Dr.
Auerswald, Referentin:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Thema „Entbürokratisierung der Medizin“, über das
wir schon oft gesprochen haben, ist eines der heißesten Themen überhaupt.
Bei der Vorbereitung zu diesem Thema – da danke ich der Arbeitsgruppe
– musste ich manchmal meine Emotionen ein bisschen herunterfahren.
Ich musste versuchen, das Ganze zu entemotionalisieren.
Es ist
mir ein besonderes Anliegen, Ihnen im Rahmen des Tätigkeitsberichts
dieses Thema vorzustellen. Täglich begleitet uns dieses Thema in Klinik
und Praxis. Die ärztliche Belastung durch die täglich zunehmende Bürokratisierung
ist zum ständigen Ärgernis geworden. Unsere Arbeit konzentriert sich
immer mehr auf die Papierberge als auf unsere Hauptaufgabe, die Behandlung
der Patientinnen und Patienten. Nur durch das persönliche Engagement
des Einzelnen wird die medizinische Versorgung noch gewährleistet.
Dafür Dank an alle.
Der Vorstand
der Bundesärztekammer hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die dieses
Thema für Sie vorbereitet hat. An dieser Stelle möchte ich allen Mitgliedern
der Arbeitsgruppe recht herzlich danken, insbesondere Herrn Rochell,
der sich ganz massiv dieser Arbeit gewidmet hat.
Manche
erinnern sich vielleicht noch an das Jahr 1994. Damals gab es schon
einmal einen Versuch, die Medizin zu entbürokratisieren. Dies galt
vor allem dem ambulanten Bereich und geschah unter der Leitung des
Gesundheitsministeriums unter dem damaligen Minister Seehofer. Leider
führte dies nicht zu einem befriedigenden Ergebnis.
Zunächst
stellen wir Ihnen den stationären Bereich vor. Dafür diente uns zum
einen die DKI-Studie, die sich mit der Frage befasst hat, wie viel Zeit
in Krankenhäusern mit der Dokumentation verbracht wird. In Bremen
haben wir dem an dem Krankenhaus der Maximalversorgung eine eigene
Untersuchung gegenübergestellt. Danach kann davon ausgegangen werden,
dass Ärzte und Ärztinnen circa 25 bis 40 Prozent ihrer Arbeitszeit
mit Dokumentation verbringen, ohne dass man die Arztbriefe hinzurechnet,
ohne dass man die Anrufe bei Hausärzten oder bei den Pflegeverbänden
hinzurechnet. Abgesehen davon kann man beispielsweise interne Besprechungen
wie Röntgenbesprechungen nicht hinzurechnen. Nach einer Analyse von
Herrn Dr. Kraus kann die Dokumentation insgesamt sogar 73 Prozent
der ärztlichen Arbeitszeit in Anspruch nehmen.
Die DKI-Studie kommt zu dem Schluss, dass ein Einsparpotenzial
von etwa einer Stunde pro Arzt bzw. Ärztin erwirtschaftet werden könnte,
eine Stunde weniger für Akten, eine Stunde mehr für Zuwendung zu unseren
Patienten.
Frau Dr.
Gitter hat auf dem außerordentlichen Deutschen Ärztetag in Berlin
eindrucksvoll vorgestellt, dass OPS 301 und ICD 10 zur Kodierung der
DRGs notwendig sind. Diese Kodierung und
die Dokumentation für Abrechnungszwecke nehmen den größten Teil der
administrativen Dokumentationszeit in Anspruch. Diese wird jedoch
zunehmend übertroffen von den Anfragen der Krankenkassen, Rückfragen
des Medizinischen Dienstes und den Begründungen zur Rechtfertigung
der stationären Aufnahme.
