, rein ärztlichen und multiprofessionellen Angeboten unterscheiden. Letztere heißen in einigen Regionen palliative Care-Teams. Diese Dienste können entweder rein beratend oder auch direkt in der Versorgung tätig sein. Es gibt hier sehr unterschiedliche Konzepte. Sie werden verstehen, dass ich mich hier und heute auf diejenigen Projekte beschränken möchte, bei denen die ärztliche Expertise eine wesentliche Rolle spielt.

Wenn von Nordrhein-Westfalen die Rede ist, muss auch von dem Schwesterprojekt gesprochen werden, dem Modellprojekt Palliativpflege. Die Pflege spielt in der Versorgung Schwerkranker und Sterbender, zumal zu Hause, eine extrem wichtige Rolle. In Nordrhein-Westfalen gibt es 17 Dienste, die über Sondervereinbarungen mit den Krankenkassen diese palliativpflegerische Tätigkeit abrechnen können. Jeder dieser Dienste muss mindestens drei examinierte Krankenpflegekräfte mit einer Palliative-Care-Fortbildung haben.

Das Interessante ist: Wir können schon dort Unterschiede feststellen zwischen den Diensten, die an eine Palliativstation angedockt sind, also auch sektorenübergreifend tätig sind, den Diensten, die aus der Hospizlandschaft heraus operieren, und den Diensten, die aus der ambulanten Pflege kommen. Parallel dazu gibt es, wie gesagt, den palliativmedizinischen Konsiliardienst, der eine Beratungshotline für niedergelassene Ärzte zu palliativmedizinischen Fragestellungen anbietet und dezentrale Fortbildungsveranstaltungen durchführt.

Von den 17 Palliativpflegediensten wurden im letzten Jahr 644 Betreuungen abgeschlossen. Diese Patienten sind also alle gestorben. 95 Prozent litten an einer Krebserkrankung; diese Zahl findet man auch auf Palliativstationen in stationären Hospizen.

Interessant ist, dass der Kontakt zu diesen spezialisierten Diensten in 36 Prozent der Fälle von den Angehörigen hergestellt werden musste und dass nur in 18 Prozent der Fälle die Überweisung, wie es angedacht war und vielleicht auch sein sollte, von den niedergelassenen Ärzten direkt kam. Das deutet doch darauf hin, dass dort noch eine Menge Informationsbedarf besteht.

Interessant ist ebenfalls, dass 60 Prozent der betreuten Personen keine Einstufung im Rahmen der Pflegeversicherung aufwiesen. Das ist deswegen interessant, weil wir immer ganz anderes hören, nämlich dass diese Menschen am Ende doch auch mithilfe der Pflegeversicherung abgesichert werden. Dem ist nicht so.

Die Lebenserwartung, die diesen Menschen verbleibt, ist sehr begrenzt, nämlich im Durchschnitt 40 Tage, im Median 20 Tage. Wenn man sich in dieser letzten Lebenszeit auch noch mit den Problemen einer Einstufung herumschlagen muss - Wann kommt der Gutachter? Welche Stufe wird bewilligt? ‑, dann ist das schon ein sehr, sehr großes Problem.

Ich möchte Ihnen nun einige Daten aus der Evaluation des Palliativmedizinischen Konsiliardienstes in Nordrhein-Westfalen vorstellen. Es wird deutlich, dass in der niedergelassenen Ärzteschaft Bedarf an Konsilen, telefonischen Konsilen, auch Konsiliarbesuchen vorhanden ist und dass eine relativ große Anzahl von Kollegen sich durchaus die Übernahme von schwerkranken und sterbenden Patienten durch entsprechende Dienste wünscht.

Nun ein Blick auf zwei Modellprojekte aus Berlin. Das Vorbild des Konsiliardienstes in Nordrhein-Westfalen war der Palliativmedizinische Konsiliardienst für Berliner Hausärzte, ein Projekt, das in Berlin nicht nur von den Kostenträgern und der KV getragen wurde, sondern auch von der Europäischen Union. Es gibt in Berlin für zwei Jahre Sonderziffern nicht nur für den Konsiliardienst, sondern auch für die sich beteiligenden Hausärzte. Das wurde von den Ärzten, die mitgemacht haben, sehr gut angenommen. 95 Prozent der Kollegen haben sich gewünscht, dass diese Einrichtung erhalten bleibt. Wir konnten nachweisen, dass durch eine deutliche Verringerung der Krankenhauseinweisungen am Lebensende und durch eine Verkürzung der Krankenhausverweildauer theoretisch Kosten hätten eingespart werden können. Ich muss es so kompliziert formulieren, weil wir von den Krankenkassen immer wieder entsprechende Forderungen hören. Erst sollen wir nachweisen, dass es kosteneinsparend ist, dann schaffen wir das auch, aber dann ist es nichts wert, weil die Gelder wegen der sektoralen Budgets nicht verlagert werden können.

