Dienstag, 18. Mai 2004, 10.00 Uhr
Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich
Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:
Sehr verehrte Frau Bundesministerin Schmidt! Sehr verehrte Frau Senatorin!
Liebe Ursula Auerswald! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es selten erlebt, dass nach so
vielen und so hochkarätigen Vorrednern so viel Themenübereinstimmung
besteht und bisweilen sogar recht große inhaltliche Übereinstimmung.
Deswegen darf auch ich alle diese Themen ansprechen, aber vielleicht
die eine oder andere Nuance hineinbringen, damit an alles gedacht
wurde.
(Heiterkeit
– Beifall)
Zunächst bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen,
verehrte Frau Ministerin, für diese engagiert vorgetragene Grußansprache.
Auch ich würde gern ein Grußwort sprechen, aber wir haben nicht so
viel zu begrüßen.
(Heiterkeit
– Beifall)
Deshalb klingen meine Ausführungen vielleicht etwas
anders. Wir und die anderen Berufe im Gesundheitswesen – ich freue
mich, dass die anderen Berufe aus dem Gesundheitsbereich so zahlreich
vertreten sind – hatten so große Erwartungen an das Gesundheits-Reformgesetz.
Schließlich war uns nichts Geringeres als eine Qualitätsoffensive
im Gesundheitswesen versprochen worden. Die Versorgungsstruktur sollte
effizienter gestaltet und die Attraktivität der Gesundheitsberufe
verbessert werden.
In der Wirtschaft
sagt man, dass der Erfolg im hohen Maße von psychologischen Faktoren
abhängt. Das gilt erst recht für das Gesundheitswesen. Sie dürfen
davon ausgehen, dass Ärztinnen und Ärzte und die Angehörigen aller
anderen Berufe im Gesundheitswesen immer noch höchst motiviert sind.
Ich freue mich, dass Sie das gerade anerkannt haben. Anders ließen
sich die millionenfach geleisteten kostenlosen Überstunden in der
Patientenversorgung gar nicht erklären.
(Beifall)
Für all diese Menschen, ob nun Ärztinnen und Ärzte,
Angehörige der Pflegeberufe oder Physiotherapeuten und andere, bedeutet
die Arbeit am Patienten mehr als nur eine Dienstleistung. Sie alle
haben diesen Beruf auch aus Nächstenliebe gewählt, wie Frau Hasselblatt
es eben bereits dargestellt hat. Die Menschen zu heilen oder ihr Leid
wenigstens zu lindern, das ist die Berufung. Diese Bereitschaft zur
menschlichen Zuwendung darf aber nicht ausgenutzt werden.
(Beifall)
Es ist deshalb wenig motivierend, gerade diesen
Menschen zu sagen, unser Gesundheitswesen sei geprägt durch Überversorgung
und Fehlleistungen und es gebe noch Rationalisierungsmaßnahmen in
Milliardenhöhe. Vertrauen, meine Damen und Herren, kann man mit einer
solchen Aussage und einer solchen Politik wohl kaum aufbauen.
(Beifall)
Wenn Gesundheitspolitik
etwas aus der Wirtschaft lernen könnte, dann doch etwas über die große
Bedeutung der Motivation. Stattdessen aber hat sich bei uns eine Ideologie
des Wettbewerbs in den Köpfen der Gesundheitstheoretiker und sekundär
auch der Politiker festgesetzt. Dabei wird vergessen, dass Wettbewerb
Profitdenken hervorruft und die Nächstenliebe schwinden lässt. Das
ist der automatische Zusammenhang, an den viel zu wenig gedacht wird.
(Beifall)
Zu Recht hat Herr Bundespräsident Rau bereits um
die Jahreswende gewarnt, wir müssten aufpassen, dass nicht unser gesamtes
gesellschaftliches Leben in allen Bereichen immer stärker nach den
Mustern von Wirtschaftlichkeit und Effizienz geprägt wird. Ich darf
zitieren:
„Bilanz“, „Kapital“, „Ressource“: Das sind Begriffe,
die in der Wirtschaft unverzichtbar sind. Aber sie gehören nicht in
jeden anderen Lebensbereich.
Meine Damen und
Herren, auch ich habe Angst, dass wir die Barmherzigkeit in unserem
Gesundheitswesen völlig verlieren. Ich habe große Bedenken, dass wir
auf dem Weg sind in die völlige Kommerzialisierung des Gesundheitswesens
und in die Merkantilisierung unseres Berufes.
Ich bin froh, dass Herr Bundespräsident Rau anerkannt hat: Wir sind
Ärztinnen und Ärzte, keine Kaufleute; unsere Patientinnen und Patienten
sind keine oder zumindest nicht nur Kunden.
(Beifall)
Das kommt daher: Es gibt keine Nachfrage nach Krankheiten
und es wird keine Notwendigkeit von Behandlungen angeboten.
(Beifall)
Insofern stimmt das Modell einfach nicht.
Der behandlungsbedürftige
Patient braucht schlicht ärztliche Hilfe, schnell, kompetent und
nach dem aktuellen medizinischen Stand. So einfach können Grundsätze
einer vernünftigen Gesundheitspolitik sein! Aber das GKV-Modernisierungsgesetz
fördert nicht den Wettbewerb um Qualität, sondern den Wettbewerb um
Profit.
(Beifall)
Das kann man wollen, aber dann muss man es auch
offen sagen und die Konsequenzen aufzeigen. Und das tue ich.
(Beifall)
Begriff der Modernisierung ist hier nämlich völlig
sinnentleert und allein den Mediengesetzen der Verkäuflichkeit untergeordnet.
(Beifall)
Das Gesetz modernisiert auch nicht wirklich unser
Gesundheitswesen. Ich glaube, es privatisiert es mehr, was die Leistungsangebote
angeht.
(Beifall)
Bewährtes geht verloren, aber wer es wagt, zu kritisieren,
dem wird engstirniges Funktionärsdenken vorgeworfen. Das halten wir
aber aus.
(Beifall)
Wir Ärzte sagen unsere Meinung trotzdem, denn wir
sind in solchen Fragen nichts anderem verpflichtet als unserem ärztlichen
Auftrag. Deshalb auch, verehrte Frau Bundesministerin für Gesundheit
und Soziale Sicherung, nehmen wir uns das Recht, dieses Gesetz aus
der Notwendigkeit ärztlichen Behandlungsbedarfs heraus zu bewerten.
Das ist unsere Sichtweise.