(Beifall)
Die Begründung
der stationären Aufnahme wird unnötigerweise noch dadurch erschwert,
dass für die stationäre Durchführung von in der Regel als ambulant
durchführbar gekennzeichneten Leistungen des AOP-Katalogs
– das ist der Katalog nach § 115 b SGB V für ambulante Operationen
und stationsersetzende Eingriffe; das sind die so genannten Sternchenleistungen
– andere Maßstäbe gelten als für sonstige stationäre Behandlungen,
die oft korrespondierenden Kriterien der allgemeinen Tatbestände nach
§ 115 b SGB V und des G-AEP teils widersprechen. Wenn eine mindestens
achtstündige Überwachungspflicht im Anschluss an eine in der Regel
ambulant erbringbare „Sternchenleistung“ aus dem AOP-Katalog
ausreichen kann, um die stationäre Aufnahme zu rechtfertigen, müssen
sich die Patienten mit einer anderen, in der Regel nicht ambulant
zu erbringenden Leistung vier Stunden länger gedulden, damit die stationäre
Behandlung nach dem korrespondierenden G-AEP gebilligt wird. Um es
konkret darzustellen: Bei 8,5-stündiger Überwachungspflicht im Anschluss
an die AOP-„Sternchenleistung“ 1355 – Implantation einer intraokularen
Linse als selbstständige Leistung – ist die stationäre Aufnahme gerechtfertigt.
Bei einer 11,5-stündigen Überwachungspflicht nach der nicht als „Sternchenleistung“
gekennzeichneten AOP-Leistung 1351 – Operation des Grauen Stars mit Implantation
einer intraokularen Linse – soll die stationäre Aufnahme nicht gerechtfertigt
sein. Wo bleiben hier Sinn und Verstand?
Nächstes
Beispiel: das Mammakarzinom. Ich denke,
für Frauen ist es sowieso ein schwieriges Schicksal, mit dieser Diagnose
zu leben. Im Krankenhaus ist das Mammakarzinom
nicht nur aufwendig zu behandeln, sondern auch sehr aufwendig zu dokumentieren.
Allein für die Tumordokumentation wird schon eine Dreifachdokumentation
betrieben, ohne dass wir auf die speziellen Brustzentren, die DRG-Kodierung
und die BQS-Dokumentation überhaupt schon
eingegangen sind. Die Tumordaten werden für DMP, Krebsregistergesetz
und sinnvolle klinische Register bei den Tumorzentren separat und
damit größtenteils redundant erfasst. Aus diesen drei Dokumentationsvorgängen
könnte man schlicht einen Vorgang machen, wenn nicht die Rechtsverordnung
des Bundes vorschreiben würde, dass die Daten der DMP-Erfassung
ausschließlich für DMP verwandt werden dürfen. Von insgesamt 71 Items,
Stammdaten ausgenommen, werden für alle drei Bereiche nur 4 Prozent
inhalts- und abfrageidentisch erfasst. 58 Prozent der Items werden
in mindestens zwei Bereichen zwar inhaltsidentisch, aber über unterschiedliche
Abfragen erfasst. 37 Prozent der Items werden speziell für einen Teil
der drei Bereiche erfasst.
Auch ohne
den Sinn der einzelnen Items zu hinterfragen, ergibt sich hier bereits
ein erhebliches Maß an Doppel- und Dreifachdokumentation. Die Erfassung
der insgesamt 71 Items für alle drei Dokumentationsbereiche führt
allein zu 149 Erfassungsvorgängen. Nur 26 dieser Items werden einmal
erfasst, weil sie jeweils nur in einem der drei Bereiche abgefragt
werden. Zwölf der Items sind zwar gleichzeitig für zwei der Bereiche
interessant, müssen aber leider für jeden Bereich separat und damit
doppelt erfasst werden.
33 dieser
Items – damit die Mehrheit – werden sogar für alle drei Bereiche separat
erfasst und lösen damit eine gleich dreifach redundante Dokumentationsarbeit
aus.
Allein
durch die Vermeidung der redundanten Erfassungsvorgänge ließe sich
der gesamte Dokumentationsaufwand für BQS, DMP und Krebsregister um
fast zwei Drittel reduzieren. Hier bedarf es dringend der Änderungen,
um nicht nur ärztliche Zeit zu sparen, sondern um darüber hinaus sinnvolle
Ressourcen zusammenzuführen.
(Beifall)
Wir konnten
die Tumorregistrierung aus Brandenburg mit den DMP-Daten
vergleichen. Man kommt zu dem Schluss, dass die DMP-Daten
zwar einen geringeren Umfang haben, dadurch aber wesentliche Fragen
nicht beantworten, sodass sich die Frage nach dem Zweck des Ganzen
stellt.