Das ist ein durchaus unerfreuliches Kapitel. Deshalb gibt es dieses Projekt leider nicht mehr. Es gibt in Berlin aber ein anderes Projekt, und zwar seit Mitte der 90er-Jahre, das ebenfalls sehr erfolgreich ist. Es nennt sich Home Care Berlin und wird durch die Kostenträger mit unterstützt. Dort werden schwerkranke Patienten in ihren Wohnungen von so genannten Home-Care-Ärzten versorgt. Der Nutzen dieses Angebots ist sehr, sehr hoch. Dafür haben wir verschiedene Indikatoren. Für mich ist einer der wichtigsten Indikatoren zweifellos die Befragung derer, die von dem Angebot profitieren sollen. Genau so, wie sich beim Palliativmedizinischen Konsiliardienst die Hausärzte sehr positiv über diese Art der Unterstützung geäußert haben, haben sehr ausführliche Angehörigenbefragungen nach dem Tod der Betroffenen ergeben, wie wichtig das zusätzliche Angebot der Home-Care-Ärzte war und wie sehr sie sich, also die Angehörigen, ermutigt gefühlt haben, in der letzten Lebenszeit den schwerkranken Angehörigen zu Hause zu pflegen. Diese Ermutigung brauchen die Angehörigen. Es bleibt ja keine leichte Angelegenheit.

Ein anderer Indikator für das, was durch eine richtige Palliativmedizin möglich ist, ist sicherlich der Verlauf von Symptomen. In den Jahren 1999 und 2000 wurden 2 340 Patienten von den Home-Care-Ärzten in Berlin betreut. Sie sehen an dem gezeigten Schaubild, wie die Symptome selbst bei einer sehr kurzen verbleibenden Lebenszeit deutlich gebessert werden konnten. Dadurch verbesserte sich natürlich auch die Lebensqualität. Interessant ist, dass gerade häufig vorkommende Symptome wie Schmerzen und die gastrointestinale Symptompalette relativ gut behandelbar sind. Allerdings lassen sich diese Symptome nicht auf null reduzieren. Diesen Anspruch sollte man auch gar nicht erheben.

Ein ganz wichtiger Punkt in der Palliativmedizin ist, den Patienten und die Angehörigen zu begleiten, auch mit Symptomen, die bleiben, die in ihrer Stärke aber deutlich reduziert sind. Es bleiben immer noch Perspektiven.

Ich möchte noch einen Blick auf zwei andere Modellprojekte werfen, die vom Bundesgesundheitsministerium über vier Jahre gefördert und finanziert worden sind, und zwar in Niedersachsen und in Mecklenburg-Vorpommern. Auch das ist ein sehr trauriges Kapitel. Ein sehr schönes Kapitel ist es allerdings, weil auch die Projekte in Göttingen und Greifswald zeigen konnten, wie viel Nutzen ein palliativmedizinisches Angebot, kombiniert mit Palliativpflege, am Lebensende haben kann, wie sehr Ärzte und Patienten davon profitieren. Es ist allerdings ein Trauerspiel, dass trotz aller guten Ergebnisse - gerade die Greifswalder haben belegen können, dass es durch ein solches Projekts überhaupt nicht zu einer Kostenexplosion kommen muss, sondern im Gegenteil - selbst diese Projekte mit größten Mühen überhaupt noch existieren können. Beide sind bisher nicht in die Regelversorgung überführt worden, beide haben große Schwierigkeiten, sich sozusagen zu behaupten. Darüber kann man nur den Kopf schütteln, wenn man die guten Ergebnisse sieht, die hier erreicht wurden.

Schließlich noch ein Blick nach Tübingen. Dort existiert schon relativ lange ein multiprofessionelles Team. Dort ist die Pflege integriert, dort ist ein Arzt integriert, man arbeitet sektorenübergreifend. Es werden relativ viele Patienten betreut. Die Resonanz gerade bei den primär behandelnden Hausärzten ist enorm. Auch dort hat man im letzten Jahr eine umfangreiche Befragung durchgeführt. Die Hausärzte sind sehr, sehr dankbar für die Unterstützung, die sie in Gestalt des Tübinger Teams erhalten.

Auch hier wird deutlich, dass die primären Probleme am Lebensende, wenn man die physische Symptomatik relativ gut behandeln kann, ganz oft psychosozialer Natur sind, also den Umgang mit der Erkrankung bzw. die Belastung der Angehörigen betreffend.