Das GKV-Modernisierungsgesetz hat unzweifelhaft
– da sind wir sicher einer Meinung – einen Paradigmenwechsel eingeleitet,
auch wenn die Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden. Es
wird viele Menschen geben, die nicht mehr so behandelt werden können,
wie das in der Vergangenheit der Fall war, denn wir nehmen unzweifelhaft
Abschied von der bisher tradierten flächendeckenden und vor allem
wohnortnahen Versorgung.
(Beifall)
Viele Fachärzte werden in Einzelpraxen auf Dauer
kaum noch konkurrenzfähig zu den neuen Medizinischen Versorgungszentren
sein können. Diese aber rechnen sich lukrativ nur in stark bevölkerten
Gebieten. Und schließlich werden mit der neuen Klinikfinanzierung
über Fallpauschalen viele kleine Krankenhäuser schließen müssen. Das
ist keine Feststellung von uns, sondern von anderen. 200 oder 300
Krankenhäuser sind im Gespräch. Das sind aber nicht diejenigen, die
in Ballungsgebieten zuviel sind, sondern es sind solche, die in dünner
besiedelten Gebieten etabliert sind.
Was bedeutet diese Entwicklung für kranke und ältere
Menschen in strukturschwachen Gebieten? Wie weit wird man künftig
zur Dialyse oder zur Chemotherapie fahren müssen, wenn man beispielsweise
mitten in der Eifel oder in der Uckermark
lebt? Das sind die Fragen, die auf uns zukommen werden, wenn nicht
mehr der Patient, sondern der Profit im Vordergrund steht. Das ist
die Gefahr, wenn der Wettbewerb die Chancengleichheit im Zugang zu
unserem Gesundheitswesen zerstört. Das ist nichts anderes als eine
statistische Rationierung. Daran führt kein Weg vorbei.
(Beifall)
Weshalb sollen wir das nicht öffentlich aussprechen
und offen darüber diskutieren? Unsere Mitmenschen spüren das doch!
Deshalb sollten wir es erklären und klar sagen, dass wir diesen Weg
für richtig halten, wenn wir ihn gemeinsam für richtig halten und
das Gesetz diesen Weg ja eröffnet hat.
Sicher, die Medizinischen Versorgungszentren bieten
durchaus Chancen, gerade für Berufseinsteiger. Das ist anzuerkennen.
Sie haben es eben erwähnt, Frau Ministerin. Es gibt aber auch Risiken,
die man nicht ignorieren kann. So darf die Therapiefreiheit – ein
Recht von Patienten und Ärzten, kein Willkürakt der Ärzte – nicht
durch eine Therapiedirektive ersetzt werden. Dies ist umso wichtiger,
als über diese Konstruktion erstmals so genannte Heilkundegesellschaften
– also juristische Personen des Privatrechts wie GmbHs oder Aktiengesellschaften
– mit angestellten Ärzten heilkundliche Leistungen erbringen können. Der Behandlungsvertrag
wird also zwischen dem Patienten und einer juristischen Person geschlossen
– und eben nicht mit individuellen Ärztinnen und Ärzten. Das ist ein
Unterschied.
Wir müssen deshalb darauf achten, dass durch diese
neue gewerbliche Form der Medizinischen Versorgungszentren die Heilkundeausübung
nicht denaturiert wird. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Patienten
auch weiterhin auf ihre Ärzte vertrauen können und nicht als Konsumenten
in medizinischen Profitcentern enden.
(Beifall)
Damit ärztlich-medizinische Grundsätze im neuen
Wettbewerb nicht gänzlich verloren gehen, werden wir auf diesem Ärztetag
eine Flexibilisierung der Berufsordnung diskutieren. Danach sollen
niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Zukunft die Möglichkeit haben,
sich in verschiedenen Kooperationsformen wie Teilgemeinschaftspraxen,
Teilpartnerschaften oder auch Ärztegesellschaften zusammenzuschließen.
Das neue Berufsrecht
soll dafür sorgen, dass auch unter Wettbewerbsbedingungen – unabhängig
von der Kooperationsform – Vertrauen, Individualität und persönliche
Leistungserbringung im Patient-Arzt-Verhältnis
geschützt bleiben. Für die gekonnte Vorbereitung dieser wichtigen
Novelle möchte ich Ingo Flenker und den
Mitgliedern der Berufsordnungsgremien ganz herzlich danken.
(Beifall)
Die Berufsordnung soll dazu beitragen, die Chancen
von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gegenüber institutionalisierten
Formen der Versorgung zu verbessern. Das ist wichtig, denn die ambulante
Facharztebene ist eines der Qualitätsmerkmale des deutschen Gesundheitswesens,
(Beifall)
nicht nur wegen der wohnortnahen Versorgung, sondern
auch weil dadurch eine Wartelistenmedizin bisher verhindert werden
konnte.
Ein gutes Gesundheitswesen zeichnet sich aus durch
freie Arztwahl, Therapiefreiheit des Arztes, Therapiewahl des Patienten,
Chancengleichheit im Zugang und Teilhabe am medizinischen Fortschritt.
Dabei kommt angesichts einer Gesellschaft des langen Lebens der wohnortnahen
hausärztlichen Versorgung natürlich eine besondere Bedeutung zu. Mehr
denn je erfordert die kontinuierliche ärztliche Betreuung eines Patienten
bei Kenntnis seines häuslichen und familiären Umfelds eine qualifizierte
hausärztliche Versorgung. Da sind wir uns einig.
Deutsche Ärztetage haben deshalb wiederholt und
nachhaltig die Stärkung der hausärztlichen Versorgung gefordert und
mit dem Beschluss von Rostock und im vorigen Jahr von Köln den Weg
frei gemacht für einen „Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin“,
den Hausarzt der Zukunft. Dieser Weg ist nicht unumstritten, besonders
unter den Internisten, ebenso wie die Forderung aus manchen Kreisen
der Hausärzte nach einem Primärarztmodell höchst strittig ist. Wir
haben das alles eingehend und mit allen lange und sehr intensiv diskutiert.
Wir haben dann Beschlüsse gefasst, zu denen wir nach einem demokratischen
Verfahren auch stehen sollten: Wir wollen den Facharzt für Innere
und Allgemeinmedizin, wir wollen eine Stärkung der hausärztlichen
Versorgung auf freiwilliger Basis, aber wir wollen auch die freie
Arztwahl erhalten und lehnen ein Primärarztmodell strikt ab, ebenso
alles, was auf dem Weg dorthin sein sollte.
