TOP II: Durch Quantität zu Qualität? – Folgen der Konzentration und Zentralisierung von medizinischer Versorgung für die Bevölkerung

Tag 2: Mittwoch, 19. Mai 2004 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Geraedts, Referent:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren! Nachdem Herr Henke in seinem Referat mehr den politischen Hintergrund zur Mindestmengenvereinbarung erläutert hat, möchte ich in meinem Beitrag den wissenschaftlichen Hintergrund von Mindestmengen thematisieren, indem ich Ihnen die Evidenz zur Beziehung zwischen Quantität und Qualität in der Medizin darlege.

Dazu möchte ich erstens den theoretischen Rahmen der Beziehung zwischen Leistungsfrequenz und medizinischen Versorgungsergebnissen erörtern. Zweitens möchte ich die Studienlage zur Evidenz – von Quantitäts-Qualitäts-Beziehungen – anhand der wichtigsten Reviews der letzten zehn Jahre sowie einzelner erst kürzlich publizierter Studien aufarbeiten. Drittens werde ich einige der aktuell diskutierten Argumente für und gegen Mindestmengen und die daraus resultierende Zentralisierung von Leistungen anführen. Und zuletzt möchte ich daraus meine Schlussfolgerungen ziehen.

In vielen Diskussionen zu den Mindestmengen wird die Beziehung zwischen der medizinischen Versorgung einzelner Patienten und deren Resultaten oft holzschnittartig reduziert betrachtet. Dabei geht man davon aus, dass das Versorgungsergebnis, das ein Patient erwarten kann, umso besser ist, je höher die Leistungsfrequenz der Ärztinnen und Ärzte bzw. der Einrichtungen ist, die diese Leistungen erbringen. Zur Erklärung wird die auf den ersten Blick sehr einleuchtende und von Herrn Henke bereits erwähnte Hypothese „Übung macht den Meister“ angeführt.

Unstrittig ist sicherlich für jeden von uns, dass Erfahrung notwendig ist, um gerade komplexe medizinische Prozeduren mit hoher Qualität durchführen zu können. Unstrittig ist aber auch, dass es außer der Leistungsfrequenz noch eine Vielzahl anderer Einflussfaktoren auf das Versorgungsergebnis gibt. Dabei sind zunächst patientenseitige Faktoren zu nennen: Je nachdem, welche Patienten welchen Alters, mit welchem Schweregrad, mit welcher Komorbidität oder welcher Sozialschicht in einer Einrichtung behandelt werden, sieht das Versorgungsergebnis trotz gleicher Prozesse und gleicher Leistungsfrequenz oftmals sehr unterschiedlich aus.

Gleiches gilt für die verschiedenen Strukturen und Prozesse der medizinischen Versorgung. Je nachdem, wie eine Einrichtung organisiert ist, welche strukturellen Voraussetzungen gegeben sind und wie die Qualifikation des gesamten Versorgungsteams beschaffen ist, können wiederum gleiche Leistungsfrequenzen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen einhergehen. Und zuletzt spielt natürlich auch noch die Biologie der Patienten und zum Beispiel auch deren Compliance mit Nachsorgemaßnahmen eine wichtige Rolle dabei, welche Ergebnisse letztlich zu messen sind.

Wenn nun anhand von Studien festgestellt werden soll, ob bei bestimmten medizinischen Prozeduren wirklich der Einflussfaktor „Leistungsfrequenz“ eine wichtige Rolle für gute Ergebnisse spielt, müssen alle diese Einflussfaktoren bei den Studienanalysen ausreichend berücksichtigt worden sein. Nur auf der Basis solcher Studien können Mindestmengen festgelegt werden; denn der Gesetzgeber formuliert ja im Sozialgesetzbuch ausdrücklich – das hat Herr Henke bereits erwähnt –, dass Mindestmengen nur für solche Leistungen definiert werden sollen, bei denen das Ergebnis in besonderem Maße von der Leistungsfrequenz abhängt.