Wenn ein zusätzliches palliativmedizinisches Angebot existiert, verlagern sich die Sterbeorte. Ich möchte Ihnen das anhand von Krebspatienten in Deutschland demonstrieren. 30 Prozent der Krebspatienten in Deutschland, die an ihrer Tumorerkrankung sterben, sterben zu Hause. Durch das Hinzuziehen eines Unterstützungssystems werden die Zahlen zum Teil auf den Kopf gestellt. Dort, wo ein lang eingespieltes Team - am besten sektorenübergreifend - tätig ist, gibt es fast nur noch 20 Prozent Patienten, die am Lebensende noch in eine Klinik eingewiesen werden müssen. Die meisten Patienten kann man zu Hause versorgen, und zwar gut.

Noch ein Wort zum Bedarf an solchen Diensten bzw.: Wie viele Patienten sind Palliativpatienten in diesem Sinne, dass sie am Lebensende eine spezialisierte Versorgung benötigen? Ist jeder Sterbende ein Palliativpatient? - Sicherlich nicht in diesem Sinne. Wenn man eine sehr defensive Rechnung aufmacht, kommt man auf eine Gesamtzahl von etwa 85 000 Palliativpatienten, die an ihrem Lebensende so viele Probleme haben, dass eine zusätzliche Unterstützung dringend benötigt wird. Durch diese Unterstützung kann der Verlauf sehr positiv beeinflusst werden.

Ein Wort zu den Kosten. Die Palliativmedizin ist nicht kostenlos zu haben. Es hat in den letzten Jahren nicht viel geholfen, wenn wir versucht haben, Gegenrechnungen aufzumachen, dass durch die vermiedenen Krankenhauseinweisungen am Lebensende, durch die verkürzten Krankenhausverweildauern Kosten gespart werden könnten. Wir haben uns auf diese Rechnungen auch immer nur deshalb eingelassen, weil sie uns abverlangt worden sind, nicht aus dem primären Grund, für die Palliativmedizin zu plädieren. Wir konnten sehen, dass eine intensive ambulante Betreuung durchaus mit dem Schritt halten kann, was ansonsten stationär gemacht werden muss, weil ambulant die Versorgung offensichtlich nicht ausreicht.

Wenn man einen anderen Ansatz wählt und durchzurechnen versucht, wie viel Geld wir bräuchten, wenn wir bedarfsdeckend im stationären und im ambulanten Sektor palliativmedizinische Unterstützungsangebote in Form von Palliativstationen oder ambulanten Palliativdiensten anbieten, kommen wir auf eine Summe von etwa 630 Millionen Euro pro Jahr. Da werden einige die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: Das ist viel Geld! Wer soll das bezahlen? - Diese Summe macht aber immer noch weniger als 0,5 Prozent dessen aus, was die gesetzliche Krankenversicherung zurzeit pro Jahr ausgibt. Wenn uns dieser Bereich so wichtig ist, müssen diese knapp 0,5 Prozent aufgebracht werden können.

Die ambulanten Dienste, wenn wir sie flächendeckend über die ganze Republik anbieten könnten, würden pro Jahr etwa 100 Millionen Euro kosten. Wenn man auf der anderen Seite sieht, dass von der gesetzlichen Krankenversicherung pro Jahr für Rhinologika 100 Millionen Euro pro Jahr ausgegeben werden, frage ich mich, ob die Prioritäten nicht doch sehr verrutscht sind.

Wie lautet das Fazit? Sicherlich muss die Fort- und Weiterbildung in Palliativmedizin verbessert werden. Sie muss sich ausbreiten. Es muss in Zukunft eine enge Kooperation mit den ambulanten Hospizdiensten geben. Die Honorierung palliativmedizinischer Leistungen gehört unbedingt auf die Tagesordnung. Regionale Unterstützungssysteme mit berufsgruppenübergreifenden Angeboten sind zu entwickeln und aufzubauen. Sie scheinen mit einem integrierten Ansatz das Sinnvollste zu sein. So lautet jedenfalls die zusammengefasste Erfahrung aus allen Modellprojekten, auf die wir inzwischen zurückschauen können.

Es sollte uns letztendlich ein Leichtes sein, das zu erfüllen, was Hufeland vor rund 200 Jahren als die vornehmste Pflicht des Arztes beschrieben hat:

Es ist die vornehmste Pflicht des Arztes, die Kardinalsymptome menschlichen Leidens: Schmerz, Angst, Atemnot, Unruhe und Durst, prompt, wirksam und dauerhaft zu lindern, den Sterbenden Trost und Erleichterung und Erhebung des Gemütes zu verleihen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen herzlichen Dank allen drei Referenten. Ich glaube, wir haben das ideale Trio gefunden, um in dieses schwierige Thema aus ärztlicher Sicht eingeführt zu werden. Noch einmal vielen herzlichen Dank für diese komplette und umfassende Einführung.

Entsprechend reichlich viele Wortmeldungen liegen bereits vor. Es liegen auch Anträge zu diesem Tagesordnungspunkt vor. Wir treten nun in die Diskussion ein. Als ersten Redner rufe ich Herrn Dr. Linden aus Westfalen-Lippe auf.

© 2003, Bundesärztekammer.