(Beifall)
Hans Hellmut Koch und den Weiterbildungsgremien
der Bundesärztekammer möchte ich hier ausdrücklich für ihren unermüdlichen
Einsatz für eine moderne Weiterbildungsordnung Dank sagen.
(Beifall)
Die Strukturen der flächendeckenden Versorgung
werden aber nicht nur im ambulanten Bereich reduziert, sondern in
massiver Weise auch im stationären Sektor. Mehr noch: Mit der Einführung
der diagnosebezogenen Fallpauschalen wird unsere Philosophie der Krankenhausversorgung
in ihr Gegenteil verkehrt. Bisher war jeder in ein Krankenhaus aufgenommene
Patient umfassend medizinisch betreut. Er wurde mindestens so lange
betreut, bis die Fähigkeit wieder hergestellt war, sich im Alltag
selbst zu helfen. Meine Damen und Herren, so viel Mildtätigkeit kann
sich heute kein Krankenhaus mehr leisten. Das müssen wir wissen.
(Beifall)
Heute werden die Patienten einer Fallpauschale
zugeordnet und dann entsprechend dieser Diagnose schnellstmöglich
behandelt. Der Patient mutiert quasi vom Kranken über den Diagnosebesitzer
zur Fallpauschalennummer. Das ist der Weg.
(Beifall)
Es ist noch nicht einmal gewiss, ob alle Patienten
gerne aufgenommen werden, denn das neue Fallpauschalensystem verführt
die Krankenhäuser dazu, ihre Patienten in wirtschaftlich lohnende
und wirtschaftlich problematische Fälle einzuteilen. Und das birgt
unzweifelhaft die Gefahr einer Selektion nach Marktgesetzen. Darüber
kann man überhaupt nicht hinwegsehen; das ist so.
(Beifall)
Außerdem werden Krankenhäuser zukünftig abwägen,
ob es sich für sie überhaupt noch lohnt, junge Ärztinnen und Ärzte
beruflich weiterzubilden. Bis jetzt sind noch keine positiven Anreize
für die Sicherstellung eines ausreichenden ärztlichen Nachwuchses
unter den Bedingungen der DRGs vorgesehen.
Was hier kurzfristig als günstig für das Krankenhausbudget
erscheint, meine Damen und Herren, wird sich als kurzsichtig für die
Zukunft unseres Gesundheitswesens erweisen. Hier muss also nachgebessert
werden.
(Beifall)
Eine besondere Art der Leistungskonzentration bahnt
sich durch die neuen Bestimmungen des Fallpauschalengesetzes zu den
Mindestmengen an, nach denen - ich zitiere - „die Qualität des Behandlungsergebnisses
im besonderen Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig
ist“. Es gibt zweifellos einen Zusammenhang zwischen der Menge der
Leistungserbringung und der Qualität, doch ist deshalb Menge keineswegs
mit Qualität gleichzusetzen. Denn niedrige Leistungsfrequenzen führen
nicht automatisch zu schlechten Versorgungsergebnissen, so wenig wie
höhere Leistungsfrequenzen zwangsläufig die besseren Resultate nach
sich ziehen.
Mindestmengen schließen diejenigen Leistungserbringer
von der Versorgung aus, die - ohne hohe Fallzahlen zu erreichen -
trotzdem eine hohe Qualität der Versorgung bieten und Mindestmengen
können sogar die Kontinuität verschlechtern, weil spezialisierte Nachbehandlungen
nur noch in Zentren möglich sein werden, die aber wiederum schwer
erreichbar sein werden und Wartelisten produzieren.
Die Mindestmenge ist wissenschaftlich unzureichend
abgesichert und kann nur ein Hilfsmittel sein, bis bessere Maßstäbe
für die Versorgungsqualität entwickelt worden sind. Das Instrument
darf daher keinesfalls dogmatisch gehandhabt werden. Entscheidend
bleiben müssen die individuelle Kompetenz des Arztes und die Versorgungsrealität
am jeweiligen Platz.
(Beifall)
Die Disease-Management-Programme,
so wie sie jetzt ausdrücklich angelegt sind, sind ein weiterer Indikator
für Konzentration und Qualitätsverlust in der Versorgung. Und sie
werden auch keineswegs - wie versprochen - zu einer optimalen medizinischen
Betreuung führen. Da die finanziellen Ressourcen begrenzt sind, wird
es gar nicht zu verhindern sein, dass medizinische Notwendigkeiten
den finanziellen Möglichkeiten angepasst werden. Wenn die betroffenen
Patientinnen und Patienten aber alle nach demselben Programmschema
versorgt werden, ist zwar eine weitgehende Gleichheit der Behandlung
zu erwarten, aber nicht unbedingt eine bessere Qualität. Man merkt
es aber nicht, weil ja das Niveau durch diese Gleichheit der Behandlung
nicht vergleichbar ist.
Dr. Christoph Straub vom Vorstand der Techniker
Krankenkasse hat es auf den Punkt gebracht:
Die derzeitige Ausprägung steht für „Masse statt
Klasse“ - ein medizinischer und ökonomischer Fehler. Die Geldströme
aus dem Finanzausgleich richten das Hauptinteresse der Krankenkassen
darauf, möglichst viele Versicherte in die Programme einzuschreiben,
statt darauf zu achten, dass es die richtigen Patienten sind.
Recht hat der Mann!
(Beifall)
Vor allem diese Verknüpfung der Disease-Management-Programme
mit dem Risikostrukturausgleich hat dazu geführt, dass die Krankenkassen
alles daran setzen müssen - ich sage bewusst: müssen -, um die Einschreibequoten
hochzutreiben. Dementsprechend steht auch nicht die Bekämpfung der
gesundheitlichen Risiken im Vordergrund, sondern deren Dokumentation.
(Beifall)
Was hier für ein Formalismus entwickelt worden
ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,
geht auf keine Kuhhaut!
Wir werden mittlerweile mit einer solchen Flut
bürokratischer Anforderungen überschwemmt, dass die Patientenversorgung
unterzugehen droht. Unsere originäre Tätigkeit, die Behandlung der
Patienten, wird da zu einer cura posterior
des Gesundheitswesens. Die Verwaltung der Patienten scheint wichtiger
geworden zu sein als ihre Behandlung.