Um nun aus der Fülle von inzwischen mehr als 1 000 Studien zur Beziehung von Leistungsfrequenz und Ergebnis solche Prozeduren auswählen zu können, bei denen diese Beziehung wissenschaftlich als gesichert bezeichnet werden kann, hat das amerikanische National Cancer Policy Board Kriterien formuliert, an denen man sich orientieren kann. Demnach kann man dann von einer evidenzbasierten Quantitäts-Qualitäts-Beziehung sprechen, wenn erstens die Beziehung logisch und plausibel erscheint, zweitens der beobachtete Effekt durch mehrere Studien abgesichert wurde, drittens der beobachtete Trend in den verfügbaren Studien konsistent vorhanden war und viertens die Größe der Ergebnisunterschiede substanziell und klinisch bedeutsam ist sowie auf der Basis strenger statistischer Kriterien nachgewiesen wurde.

Auf der Basis dieser Kriterien möchte ich Ihnen nun die Studienlage darstellen.

Die erste umfassende Literaturanalyse zur Beziehung von Quantität und Qualität in der Medizin stammt vom Centre for Reviews and Dissemination des nationalen britischen Gesundheitsdienstes und dem Nuffield Institute for Health. Deren Forscher hatten 1996 mehr als 200 Studien zur Quantitäts-Qualitäts-Beziehung analysiert. Dabei wurde vor allem folgender Aspekt deutlich: Die Studienlage war zwar für einige Prozeduren konsistent, für die weitaus meisten Prozeduren aber inkonsistent. Das heißt, es gab Prozeduren, bei denen mit steigender Fallzahl immer positivere Ergebnisse berichtet wurden, beispielsweise für Pankreaskarzinomresektionen oder herzchirurgische Eingriffe. Daneben gab es Prozeduren, bei denen einige Studien positive, andere Studien keine Unterschiede in Abhängigkeit von den Fallzahlen zeigten, wie beispielsweise für die Herzinfarktbehandlung. Und es gab Prozeduren, bei denen alle bis dahin verfügbaren Studien keine Verbesserungen mit steigender Fallzahl – wie beim Magenulkus – oder sogar eine Verschlechterung der Ergebnisse bei sehr hohen Fallzahlen – wie bei Kateraktoperationen – ergaben.

Die meines Erachtens bedeutendste Literaturanalyse der letzten Jahre stammt von Ethan Halm und Koautoren. Deren wesentliches Verdienst besteht darin, dass sie zum einen die bislang vorherrschende immense Studienheterogenität deutlich herausgearbeitet haben. Zum anderen haben Halm et al. die größtenteils mangelhafte Methodik von Studien zur Quantitäts-Qualitäts-Beziehung eindrucksvoll aufgedeckt.

Als größtes Manko der Studien fiel auf, dass nur wenige Studien die jeweils von den Ärzten oder Einrichtungen genutzten diagnostischen und therapeutischen Verfahren bei den Analysen einbezogen hatten. Genauso wenig wurden der Schweregrad und die Komorbiditäten der jeweiligen Patientenpopulationen berücksichtigt. Stattdessen beachteten viele Studien allein die Leistungsfrequenz als Einflussfaktor auf das Ergebnis und verglichen dann – wie so oft – Äpfel mit Birnen.

Deshalb raten diese Autoren auch dazu, das zumeist zitierte Ergebnis ihrer
Analyse nur mit Vorsicht zu interpretieren, nämlich dass rund 70 Prozent der Studien eine positive Assoziation von entweder Arztfallzahlen oder Einrichtungsfallzahlen mit den Ergebnissen berichteten.

Eine ähnliche, wenn auch für die Arztfallzahlen etwas geringere Assoziation von 53 Prozent haben auch Gandjour, Lauterbach und Co kürzlich in ihrem Review publiziert. Wesentlich an diesem Review war, dass hier gezeigt werden konnte, dass gerade in den letzten fünf Jahren die methodische Qualität der Studien besser geworden ist.

Eine solch methodisch herausragende Arbeit haben John Birkmeyer und Koautoren 2002 im „New England Journal“ publiziert. Hierbei flossen Daten von mehr als 2,5 Millionen Patienten ein, die im Zeitraum von 1994 bis 1999 behandelt worden waren.