Sie sehen
an diesem Beispiel, dass es der Ärzteschaft nicht darum geht, sich
jeglicher Dokumentationsaufgaben zu entledigen. Es macht aber keinerlei
Sinn, schlechtere Datensysteme ohne zusätzlichen Aussagewert parallel
zu bereits bewährten Dokumentationsmodellen zu etablieren, ohne die
Möglichkeit zu schaffen, gemeinsam mit den Datenschutzbeauftragten
und den Softwareentwicklern Lösungen für eine gemeinsame Nutzung einfach
erfasster Daten zu schaffen. Teilweise liegt das Problem aber auch
daran, dass sich die Verantwortlichen vor der Neuerfindung des Rades
nicht vergewissert haben, dass bereits ein viel besser funktionierendes
existiert.
(Beifall)
Bei der
externen Qualitätssicherung nach § 137 SGB V durch die BQS, die jetzt
dem Gemeinsamen Bundesausschuss unterstellt wurde, müssen Ziel und
Zweck überprüft werden. Hier müssen alle Beteiligten den inzwischen
eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgen, mithilfe einer geschickten
Reduzierung der Items, verbesserter EDV-Lösungen und unter verstärkter
Ausschöpfung der administrativen Routinedaten mit reduziertem Dokumentationsaufwand
zu demselben Ergebnis zu kommen.
An dieser
Stelle wollen wir uns nochmals ganz klar für eine sinnvolle Qualitätssicherung
aussprechen. Die Ärzteschaft ist nicht gegen Dokumentation und Qualitätssicherung,
sie ist lediglich dagegen, sich mit der Erfassung von Daten zu belasten,
die hinterher nicht sinnvoll genutzt werden.
(Beifall)
Auch im
ambulanten Bereich ist mehr als nur die Hölle los. Man muss auch hier
sehr genau unterscheiden, was gesetzlich vorgeschrieben ist und was
selbst gemachtes Leid ist. Bei circa 60 Formularen sind einige für
die Arbeitgeber; dies ist wohl nicht zu ändern. Aber ist es sinnvoll,
dass jetzt schon Schulkinder bei Krankheit eine ärztliche Bescheinigung
brauchen? Ein Teil sind Antragsformulare für eine Leistung der Kassen.
An dieser Stelle bleibt nachzufragen, was der Sachbearbeiter damit
macht: nur einen Stempel darauf oder entscheidet er wirklich aufgrund
der Datenlage, ob dem Patienten diese Leistung auch zusteht? Könnte
hier eine erhebliche Vereinfachung eintreten?
Ein großer
Teil besteht aus Kontrollformularen, ob eine Leistung vollständig
erbracht worden ist. Ein Teil des Formulars geht bei der Abrechnung
zur KV, die diese sammelt. Was passiert damit? Werden die Formulare
wirklich sinnvoll ausgewertet oder werden damit die Kellerräume gefüllt?
Der Clou
aber sind die DMPs.
(Beifall)
Hier bewundere
ich die Schmerzgrenze meiner Kolleginnen und Kollegen. Drei Bögen
pro Patient! Wichtig ist die Einwilligung des Patienten. Ich nehme
als Beispiel den Erstbogen für Diabetes. Bitte beachten Sie: Wenn
Sie oben „Nichtraucher“ ankreuzen und unten „Raucherberatung“ auslassen,
bekommen Sie den Bogen postwendend zurück. Der Folgebogen wird dann
die nächsten Male benötigt. Kritisch bemerkt: Er ist unübersichtlich,
man macht viel zu leicht Fehler und er verbessert die Versorgung der
Diabetiker keineswegs.
(Beifall)
Da war
der Strukturvertrag aus Sachsen doch um Klassen besser!
(Beifall)
Aber es
scheint ja bei uns nicht um eine gute Versorgung zu gehen, sondern
eher um den Risikostrukturausgleich der Kassen, die ab 2007, wenn
der Morbiditätsindex eingeführt wird, vielleicht gar nicht mehr so
sehr an den DMPs interessiert sind. Aber
auch Krankenkassen haben über den Dokumentationsaufwand geklagt. Ob
sich dies alles rechnet, bleibt abzuwarten; denn wenn die AOK Mecklenburg-Vorpommern
an andere Kassen zu zahlen hat, frage ich mich, ob der Sinn erfüllt
ist.