(Beifall)
Doch das Ganze
ist eher tragisch als komisch: Ärztinnen und Ärzte müssen genauso
wie das Pflegepersonal die Versorgung trotz umfänglicher Dokumentation
aufrechterhalten. Und das geht eben nur noch unter erhöhtem persönlichem
Einsatz. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich unserer Vizepräsidentin
Ursula Auerswald danken, die ebenfalls mit sehr großem persönlichem
Engagement dieses spezielle Thema der Überbürokratisierung für diesen
Ärztetag vorbereitet hat. Vielen Dank.
(Beifall)
Nach einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts
beträgt der Zeitaufwand für die ärztliche Dokumentation in der Chirurgie
2,42 und in der Inneren Medizin 3,15 Stunden täglich. 20 bis 25 Prozent
davon entfallen allein auf administrative Dokumentationsaufgaben,
von denen der Patient überhaupt nichts hat. Bei niedergelassenen Ärztinnen
und Ärzten sind es vor allem die Formulare zu den Disease-Management-Programmen,
die den letzten Nerv rauben. Der kleinste Fehler führt dazu, dass
bis hin zur Einwilligung des Patienten alles noch einmal neu gestartet
werden muss. Die Ressource „Arzt“ aber, meine Damen und Herren, ist
angesichts der Arbeitsverdichtung, steigender Fallzahlen, der Forderung
nach permanenter Fortbildung und weiterhin bestehendem Ärztemangel
begrenzt. Wenn Sie nicht wollen, dass wir zu Fachkräften einer Gesundheitsverwaltung
degenerieren, dann befreien Sie uns bitte von diesen bürokratischen
Ketten und lassen uns wieder Ärztinnen und Ärzte sein!
(Lebhafter
Beifall)
Die überbordende Bürokratisierung des Arztberufes
ist sicherlich eine der Hauptursachen auch des Ärztemangels. Noch
vor Jahren sind wir gescholten worden, wenn wir vor diesem Mangel
gewarnt haben. Mittlerweile aber hat sich ein Problembewusstsein in
der Öffentlichkeit breit gemacht, eben weil die Probleme offensichtlich
geworden sind, und zwar nicht nur in den neuen Bundesländern und auch
nicht nur bei den Hausärzten. Auch am Niederrhein, an der Grenze zu
Holland, besteht dieses Problem. Die Versorgungsdefizite in Ostdeutschland
verschärfen sich zusehends. Krankenhäuser suchen bereits in mittel-
und osteuropäischen Beitrittsländern nach qualifiziertem Personal.
In der hausärztlichen Versorgung ist schon jetzt mancherorts eine
Flächendeckung nicht mehr im ausreichenden Maße sicherzustellen. Gegenüber
dem Vorjahr ist die Anzahl der Hausärztinnen und Hausärzte in den
neuen Bundesländern sogar um 1,3 Prozent zurückgegangen.
Wir müssen leider auch gravierende Auswirkungen
auf die Altersstruktur der Ärztinnen und Ärzte feststellen. So gab
es im Jahre 1991 noch 27,4 Prozent Ärztinnen und Ärzte unter 35 Jahren.
Heute liegt dieser Anteil nur noch bei 16,5 Prozent. Das ist ein Rückgang
von 40 Prozent in nur 12 Jahren. Meine Damen und Herren, vier von
zehn Studienanfängern kommen gar nicht erst im Beruf an. Das muss
uns doch allen - ich glaube: besonders der Politik - zu denken geben.
Die Ursachen für diese Entwicklung sind hinlänglich
bekannt: unbezahlte Überstunden, Dauereinsätze von 30 Stunden, eine
im Vergleich zu anderen akademischen Berufen unterdurchschnittliche
Vergütung und nicht zuletzt eine systematische Zerstörung des Berufsansehens.
(Beifall)
Wer hat schon Lust, sich ständig als Beutelschneider,
Betrüger oder Boykotteur beschimpfen oder
diffamieren zu lassen?
(Beifall)
Jüngst ist uns sogar regierungsamtlich vorgeworfen
worden, dass es - ich zitiere - „eine beträchtliche Anzahl von niedergelassenen
Ärztinnen und Ärzten gibt, die nicht nur miese Stimmung verbreiten,
sondern das Gesetz missachten“.
So erweckt man doch zwangsläufig den Eindruck,
dass alle Ärztinnen und Ärzte nur noch eine Herde schwarzer Schafe
im weißen Kittel sind. Das ist sicher nicht die Stimmung, mit der
man junge Menschen für den Arztberuf gewinnen kann. Und auch für die
Patienten ist das natürlich wenig hilfreich.
(Beifall)
Wenn wir es nicht schaffen, den derzeitigen Abwärtstrend
beim ärztlichen Nachwuchs zu stoppen - die Abschaffung der Arzt-im-Praktikum-Phase
ist löblich, wird aber nur ein erster Schritt sein -, wird sich auf
Dauer nur noch eine Mindestversorgung mit ausgeprägter Wartelistenmedizin
aufrechterhalten lassen.
Dieser Entwicklung kann man keineswegs mit der
Anwerbung ausländischer Ärzte, vor allem aus Osteuropa, begegnen.
Die letzten 18 Stellen im Krankenhaus in Kleve sind nur mit Ärztinnen
und Ärzten aus Polen, Tschechien und Ungarn besetzt worden. Es hat
sich kein deutscher Arzt beworben, obwohl Kleve eine schöne Stadt
ist. Das ist geradezu ein Menetekel. Es würde zwar zeitweise der Personalbedarf
in deutschen Kliniken gedeckt, aber der Weggang ausgebildeter Fachkräfte
hinterlässt in den Heimatländern ebenfalls große Lücken in der ärztlichen
Versorgung.
(Beifall)
Deshalb müssen wir dringend die Arbeits- und Vergütungsbedingungen
für den ärztlichen Nachwuchs hier in Deutschland verbessern. Das wird
sicher Geld kosten, doch wer das Gesundheitswesen nur als Kostenfaktor
versteht, hat die Bedeutung des Sozialstaates nicht verstanden.
(Beifall)
Ich darf dazu nochmals unseren Bundespräsidenten
zitieren, der dazu in einer früheren Berliner Rede klare Worte gefunden
hat:
Der Sozialstaat ist kein Bremsklotz für die wirtschaftliche
Dynamik. Im Gegenteil: Richtig geordnet stärkt er die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit, weil er die Menschen entlastet und Freiraum schafft
für Kreativität und Leistung.
Der Sozialstaat ist eben keine Belastung unserer
Gesellschaft, er ist vielmehr Grundlage einer humanen und prosperierenden
Gesellschaft. Ohne soziale Absicherung im Alter, bei Arbeitslosigkeit,
Invalidität und eben Krankheit hätten wir das heutige Maß an sozialem
Frieden niemals erreicht.