Für acht Karzinomoperationen und sechs Herz- bzw. Gefäßoperationen wies Birkmeyer positive Assoziationen der Leistungsfrequenz der Einrichtungen mit der Operations- bzw. 30-Tages-Mortalität nach. Beeindruckend sind sicherlich diese Ergebnisse hier für Pankreas- und Ösophagus-Karzinomresektionen. Beim Pankreaskarzinom starben beispielsweise in der Gruppe der Einrichtungen mit weniger als einem Eingriff im Durchschnitt der letzten sieben Jahre 16,3 Prozent der Patienten, während in der Gruppe mit mehr als 16 Eingriffen pro Jahr nur 3,8 Prozent innerhalb von 30 Tagen nach der Operation verstorben waren.

Was aber zusätzlich auffällt, ist, dass es auch Prozeduren zu geben scheint, bei denen die höchsten Leistungsfrequenzen trotz statistischer Signifikanz – und das ist bei diesen Fallzahlen kein Wunder – mit nur geringen klinischen Unterschieden einhergehen. Bei der Colektomie ist zu sehen, dass Kliniken mit mehr als 124 solcher Eingriffe pro Jahr eine Kurzzeitmortalität von 4,5 Prozent aufwiesen, während die Mortalität in Kliniken mit durchschnittlich weniger als 33 Eingriffen pro Jahr 5,6 Prozent betrug.

Genauso sah es auch bei Herz- und Gefäßoperationen aus. Auch hier unterschieden sich die Mortalitätsdifferenzen in den höchsten und niedrigsten Frequenzgruppen zwar signifikant voneinander, jedoch waren die klinischen Unterschiede mitunter minimal. Bei der Carotisendarteriektomie beispielsweise starben 17 von 1 000 Operierten in solchen Kliniken, die weniger als 40 Eingriffe pro Jahr zählten, während 15 von 1 000 Patienten in Kliniken mit mehr als 164 Eingriffen pro Jahr starben.

Insgesamt zeigt sich also eine sehr variable Effektstärke bei der Assoziation von Leistungsfrequenz in Kliniken und dem hier betrachteten Ergebnisparameter. Klinisch hoch bedeutsame Assoziationen sind bisher also nur bei wenigen Prozeduren festzustellen.

Was bei der Birkmeyer-Studie kaum beachtet wurde, ist die Tatsache, dass der Datensatz nur Daten von über 65 Jahre alten Patienten enthält. Emily Finlayson und Koautoren – darunter war wiederum Birkmeyer – haben dagegen die Quantitäts-Qualitäts-Beziehung der gleichen acht Krebsoperationen wie bei Birkmeyer an einem Datensatz untersucht, der alle Altersgruppen umfasste. Bei insgesamt knapp 200 000 operierten Patienten fanden sie nur noch für Ösophagus- und Pankreasresektionen die signifikante Assoziation von Leistungsfrequenz der Kliniken und Kurzzeitmortalität. Das Alter spielt also eine wesentliche Rolle dabei, ob eine Behandlung in Zentren mit hohen Fallzahlen in Bezug auf diesen Ergebnisparameter wirklich Vorteile für die Patienten bringt.

Wiederum von John Birkmeyer mit Koautoren stammt eine Studie, die einen anderen wesentlichen Aspekt der Mindestmengendiskussion beleuchtet. Dabei geht es um die Frage, ob es ausreicht, darauf zu achten, dass die Fallzahlen von Einrichtungen hoch sind, oder ob vielleicht die Fallzahlen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte wichtiger sind. Basis der Analyse waren wiederum die Daten von über 65-jährigen Amerikanern. Bei vier Karzinom- und vier Herz- bzw. Gefäßoperationen fand die Studie signifikante positive Assoziationen der Leistungsfrequenz des Operateurs mit den Versorgungsergebnissen.