Rechnet
man die Arbeit unserer Arzthelferinnen zu denen des Arztes oder der
Ärztin hinzu, liegt der Anteil der Dokumentation – vor allen Dingen
in den hausärztlichen Praxen – bei 70 Prozent. Gott sei Dank gibt
es unsere Arzthelferinnen, sodass sich die Dokumentationszeit des
einzelnen Arztes auf immerhin noch 40 Prozent reduziert. Um der Patientenversorgung
nachzukommen, werden viele dieser Tätigkeiten außerhalb der normalen
Arbeitszeit erledigt.
Was ist
unser Ziel? Wir wollen erstens ein Bewusstsein schaffen, dass mit
der Bürokratie, die nicht patientenorientiert ist, Schluss sein muss.
(Beifall)
Wir akzeptieren,
dass zur Führung von Krankenhäusern und Praxen bestimmte Kontrollsysteme
bestehen müssen. Wir fordern jedoch, Rechtsgrundlagen und technische
Lösungen zu schaffen, die eine Mehrfachdokumentation überflüssig machen.
(Beifall)
Bei der
Einführung neuer Dokumentationen muss dringend kontrolliert werden,
ob ältere Dokumentationen dadurch entfallen können. Bundes- und Landesebenen
müssen besser miteinander vernetzt werden, beispielsweise DMP und
Krebsregistergesetze.
Wir möchten
von Ihnen den Auftrag erhalten, dass bis zum 108. Deutschen Ärztetag
in Berlin die Arbeitsgruppe mit allen Partnern im Gesundheitswesen
zusammen eine Reduktion der Bürokratie anstoßen soll.
Für uns
alle ist wichtig, die Ressource Arzt freizusetzen für seine ursprüngliche
Arbeit, nämlich die Patientenversorgung. Qualitätssicherung muss sein,
aber nur insofern, dass sie für die Patientenversorgung sinnvoll ist.
Dokumentationen müssen vernetzt werden, soweit der Datenschutz dies
zulässt, wobei man manche Datenschutzbestimmungen noch einmal überdenken
sollte.
Ich weiß,
dass dies alles ein dickes Brett ist, aber für unsere jungen Kolleginnen
und Kollegen und für unsere eigene Arbeitszufriedenheit sollten wir
gemeinsam anfangen, dieses Brett zu bohren. Jeder von Ihnen ist aufgefordert,
mitzumachen. Es ist nicht nur das Problem Ihres Nachbarn, sondern
es ist unser ureigenes Problem. Ich denke, hier sollte die Ärzteschaft
die Führung übernehmen, nicht die Verwaltung.
Ich danke
Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Anhaltender
Beifall)
Prof.
Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen
Ärztetages:
Vielen Dank, liebe Frau Auerswald, für diesen
wunderschön illustrierten und klaren Vortrag, der uns allen aus
der Seele gesprochen hat.
Es liegen
zu diesem Themenkomplex insgesamt 7 Anträge vor. Ich glaube, meine
lieben Vorstandskollegen haben nichts dagegen, wenn ich auch auf
den Rat von dritter Seite hin empfehle, dem Antrag VI-1 des Vorstandes
im ersten Absatz etwas hinzuzufügen. Wenn wir alle anderen auffordern,
sich dieses Themas anzunehmen, dürfen wir uns selber nicht ausschließen.
Auch die Ärztekammern machen das eine oder andere zu bürokratisch,
was vielleicht zu überdenken wäre. Im ersten Absatz sollte der letzte
Satz lauten:
Auch wir als Ärztekammern schließen uns nicht
aus.
Wenn meine Vorstandskollegen dagegen sind, das
mit aufzunehmen, können wir darüber diskutieren. Anderenfalls meine
ich, wir können das freiwillig hinzufügen. Sonst wird man uns vorwerfen,
wir würden den Splitter im Auge des anderen sehen, aber nicht den
Balken im eigenen Auge. Das wollen wir uns nicht nachsagen lassen.
(Vereinzelt
Beifall)
Die erste Wortmeldung kommt von Herrn Kollegen
Josten aus Nordrhein. Bitte schön.
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