(Beifall)
Natürlich müssen wir über den Umfang der Absicherung
nachdenken, wenn die Ressourcen infolge anhaltender Arbeitslosigkeit
und aus anderen Gründen schwinden. Aber wir dürfen dadurch nicht an
Innovationsfähigkeit und vor allem nicht an Menschlichkeit verlieren.
(Beifall)
Die Rationalisierungsreserven sind längst aufgebraucht,
meine Damen und Herren. Wir spüren das tagtäglich in unserer ärztlichen
Arbeit. Gesundheitspolitik erschöpft sich schon seit Jahren nur noch
in Kostendämpfungspolitik, und das heißt eben: in impliziter Rationierung.
Aber man kann mit der Sparschraube weder den medizinischen Fortschritt
noch die sich weiterentwickelnde Gesellschaft des langen Lebens zurückdrehen.
Und auch das neue Zauberwort vom Wettbewerb im Gesundheitswesen wird
die Probleme nicht lösen. Wir werden allenfalls Profitdenken da bekommen,
wo einst Mildtätigkeit war, und uns damit endgültig auf den Weg in
die Gesundheitswirtschaft, in die Gesundheitsindustrie, wie manche
schon jetzt sagen, machen.
Oder gibt es etwa wirklich einen Wettbewerb um
die beste Behandlung oder Betreuung? Das „New England Journal of Medicine“
berichtet über die derzeit schwierige Lage der Ärzte in fast allen
Industriestaaten:
Die Rolle der Ärzte hat sich radikal verändert,
sie werden heute von Managern unterwiesen und sind nicht länger Anwälte
der Patienten. Das Ziel der Medizin ist eine gesunde Bilanz statt
einer gesunden Population. Der Schwerpunkt liegt auf Effizienz, Profitmaximierung,
Kundenzufriedenheit, Zahlungsfähigkeit, Unternehmertum und Wettbewerb.
Die Ideologie der Medizin wird ersetzt durch die Ideologie des Marktes.
In dem Maße, in dem Medizin zum Kapitalunternehmen wird, wird die
medizinische Ethik durch die Geschäftsethik verdrängt.
Meine Damen und Herren, das ist die Realität, mit
der wir uns auseinander setzen müssen, gerade nach dem GKV-Modernisierungsgesetz.
Das ganze Gerede von Unter-, Über- und Fehlversorgung, von Qualitätsoffensive
und Effizienzsteigerungen hat meines Erachtens doch nur den Sinn,
diese gezielte Rationierung von Leistungen zu kaschieren. So müssen
wir das empfinden.
(Beifall)
Angesichts dieser offensichtlichen gesundheitspolitischen
Fehldiagnose, welche dem GMG zugrunde liegt, habe ich als Arzt erhebliche
Zweifel, ob dann noch die Therapie richtig sein kann. Das ist unsere
Form des Denkens. Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist.
Können Sie sich noch an die gesundheitspolitischen
Geisterfahrer erinnern, die uns nur eines vermitteln wollten, nämlich
„Wir zahlen einen Mercedes und kriegen einen Golf“? Das setzt sich
in den Köpfen der Menschen fest und prägt. Um die Bahn freizumachen
für die eigene Reformideologie, wurden Zahlen und Statistiken der
WHO benutzt, die diese - Frau Auerswald hat es bereits gesagt - selbst
schon nicht mehr verwendet und sich davon distanziert - aus gutem
Grund. Denn dieses Ranking hält einer wissenschaftlichen Analyse nicht
stand. In diesem Ranking stehen wir auf Platz 25, hinter Kolumbien!
Wer glaubt ernsthaft, dass wir dort rangieren? Das steht dort aber
so und wird als Grundlage für eine Diagnose benutzt.
Das Gutachten von Professor Beske
ist bereits zitiert worden:
Das Ranking-System der WHO ist international als
wissenschaftlich nicht haltbar zurückgewiesen worden. Es wird von
der WHO nicht weitergeführt. Auch die Vergleichbarkeit von Daten der
OECD wird von der Wissenschaft in Zweifel gezogen. Deutschland ist
im internationalen Vergleich in einer Spitzenposition, wenn es darum
geht, schnell ärztliche Hilfe zu bekommen.
(Beifall)
Bleibt noch das Argument des angeblich teuren deutschen
Gesundheitswesens. Gründe für das höhere Ausgabenniveau sind vor allem
- das wissen wir - die deutsche Wiedervereinigung, die den Anteil
der Gesundheitsausgaben am aktuellen Bruttosozialprodukt von vormals
8 Prozent auf über 10 Prozent hochschnellen ließ, der Umfang des Leistungskatalogs,
der international seinesgleichen sucht, der - noch - freie Zugang
zum System der gesundheitlichen Versorgung mit freier Arztwahl, die
Leistungsgewährung ohne Altersgrenzen, der Anspruch auf Versorgung
anstelle einer staatlichen Zuteilung und keine oder noch keine gravierenden
Wartelisten.
Ein solch liberales und bislang patientenfreundliches
System muss teurer sein als staatliche Zuteilungssysteme mit Gatekeepern und langen Wartelisten, bei denen eine Dialyse
nur bis zum 70. Lebensjahr gewährt wird und der Satz, den wir früher
in Deutschland gehört haben, gilt: Wenn du arm bist, musst du früher
sterben.
Unser Ehrenpräsident Karsten Vilmar hat immer gesagt,
dass Patientenrechte nur da kodifiziert werden müssen, wo die regierungsamtliche
Rationierung kaschiert werden muss. Insofern war die Berufung einer
Patientenbeauftragten der Bundesregierung nur konsequent.
(Beifall)
Aber auch sie vermag es nicht, die Kommunikation
und die Information über dieses Gesetz zu verbessern. Auf den verzweifelten
Versuch, uns Ärzte mit einem so genannten Schwarzbuch noch einmal
in die Sündenbockecke stecken zu wollen, will ich jetzt nicht mehr
eingehen.
Besser wäre es gewesen, den Menschen von Anfang
an reinen Wein einzuschenken, nämlich dass weitere Einsparungen zu
Rationierungen führen müssen. Es kann doch nicht sein, dass staatlich
verordnete Leistungsverknappung den Patienten zum Bittsteller und
uns Ärztinnen und Ärzte zu Rationierungsbeauftragten macht!