Noch interessanter als dieser Effekt scheint mir aber an der Studie zu sein, dass erstmals untersucht wurde, welchen Anteil an dieser Assoziation die Operateurleistungsfrequenz im Verhältnis zur Einrichtungsleistungsfrequenz hatte. Danach gab es Prozeduren, bei denen bis zu 50 Prozent des Effekts, der zunächst der Leistungsfrequenz von Ärzten zugesprochen worden war, bei genauer Analyse durch die Leistungsfrequenz der Einrichtungen erklärt wurden. Dies war hier bei Pankreasresektionen der Fall.

Genauso gab es Prozeduren – hier beim Aortenklappenersatz –, bei denen 100 Prozent des Effekts der Leistungsfrequenz der Einrichtungen allein auf die Fallzahl der Ärzte zurückzuführen waren. Bei dieser Prozedur spielte die Fallzahl der Einrichtungen überhaupt keine Rolle. Bei Mindestmengenvereinbarungen sollte also für jede Prozedur sehr genau überlegt werden, ob die Fallzahlen für Ärztinnen und Ärzte oder aber für Einrichtungen wichtiger sind.

Wo aber – das heißt: in welcher Höhe – könnten jetzt Mindestmengen aufgrund dieser Studienergebnisse angesetzt werden? Die Autoren der meisten Reviews warnen davor, konkrete Fallzahlen abzuleiten. Es heißt, dazu sei die Evidenz einfach nicht ausreichend.

Ich möchte das Problem bei der Festlegung expliziter Grenzen am Beispiel der Studien zu Pankreasresektionen verdeutlichen. Hier wird sehr deutlich, dass auch in den Fällen, wo es für eine Prozedur viele verschiedene, konsistent mit positiven Mengeneffekten einhergehende Studien gibt, kaum zwei Studien vorliegen, bei denen dieselben Grenzwerte genutzt wurden.

In 12 Studien zum Einfluss der Leistungsfrequenz auf die Mortalität beim Pankreaskarzinom wurden beispielsweise bisher insgesamt 20 verschiedene Frequenzgruppen untersucht. Einmal wurde „niedrige Eingriffsfrequenz“ mit weniger als einem Fall pro Jahr – hier bei den Studien von Birkmeyer und von Wade –, ein anderes Mal mit weniger als 50 Fällen pro Jahr wie hier bei Gordon definiert. Dagegen lag die Definition von „hoher Eingriffsfrequenz“ zwischen mindestens einem Fall pro Jahr und mehr als 200 Fällen pro Jahr. Das heißt, Kliniken oder Ärzte, die in der einen Studie zur Gruppe mit niedriger Eingriffsfrequenz gezählt wurden, gehörten in der anderen Studie zur Gruppe mit hoher Eingriffsfrequenz.

Interessanterweise berichteten aber nicht diejenigen Studien über die größten Mortalitätsdifferenzen, die die höchsten Unterschiede in den Eingriffsfrequenzen miteinander verglichen. Die höchste Mortalitätsdifferenz mit 16,8 Prozent zeigte die Studie von Gordon 1995. Hier wurden Krankenhäuser mit weniger als sechs und mehr als 20 Operationen verglichen. Birkmeyer fand 1999 schon eine beachtliche Mortalitätsdifferenz von 11,9 Prozent bei Einrichtungen, die mindestens eine Pankreaskarzinomoperation pro Jahr durchführten im Vergleich zu Krankenhäusern mit weniger als einer Operation pro Jahr im Durchschnitt.

Sogar bei den gut untersuchten Pankreaskarzinomoperationen kann meines Erachtens anhand dieser vorliegenden Evidenz keine empirische Mindestmenge abgeleitet werden.

Alle bisher von mir angeführten Studien haben sich darauf beschränkt, jeweils Gruppen von Leistungserbringern zu bilden und dann die Ergebnisse der Gruppen miteinander zu vergleichen. Zwei Anfang 2004 erschienene Studien haben sich nun der Frage gewidmet, ob diese Gruppenbildung überhaupt zu homogenen Entitäten führt. Die gezeigte Grafik stellt Ergebnisse einer Studie von Peterson zur Koronarchirurgie mit knapp 270 000 Eingriffen dar, die in den Jahren 2000 und 2001 in 439 US-Krankenhäusern vorgenommen wurden. Jeder Punkt repräsentiert eine Klinik, deren Fallzahl auf der x-Achse und deren adjustierte Mortalität auf der y-Achse abzulesen ist. Die Autoren haben die Kliniken zunächst auch wieder in vier Frequenzgruppen eingeteilt und konnten zeigen, dass die Gruppe der Kliniken mit weniger als 150 Fällen pro Jahr signifikant schlechter war in Bezug auf die Mortalität als die Gruppe der Kliniken mit mehr als 450 Fällen pro Jahr.

