TOP II: Durch Quantität zu Qualität? – Folgen der Konzentration und Zentralisierung von medizinischer Versorgung für die Bevölkerung

Tag 2: Mittwoch, 19. Mai 2004 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Kossow, Niedersachsen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist spannend, den Versuch zu beobachten, hier Wissenschaft, Public Health und Politik miteinander zu verknüpfen. Wir waren Zeuge des Vorgangs, dass ein prominenter Berater der Regierung diese Verknüpfung in den letzten zwei Jahren des Öfteren öffentlich vorgenommen hat. Dafür ist er auch heute wieder kritisiert worden.

Man muss meines Erachtens aufpassen, dass man nicht in denselben Fehler verfällt, den Herr Lauterbach begangen hat, nämlich eine Verknüpfung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Ansätzen leichtfertig zu versuchen.

Schließlich haben wir verlässliche Daten, wie sie heute von Herrn Geraedts vorgetragen wurden, nur aus dem Ausland. Diese Daten sind überhaupt nicht geeignet, Politik in Deutschland zu begründen, weil sie in Systemen erhoben wurden, die von unserem System vollständig abweichen. Unser System wird gesteuert durch die freie Arztwahl, damit durch den freien Willen des Patienten. Ausländische Systeme werden, wenn ich die USA als Beispiel betrachte, entweder durch Versicherungsverträge gesteuert oder durch die freie Arztwahl, dann aber nur für ungefähr ein Drittel der Versorgungsfälle.

Ansonsten haben wir in den skandinavischen und in den angelsächsischen Ländern Primärarztsysteme mit definierten Behandlungsketten, die meistens topdown vorgegeben werden.

Es ist sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Versorgungsergebnis am Endpunkt, nämlich im Krankenhaus, ganz stark durch die Vorgänge innerhalb der Behandlungskette bestimmt wird. Hierzu gab es schon vor zehn Jahren eine bahnbrechende Arbeit im „Deutschen Ärzteblatt“, nämlich von Praetorius, einem Kardiologen. Er hat nachgewiesen, dass bei überwiesenen Fällen – gleichgültig, woher die Überweisung erfolgte – die diagnostische Nachtrefferwahrscheinlichkeit viermal so hoch ist wie bei freier Kardiologenwahl durch den Patienten. Für Eingriffe gilt Ähnliches.

Es gibt also eine ganz massive Korrelation zwischen Vorgängen außerhalb des Qualitätsmessendpunkts und den Qualitätsergebnissen.

Solange wir nicht eine eigene epidemiologische Forschung aufbauen, die diese Zusammenhänge transparent macht, werden wir keine ernst zu nehmenden und politikbegründenden Arbeiten zum Thema Qualität bekommen.

Es gibt solche Arbeiten allerdings über die Ökonomie der Versorgung. Die
„economies of scale“ sind empirisch und theoretisch gut begründet. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Arbeitsserienlänge auch am Patienten und den Stückkosten, die bei der Versorgung eines Falles auftreten, und zwar unabhängig vom Alter, von Transportrisiken usw.

Ich muss in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Qualitätsbeurteilung umso kritischer wird, je mehr Fälle in einem Versorgungszentrum zu registrieren sind. Diese Zusammenhänge hat Herr Geraedts auch angesprochen. Es ist nämlich sehr gut möglich, dass junge Leute mobiler sind als alte Leute, dass junge Leute ein geringeres Qualitätsrisiko darstellen und dass man deswegen die Konzentration niedriger Risiken auf Zentren mit großen Serienlängen erlebt.

Alle diese Dinge sind bei uns nicht untersucht, wohl aber beispielsweise in den USA.

Ich schlage vor, dass wir die Mahnung an Herrn Lauterbach auch für uns gelten lassen, nicht leichtfertig wissenschaftliche Ergebnisse und Politik zu verknüpfen. Wir sollten uns dafür stark machen, dass wir eine saubere systematische epidemiologische Forschung bekommen, um Qualitätsergebnisse beurteilen zu können. Wir sollten diese Ergebnisse aus Deutschland zum Gegenstand der deutschen Gesundheitspolitik machen.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Herr Kossow. – Der nächste Redner ist Herr Merchel aus Westfalen-Lippe.

© 2004, Bundesärztekammer.