Wir wollen unsere ärztlichen Entscheidungen auch
künftig nach dem Gebot der Menschlichkeit und nach bestem ärztlichen
Wissen und Gewissen treffen. Der Patient erwartet zu Recht, dass Ärztinnen
und Ärzte Personen seines Vertrauens sind, denen er sich in seinem
Leid persönlich offenbaren kann. Er erwartet professionelle Hilfe
und persönliche Zuwendung.
Besonders gefordert ist die ärztliche Verantwortung
für Patienten in der letzten Lebensphase. Vor wenigen Wochen hat sich
die Parlamentarische Versammlung des Europarats mit einem Bericht
befasst, in dem die Mitgliedstaaten zur Legalisierung der aktiven
Sterbehilfe und der assistierten Selbsttötung aufgefordert wurden.
Zwar wurde keine Entscheidung getroffen, aber allein die Debatte über
das Thema zeigt, dass die Befürworter aktiver Sterbehilfe seit der
Legalisierung der Euthanasie in Belgien und Holland Aufwind verspüren.
Aktive Sterbehilfe, meine Damen und Herren, ist
Tötung eines Menschen. Wir lehnen als Ärztinnen und Ärzte dies kategorisch
ab!
(Beifall)
Wir sehen die ärztliche Aufgabe in der Betreuung
todkranker Patienten, das heißt in der Sterbebegleitung. Leiden zu
lindern und Angst zu nehmen, um damit ein selbstbestimmtes,
würdevolles Lebensende zu ermöglichen - das ist der ärztliche Auftrag.
Es gibt Situationen, in denen sonst angemessene
Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt sind und ein
Therapiezielschwenk geboten sein kann. Dann muss der Patient palliativmedizinisch
versorgt werden. Die Entscheidung hierfür darf aber keinesfalls von
wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden; die Entscheidung
ist eine ganz persönliche Entscheidung des einzelnen Patienten, von
niemandem sonst. Die Bedeutung und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen
haben wir deshalb in den überarbeiteten Grundsätzen der Bundesärztekammer
zur ärztlichen Sterbebegleitung, die der Herr Bundespräsident schon
erwähnt hat, deutlicher als bisher herausgestellt.
Ich bin Eggert Beleites
und dem Ausschuss „Ethische und medizinisch-juristische Grundsatzfragen“
außerordentlich dankbar, dass sie dieses schwierige Thema in zahlreichen
Sitzungen und Gesprächen mit interessierten Ärztinnen und Ärzten,
aber auch mit Angehörigen anderer Berufe, auch nicht aus dem Gesundheitswesen
kommender Berufe, so beharrlich und so sensibel bearbeitet haben.
(Beifall)
Wir wollen eine mitfühlende Medizin, die den Tod
zulässt, wenn er unabwendbar ist, aber wir wollen den Tod nicht zuteilen.
Das ist nicht unsere Aufgabe.
(Beifall)
Das Recht auf einen - vermeintlich - selbstbestimmten
Tod wird spätestens dann zur Farce, wenn nur noch der nicht getötet
werden darf, der ausdrücklich nicht getötet werden will. Die in den
Niederlanden stattfindende Entwicklung lässt erkennen, wie hoch das
Missbrauchspotenzial in der Euthanasiepraxis ist. Bei etwa einem Drittel
der vorkommenden Fälle ist das ausdrückliche Verlangen der Betroffenen
nach aktiver Sterbehilfe höchst zweifelhaft. Das Vertrauen der älteren
holländischen Bürgerinnen und Bürger in diese Praxis ist mittlerweile
so zerstört, dass viele eine so genannte Lebenswunscherklärung bei
sich tragen. Das muss man sich einmal vorstellen!
Das Ganze als GKV-Modernisierungsgesetz zu verkaufen
reicht nicht aus. Der
Die derzeitige Diskussion würde wohl auch anders
laufen, wenn bekannter wäre, dass die moderne Palliativmedizin schon
heute in der Lage ist, Schmerzen und andere Symptome auf ein erträgliches
Maß zu reduzieren und damit unnötiges Leid zu verhindern. Unheilbar
kranke Menschen können ihr Leben bis zuletzt als lebenswert empfinden,
wenn sie professionell betreut werden, Zuwendung erfahren und nicht
alleine gelassen werden. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten
wir wider alle Versuchungen des Zeitgeistes unverbrüchlich festhalten.
(Beifall)
Doch Bewährtes zu bewahren ist schwierig geworden
in der heutigen Welt. Die Präsentation von Ideen ist oft wichtiger
als die Idee selbst. Behauptungen und Unterstellungen bleiben ungeprüft,
für Konsequenzen zeichnet nachher keiner mehr verantwortlich. Im Gegenzug
wird als konzeptionslos hingestellt, wer nicht sofort eine neue Alternative
vorweist. Wer auf Grundlegendes, ethisch Fundiertes und Bewährtes
verweist, erfüllt nicht mehr die Erwartungen einer schnelllebigen
Informationsgesellschaft.
Aber müssen wir als Ärztinnen und Ärzte uns dieser
Ideeninflation unterordnen? Ich sage Nein. Wir sollten aus unserem
ärztlichen Ethos heraus einzig und allein für eine gute medizinische
Versorgung der Menschen kämpfen, und zwar unabhängig von ihrem Alter,
ihrer sozialen Stellung und auch ihrem Wohnort. Wir treten dafür ein,
dass alle Menschen in Deutschland die gleichen Chancen haben im Zugang
zu allen gesundheitsrelevanten Leistungen. Dazu haben wir klare Vorstellungen:
Wir brauchen eine wohnortnahe hausärztliche Versorgung.
Darauf haben wir angesichts der Alterung unserer Gesellschaft immer
wieder hingewiesen. Gleichzeitig erfordert die steigende Zahl älterer
Menschen auch eine flächendeckende fachärztliche Versorgung, zumal
ja nach der Finanzierungsumstellung im Kliniksektor auf die DRGs
viele wohnortnahe Krankenhäuser vom Markt verschwinden werden. Die
medizinische Leistung muss dort erbracht werden können, wo sie patientengerecht
und effizient durchgeführt werden kann, nicht in Ersatzeinrichtungen.
Wir brauchen die Möglichkeit einer durchgängigen
Versorgung der Patienten. Deshalb ist die integrierte Versorgung eine
langjährige Forderung der deutschen Ärzteschaft. Wir müssen allerdings
darauf achten, dass es mit den neuen Versorgungsformen nicht zu Fehlentwicklungen
kommt und der Profitgedanke nicht die Patientenbehandlung bestimmt.