Legt man nun eine Gerade auf den Wert von 2,5 Prozent, der von der Gruppe der besten Kliniken erreicht wurde, erkennt man unschwer, dass diesen Wert nicht nur Kliniken mit hoher Fallzahl erreichen, sondern ebenfalls viele Kliniken mit geringer Fallzahl. Sogar in der Gruppe der Kliniken mit weniger als 150 Fällen finden sich viele Kliniken mit guten Ergebnissen.

Was könnte nun passieren, wenn diese Grenze zur Mindestmenge erklärt würde? Die zukünftigen Patienten könnten dann entweder von Kliniken behandelt werden, die bei höherer Fallzahl gleich schlechte oder gleich gute Ergebnisse haben, was die Mortalität angeht. Das würde keinen positiven Qualitätseffekt bringen. Oder aber die Patienten werden von Kliniken mit höherer Frequenz und besseren Ergebnissen behandelt. Das wäre also gut. Zuletzt besteht aber auch die Möglichkeit, dass nun mehr Patienten in Kliniken mit höherer Fallzahl, aber schlechteren Ergebnissen behandelt würden. Das bedeutete insgesamt eine Qualitätsverschlechterung.

Zu einem vergleichbaren Ergebnis kamen auch Rogowski et al. in einer Studie zur Quantitäts-Qualitäts-Beziehung bei der Versorgung von Frühgeborenen, die 2004 veröffentlicht wurde. In dieser Studie wurden die Daten von über 94 000 Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1 500 Gramm analysiert, die zwischen 1995 und 2000 in den USA geboren wurden. Auch diese Studie ergab, dass gute Überlebenschancen in Neonatalintensivstationen sowohl mit hohen als auch mit niedrigen Fallzahlen erzielt wurden. Zwar verbesserte sich das Mortalitätsverhältnis zunächst bis zu einer jährlichen Frequenz von 50 versorgten Kindern, verschlechterte sich aber signifikant bei höheren Fallzahlen. Das ist sicherlich bereits ein bemerkenswertes und diskussionswürdiges Ergebnis.

Einem anderen Ergebnis der Studie kommt meines Erachtens aber eine noch größere Bedeutung zu. Die Autoren haben auch untersucht, inwieweit anhand der Fallzahl als Surrogatparameter für Qualität denn wirklich zukünftig positive Ergebnisse prognostiziert werden können. Das ist es ja, was wir mit den Mindestmengen erreichen wollen. Als Ergebnis stellten sie fest, dass mit den Daten zur Fallzahl aus den Jahren 1995 bis 1998 nur 1 Prozent der Mortalität in den Jahren 1999 und 2000 vorhergesagt werden konnte. Dagegen erklärten die Versorgungsergebnisse der Jahre 1995 bis 1998 rund 35 Prozent der Variabilität der Mortalität in den darauf folgenden Jahren. Der Faktor „frühere Ergebnisse“ war also 35 Mal besser als der Faktor „Leistungsfrequenz“ geeignet, als Anhaltspunkt für zukünftige Ergebnisse zu dienen.

Eine Zentralisierungsstrategie in der Art, dass die Versorgungseinrichtungen geschlossen würden, die im unteren Fünftel der Häufigkeitsverteilung liegen, hätte elf Todesfälle vermeiden können. Dagegen hätten 115 Leben gerettet werden können, wenn die Kliniken mit schlechten Versorgungsergebnissen von der Frühgeborenenversorgung ausgeschlossen worden wären.

