Prof. Dr. Kossow, Niedersachsen:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist spannend,
den Versuch zu beobachten, hier Wissenschaft, Public Health
und Politik miteinander zu verknüpfen. Wir waren Zeuge des Vorgangs,
dass ein prominenter Berater der Regierung diese Verknüpfung in den
letzten zwei Jahren des Öfteren öffentlich vorgenommen hat. Dafür ist
er auch heute wieder kritisiert worden. Man
muss meines Erachtens aufpassen, dass man nicht in denselben Fehler
verfällt, den Herr Lauterbach begangen hat, nämlich eine Verknüpfung
von wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Ansätzen leichtfertig
zu versuchen.
Schließlich haben wir verlässliche Daten, wie sie
heute von Herrn Geraedts vorgetragen wurden,
nur aus dem Ausland. Diese Daten sind überhaupt nicht geeignet, Politik
in Deutschland zu begründen, weil sie in Systemen erhoben wurden,
die von unserem System vollständig abweichen. Unser System wird gesteuert
durch die freie Arztwahl, damit durch den freien Willen des Patienten.
Ausländische Systeme werden, wenn ich die USA als Beispiel betrachte,
entweder durch Versicherungsverträge gesteuert oder durch die freie
Arztwahl, dann aber nur für ungefähr ein Drittel der Versorgungsfälle.
Ansonsten haben wir in den skandinavischen und
in den angelsächsischen Ländern Primärarztsysteme mit definierten
Behandlungsketten, die meistens topdown vorgegeben werden.
Es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass das
Versorgungsergebnis am Endpunkt, nämlich im Krankenhaus, ganz stark
durch die Vorgänge innerhalb der Behandlungskette bestimmt wird. Hierzu
gab es schon vor zehn Jahren eine bahnbrechende
Arbeit im „Deutschen Ärzteblatt“, nämlich von Praetorius,
einem Kardiologen. Er hat nachgewiesen, dass bei überwiesenen Fällen
– gleichgültig, woher die Überweisung erfolgte – die diagnostische
Nachtrefferwahrscheinlichkeit viermal so hoch ist wie bei freier Kardiologenwahl
durch den Patienten. Für Eingriffe gilt Ähnliches.
Es gibt also eine ganz massive Korrelation zwischen
Vorgängen außerhalb des Qualitätsmessendpunkts und den Qualitätsergebnissen.
Solange wir nicht eine eigene epidemiologische
Forschung aufbauen, die diese Zusammenhänge transparent macht, werden
wir keine ernst zu nehmenden und politikbegründenden
Arbeiten zum Thema Qualität bekommen.
Es gibt solche Arbeiten allerdings über die Ökonomie
der Versorgung. Die
„economies of scale“ sind empirisch und theoretisch gut begründet.
Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Arbeitsserienlänge
auch am Patienten und den Stückkosten, die bei der Versorgung eines
Falles auftreten, und zwar unabhängig vom Alter, von Transportrisiken
usw.
Ich muss in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass die Qualitätsbeurteilung umso kritischer wird, je mehr Fälle
in einem Versorgungszentrum zu registrieren sind. Diese Zusammenhänge
hat Herr Geraedts auch angesprochen. Es
ist nämlich sehr gut möglich, dass junge Leute mobiler sind als alte
Leute, dass junge Leute ein geringeres Qualitätsrisiko darstellen
und dass man deswegen die Konzentration niedriger Risiken auf Zentren
mit großen Serienlängen erlebt.
Alle diese Dinge sind bei uns nicht untersucht,
wohl aber beispielsweise in den USA.
Ich schlage vor, dass wir die Mahnung an Herrn
Lauterbach auch für uns gelten lassen, nicht leichtfertig wissenschaftliche
Ergebnisse und Politik zu verknüpfen. Wir sollten uns dafür stark
machen, dass wir eine saubere systematische epidemiologische Forschung
bekommen, um Qualitätsergebnisse beurteilen zu können. Wir sollten
diese Ergebnisse aus Deutschland zum Gegenstand der deutschen Gesundheitspolitik
machen.
Vielen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank, Herr Kossow. – Der nächste Redner
ist Herr Merchel aus Westfalen-Lippe.
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