Wir brauchen eine faire Ausgangsposition bei den
Verträgen über die integrierte Versorgung. Die vom Gesetzgeber eingeräumten
Wettbewerbsvorteile zulasten der niedergelassenen Vertragsärzte wie
auch der Krankenhäuser verdeutlichen nur den politischen Hintergedanken
einer schleichenden Entkräftigung der Kassenärztlichen
Vereinigungen. Wir müssen deshalb darauf achten, dass die neuen vertraglichen
Möglichkeiten nicht zu einem Experimentierfeld der Krankenkassen für
Einkaufsmodelle aller Art werden und dass der Patient sein Recht auf
freie Arztwahl nicht in einer kassenspezifisch atomisierten Versorgungslandschaft
verliert.
(Beifall)
Wir brauchen auch endlich eine Transparenz der
gesundheitspolitischen Entscheidungen, der möglichen Konsequenzen
wie auch der Strukturen im Gesundheitswesen. Der Patient sollte wissen,
welche Leistungen er noch erhalten kann, welche für ihn erbracht worden
sind und zu welchem Preis. Dabei sollte er aber immer Herr seiner
Daten bleiben. Deshalb auch ist die gewissenhafte Vorbereitung der
elektronischen Gesundheitskarte so wichtig. Auch sollten wir zunächst
einmal aus den Erfahrungen mit Toll Collect
lernen, bevor wieder nur Planungen und Konzepte der Industrie zum
Tragen kommen. Bei einem Projekt dieser Dimension muss Qualität Vorrang
vor Schnelligkeit haben.
(Beifall)
Wir sind bereit zur Mitarbeit und sehen durchaus
die Chancen dieser neuen Technologie. Der derzeit vorliegende Zeitplan
aber ist völlig illusorisch und hat mit vernünftiger gesundheitspolitischer
Planung nichts mehr zu tun.
(Beifall)
Wir brauchen auch dringend mehr Transparenz in
Fragen der privatärztlichen Abrechnung. Die Gebührenordnung für Ärzte
ist so völlig überaltert, dass selbst das Bundeskriminalamt einräumen
musste, dann man auf der Grundlage dieser Gebührenordnung nicht mehr
wirklich korrekt abrechnen kann.
(Beifall)
Aber der Verordnungsgeber reagiert nicht, sondern
ignoriert beharrlich unsere konzeptionellen Vorschläge zur Weiterentwicklung.
Ich will niemandem unterstellen, dass mit dieser
Art der Grauzonenpolitik Ärztinnen und Ärzte bewusst in Schwierigkeit
gebracht werden sollen, aber ich will unmissverständlich zum Ausdruck
bringen, dass wir für die Untätigkeit der Politik in dieser Frage
nicht länger den Kopf hinhalten werden.
(Beifall)
Schließlich haben auch wir Anspruch auf Rechtssicherheit.
Dass es auch anders geht, zeigt das Vorgehen bei
der Prävention. Ich finde es außerordentlich begrüßenswert, wie zielstrebig
Sie, verehrte Frau Bundesministerin, das Thema der Alkoholgefahren
bei Jugendlichen durch so genannte Alcopops
aufgegriffen und dann auch entschieden reagiert haben.
(Beifall)
Wir dürfen es einfach nicht zulassen, dass Jugendliche
zu Gewohnheitstrinkern werden oder so viele Kinder, vor allem Mädchen,
schon so früh, zum Teil schon mit 12 Jahren, zur Zigarette greifen.
Da müssen wir etwas unternehmen.
(Beifall)
Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Elternhaus, Schule und auch wir Ärztinnen und Ärzte sind gemeinsam
gefordert, bereits den Kindern eine gesundheitsbewusste Lebensführung
zu vermitteln. Aufklärung und gezielte Prävention können in jedem
Lebensalter helfen, Krankheiten zu vermindern. Wir hoffen, dass die
„Nationale Stiftung Prävention“ dazu wird dauerhaft beitragen können.
Wir sind gern zur Mitarbeit und zur Hilfe bereit.
(Beifall)
Zur Qualitätssicherung haben wir als Ärztinnen
und Ärzte ein Nationales Programm für Versorgungsleitlinien entwickelt.
Dieses Netzwerk aus medizinischer Wissenschaft und ärztlicher Selbstverwaltung
ist die konsequente Weiterentwicklung ärztlicher Leitlinienarbeit,
und zwar unter Beteiligung von Patientenvertretern. Eine wesentliche
Grundlage für die nationalen Versorgungsleitlinien bilden die Leitlinien
der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften sowie die Therapieempfehlungen
der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Damit erfüllt
dieses Programm auch international die höchsten Qualitätskriterien
einer evidenzbasierten Medizin.
Ich weiß, wie gefällig es ist, weiter zu behaupten,
die Ärzte seien doch gegen die Leitlinien, sie hätten Angst vor Kontrolle.
Aber auch durch stetes Wiederholen wird diese Aussage nicht richtiger.
Leitlinien sind von uns Ärztinnen und Ärzten selbst entwickelt worden,
um eine medizinisch-wissenschaftliche Hilfestellung für eine gute
Behandlung zu geben.
Die individuelle Behandlung aber ist damit nicht
programmiert. Die individuelle Therapie des Patienten ist ärztliche
Kunst und sollte es auch bleiben. Ich freue mich, dass der Herr Bundespräsident
das heute hier wieder anerkannt hat.
(Beifall)
Wie aber konnte es dann dazu kommen, dass bei uns
Behandlungsprogramme in Form einer Rechtsverordnung erlassen werden?
Ich glaube, das liegt vor allem an einer sehr mechanistischen Vorstellung
von Medizin, die da meint, Medizin sei eine reine Naturwissenschaft,
exakt planbar, operationalisierbar und erfolgsgarantiert.
Dem aber ist mitnichten so. Die Medizin ist eine
Humanwissenschaft, die sich auch der Erkenntnisse und Methoden anderer
Wissenschaften, so zum Beispiel der Naturwissenschaften, Biowissenschaften,
Ingenieurwissenschaften, Sozialwissenschaften, Kommunikationswissenschaften
und Geisteswissenschaften - hier insbesondere der Philosophie und
der Psychologie -, bedient, die aber jeweils nur mit mehr oder weniger
wahrscheinlich richtigem Wissen umgehen muss, wobei bei allen Entscheidungsprozessen
sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch bei Ärztinnen und Ärzten
individuelle Wertungen eine wichtige Rolle spielen. Dieser Anspruch,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist mit einer puren Programmmedizin
sicher nicht vereinbar.