Diese Studie stellt also ein starkes Argument gegen die alleinige Verwendung von Mindestmengen als Surrogatparameter für Qualität dar. Zumindest sollten frühere Ergebnisse berücksichtigt werden, bevor Einrichtungen oder Ärztinnen und Ärzte von der Versorgung ausgeschlossen werden.

Bevor ich zu den Argumenten pro und kontra Mindestmengen komme, möchte ich noch kurz einen Aspekt in die Diskussion einbringen, der bisher wenig berücksichtigt wurde. Dabei handelt es sich um Patientenpräferenzen. Landläufig geht man davon aus, dass Patienten immer dazu tendieren würden, die jeweils besten Versorgungseinrichtungen zu bevorzugen. Eine Studie von Samuel Finlayson und Koautoren zeigt dagegen, dass das so pauschal nicht gelten kann. Die Grafik veranschaulicht das Risiko, das Patienten in Kauf nehmen würden, um bei erhöhtem operativen Mortalitätsrisiko trotzdem in ihrem ortsnahen Krankenhaus behandelt werden zu können.

Bei der Studie wurden 100 Patienten, die einer elektiven Operation unterzogen werden sollten, gebeten, sich folgende Entscheidungssituation vorzustellen: Gesetzt den Fall, Sie hätten ein Pankreaskarzinom und das operative Mortalitätsrisiko wäre 3 Prozent sowohl in der ortsnahen Klinik als auch im spezialisierten Zentrum, das vier Autostunden entfernt liegt, wo würden Sie sich lieber behandeln lassen? Bei dieser Auswahl entschieden sich alle Patienten für die ortsnahe Behandlung. Mit jedem Prozentpunkt, den das Mortalitätsrisiko in der ortsnahen Klinik höher dargestellt wurde als im Zentrum, nahm der Prozentsatz der Patienten ab, die sich weiterhin ortsnah behandeln lassen würden.

Interessant aber ist meines Erachtens, dass bei einer 1-prozentigen Risikoerhöhung – das sind die Mortalitätsunterschiede bei einigen der Prozeduren, die zum Beispiel von Birkmeyer untersucht worden waren – immer noch fast 75 Prozent der Patienten lieber ortsnah behandelt würden. Bei 3-prozentiger Risikoerhöhung, also einer Risikoverdoppelung in der ortsnahen Klinik im Vergleich zum Zentrum, wären immer noch 45 von 100 Patienten bereit, dieses Risiko zu tragen. Bei weiterer Risikoerhöhung bleibt am Ende eine Gruppe von rund 20 Prozent der befragten Patienten übrig, die fast jede Risikoerhöhung tragen würden, nur um nicht ins Zentrum zu müssen.

Patientenpräferenzen sollten also auf jeden Fall in die Mindestmengendebatte einbezogen werden.

In Anbetracht dieser Studienlage können eine Reihe von Argumenten für und gegen die Einführung expliziter Mindestmengen angeführt werden. Für die Patienten könnte ein Qualitätsgewinn resultieren, indem sie nur noch von hoch erfahrenen und spezialisierten, interdisziplinär arbeitenden Einrichtungen behandelt werden können. Demgegenüber lauert aber die Gefahr, dass die Entscheidungsfreiheit der Patienten eingeschränkt wird und dass eine ortsnahe Versorgung nicht mehr flächendeckend angeboten wird. Genauso könnten Kontinuität und Koordination der Versorgung leiden, wenn eine spezialisierte Nachbehandlung nur noch in Zentren möglich sein wird und etablierte Versorgungsnetzwerke sowie Informations- und Kommunikationswege durch die Zentralisierung zerstört werden.

Was uns Ärzte angeht, so ist auf der einen Seite für die meisten stationär arbeitenden Ärztinnen und Ärzte mit einem breiten Erfahrungsverlust zu rechnen. Dieser Verlust resultiert dann, wenn viele Prozeduren und damit wahrscheinlich auch deren diagnostische Abklärung sowie Weiterbehandlung zentralisiert werden. Auf der anderen Seite werden diejenigen, die in den Zentren arbeiten,
eventuell höhere Fallzahlen und damit größere Erfahrung erzielen können.

Was sicherlich passiert, ist, dass die Weiterbildungskapazitäten reduziert werden. Dadurch werden komplizierte Rotationsverfahren notwendig, die unter anderem eine hohe räumliche Flexibilität von angehenden Fachärztinnen und Fachärzten verlangen. Auch hier scheint offensichtlich, dass damit negative Effekte auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einhergehen werden und dass die Attraktivität unseres Arztberufs weiter sinkt.

Unter den möglichen Auswirkungen von Mindestmengen auf Krankenhäuser bzw. die Versorgungsstrukturen ist zu nennen, dass sich langfristig „centers of excellence“ für verschiedene Prozeduren ausbilden können. Von diesen Zentren könnten die Patienten eventuell profitieren. In solchen Zentren wird möglicherweise effizienter gearbeitet, weil eine optimale Auslastung der eingesetzten Ressourcen zumindest theoretisch zu erwarten ist.

Ein Problem könnte jedoch darin bestehen, dass Mindestmengen solche Leistungserbringer ausschließen, die trotz niedriger Fallzahlen gute Ergebnisse für die Patienten erbringen, während solche Leistungserbringer gefördert werden, die zwar hohe Fallzahlen, aber schlechte Ergebnisse vorweisen. Von den Effekten her kaum abschätzbar sind für mich die Veränderungen der Versorgungskapazitäten. Zum einen wird ein Aufbau von Kapazitäten in Zentren und ein Abbau von Kapazitäten bei Niedrigfrequenz-Leistungserbringern notwendig. Beides ist nur langfristig möglich. Kurzfristig sind Wartelisten und Überbeanspruchung in Zentren zu erwarten und Ineffizienzen bei Leistungserbringern mit geringen Fallzahlen.

Zusammenfassend ergibt sich folgendes Fazit zur Evidenz der Beziehung zwischen Quantität und Qualität in der Medizin:

Erstens ist die Beziehung zwischen Fallzahl und Ergebnis hoch komplex. Die Hypothese „Übung macht den Meister“ reicht als Erklärung einfach nicht aus. Denn wir sehen zweitens in vielen Studien, dass Fallzahlen als Qualitätssurrogat bei vielen Prozeduren nur eine geringe Erklärungskraft haben. Drittens sind explizite Mindestmengen aus Studien bisher nicht evidenzbasiert ableitbar. Und viertens sollten in jedem Einzelfall die möglichen positiven und negativen Effekte abgewogen werden.

Was wir meines Erachtens brauchen, um konstruktiv in der Mindestmengendebatte voranzukommen, ist zunächst Forschung zu besseren Qualitätsindikatoren als der Leistungsfrequenz. Dabei muss untersucht werden, welche Strukturen und welche Versorgungsprozesse wirklich die besten Ergebnisse für die Patienten erzielen. Wer über solche Strukturen verfügt und die besten Prozesse beherrscht und darüber hinaus Rechenschaft über die eigenen Ergebnisse ablegen kann, sollte meines Erachtens in Zukunft bei medizinischen Leistungen bevorzugt werden.

Um die Zeit zu überbrücken, bis solche Erkenntnisse vorliegen, sollten aber keine empirisch nicht belegbaren Mindestmengen vereinbart werden. Bei solchen Prozeduren, für die eine Assoziation von Quantität und Qualität ausreichend mit Studien belegt ist, könnten meines Erachtens statt dessen zum Beispiel diejenigen 10 Prozent Einrichtungen mit den geringsten Fallzahlen aus der Versorgung herausgenommen werden.

Diese Maßnahme sollte aber auf jeden Fall begleitend evaluiert werden, damit keine vorschnellen Schlussfolgerungen zur Beziehung von Quantität und Qualität in der Medizin gezogen werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Herr Kollege Geraedts, für Ihren exzellenten Vortrag. Wir haben auf diesem Wege jetzt eine politische und eine wissenschaftliche Ausdeutung der gesamten Problematik und eine Einführung in die Problematik erhalten. Dazu gehört auch der Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer, den Herr Henke erläutern wird. Bitte schön, Rudolf Henke.

© 2004, Bundesärztekammer.