(Beifall)
Auch Fortbildung ist nichts Mechanistisches, programmmäßig
Abzuarbeitendes - auch wenn der Gesetzgeber die Fortbildung jüngst
in strafbewehrter Form als rezidivierendes
Kontrollinstrument neu erfunden hat. Fortbildung lebt von der Vielfalt
und von echtem Interesse. Es ist ja nicht so, als hätte es vor dem
GKV-Modernisierungsgesetz keine Fortbildung gegeben; die Zahlen unserer
Veranstaltungen sprechen für sich. Wir haben sogar ein sehr erfolgreiches
freiwilliges Fortbildungszertifikat auf den Weg gebracht. Aber wir
haben immer betont, dass Fortbildung mehr ist als ein „Absitzen auf
Kongressen“. Fortbildung geschieht durch Lektüre, Kollegialgespräche,
Konsultationen, Onlinefortbildung und konkrete gute Patientenbehandlung,
welche die eigene Evidenz berücksichtigt.
(Beifall)
Gut fortgebildet ist ein Arzt ja nur dann, wenn
sich seine Fortbildung nach den Bedürfnissen der individuellen Patienten
richtet. Keine gute Fortbildung ist es, wenn man auf möglichst kurzem
Wege möglichst viele Punkte sammelt.
(Beifall)
Der Ärzte-TÜV war gefordert,
eine Selbstverwaltungslösung haben wir retten können: Art und Weise
der Nachweisgestaltung sind der Selbstverwaltung überlassen worden.
Heyo Eckel und der Deutsche Senat für ärztliche Fortbildung
haben - ich finde: außerordentlich erfolgreich - die ärztlichen Intentionen
der Fortbildung auch unter den Prämissen des GKV-Modernisierungsgesetzes
in einer Mustersatzung „Fortbildung und Fortbildungszertifikat“ hervorragend
formuliert. Danke schön, Heyo Eckel und
dem Ausschuss.
(Beifall)
Was wir ganz bewusst nicht gemacht haben - wenigstens
bisher -, ist ein gesondertes Konzept zur Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung aus ärztlicher Sicht, denn wir sind weder Politiker
noch Ökonomen. Aber wir haben frühzeitig auf die Finanzierungskrise
der gesetzlichen Krankenversicherung infolge der Alterung unserer
Gesellschaft wie auch des rasanten medizinischen Fortschritts hingewiesen
- lange vor allen anderen - und angeregt, zu überlegen, ob man unter
dem Begriff der solidarischen Finanzierung nicht verstehen sollte,
dass jeder nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit einen Teil
gibt, dass also das tatsächliche Gesamteinkommen zugrunde gelegt wird.
Das würden wir in einem solidarisch gegliederten GKV-System als gerechter
empfinden.
(Beifall)
Es gibt vielfältige Überlegungen und Konzepte,
die Finanzierung der GKV neu zu organisieren; Bürgerversicherung und
Gesundheitsprämie sind die bekanntesten. Ich muss Ihnen ganz ehrlich
sagen: Im Vergleich zu den Entwicklungschancen unseres bisher gegliederten
Krankenversicherungssystems sehe ich die Vorteile im bestehenden System
überwiegen. Aber wir stehen ja erst am Anfang dieser Diskussion. Die
nachhaltige Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme ist und
bleibt die große Herausforderung unserer Gesellschaft - und die müssen
wir mit allen und mit allen Konsequenzen ganz ehrlich diskutieren,
sonst zerstören wir Vertrauen.
Wir sind stolz auf die bisherige Leistungsfähigkeit
unseres Gesundheitswesens und auf die Hingabe und das Engagement der
darin arbeitenden Menschen. Umso mehr sind wir verärgert, dass - hier
schließe ich mich Ursula Auerswald an - unser Gesundheitswesen in
den letzten Jahren so skrupellos heruntergeredet worden ist.
(Beifall)
Auch ich weiß kein Land, in dem Verantwortliche
und Funktionsträger mit so großer Lust so schlecht, so negativ über
das eigene Land sprechen, wie das bei uns in Deutschland geschieht.
Das wird im Ausland registriert. Ich komme im Ausland herum und registriere,
dass man mich fragt: Magst du überhaupt nach Hause zurückkehren? Das
ist doch offensichtlich schon gefährlich geworden!
Ärzte, Pflegepersonal und alle anderen Berufe im
Gesundheitswesen empfinden diese fortgesetzte Destruktion als wirklich
entwürdigend. Und die Patienten werden nachhaltig verunsichert.
Es hat mich erschreckt, dass offenbar in derselben
Umfrage, die der Herr Bundespräsident gemeint hat, 81 Prozent der
Menschen glauben, durch die gesetzliche Krankenversicherung keine
ausreichende medizinische Versorgung mehr zu erhalten. Vertrauen zu
schaffen ist deshalb das Gebot der Stunde. Wir Ärztinnen und Ärzte
hoffen darauf, dass sich auch der Staat dieser Aufgabe annehmen wird
und dabei den hohen Maßstäben unterwirft, die der Herr Bundespräsident
gesetzt hat:
Neues Vertrauen in staatliches Handeln wird (...)
nur wachsen, wenn in Politik und Verwaltung solide gearbeitet wird.
Dazu gehört die ernsthafte Auseinandersetzung mit allen Sachfragen,
bis ins kleinste Detail.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das keine
gute Vorgabe für die nächste Gesundheitsreform ist!
Vielen Dank für Ihr Zuhören.
(Anhaltender
lebhafter Beifall)
Ich möchte Sie hinweisen auf den jetzt stattfindenden
Empfang des Bürgermeisters der Freien Hansestadt Bremen und der Ärztekammer
Bremen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 107. Deutschen Ärztetag
im Rathaus der Stadt Bremen. Alle Teilnehmer müssen dieses Konzerthaus
verlassen und werden zum nahe liegenden Rathaus geleitet.
Für den Transfer zur Plenarsitzung im Congress
Centrum im Anschluss an den Empfang stehen Pendelbusse vor
der „Glocke“ bereit.
Meine Damen und Herren, damit ist der 107. Deutsche
Ärztetag 2004 in Bremen eröffnet.
Ich bitte Sie, sich zum Singen der Nationalhymne
zu erheben.
(Die Anwesenden
erheben sich und singen die Nationalhymne)
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