TOP VI: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer

Tag 3: Donnerstag, 20. Mai 2004 Nachmittagssitzung

Dr. Auerswald, Referentin:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Entbürokratisierung der Medizin“, über das wir schon oft gesprochen haben, ist eines der heißesten Themen überhaupt. Bei der Vorbereitung zu diesem Thema – da danke ich der Arbeitsgruppe – musste ich manchmal meine Emotionen ein bisschen herunterfahren. Ich musste versuchen, das Ganze zu entemotionalisieren.

Es ist mir ein besonderes Anliegen, Ihnen im Rahmen des Tätigkeitsberichts dieses Thema vorzustellen. Täglich begleitet uns dieses Thema in Klinik und Praxis. Die ärztliche Belastung durch die täglich zunehmende Bürokratisierung ist zum ständigen Ärgernis geworden. Unsere Arbeit konzentriert sich immer mehr auf die Papierberge als auf unsere Hauptaufgabe, die Behandlung der Patientinnen und Patienten. Nur durch das persönliche Engagement des Einzelnen wird die medizinische Versorgung noch gewährleistet. Dafür Dank an alle.

Der Vorstand der Bundesärztekammer hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die dieses Thema für Sie vorbereitet hat. An dieser Stelle möchte ich allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe recht herzlich danken, insbesondere Herrn Rochell, der sich ganz massiv dieser Arbeit gewidmet hat.

Manche erinnern sich vielleicht noch an das Jahr 1994. Damals gab es schon einmal einen Versuch, die Medizin zu entbürokratisieren. Dies galt vor allem dem ambulanten Bereich und geschah unter der Leitung des Gesundheitsministeriums unter dem damaligen Minister Seehofer. Leider führte dies nicht zu einem befriedigenden Ergebnis.

Zunächst stellen wir Ihnen den stationären Bereich vor. Dafür diente uns zum einen die DKI-Studie, die sich mit der Frage befasst hat, wie viel Zeit in Krankenhäusern mit der Dokumentation verbracht wird. In Bremen haben wir dem an dem Krankenhaus der Maximalversorgung eine eigene Untersuchung gegenübergestellt. Danach kann davon ausgegangen werden, dass Ärzte und Ärztinnen circa 25 bis 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation verbringen, ohne dass man die Arztbriefe hinzurechnet, ohne dass man die Anrufe bei Hausärzten oder bei den Pflegeverbänden hinzurechnet. Abgesehen davon kann man beispielsweise interne Besprechungen wie Röntgenbesprechungen nicht hinzurechnen. Nach einer Analyse von Herrn Dr. Kraus kann die Dokumentation insgesamt sogar 73 Prozent der ärztlichen Arbeitszeit in Anspruch nehmen.

Die DKI-Studie kommt zu dem Schluss, dass ein Einsparpotenzial von etwa einer Stunde pro Arzt bzw. Ärztin erwirtschaftet werden könnte, eine Stunde weniger für Akten, eine Stunde mehr für Zuwendung zu unseren Patienten.

Frau Dr. Gitter hat auf dem außerordentlichen Deutschen Ärztetag in Berlin eindrucksvoll vorgestellt, dass OPS 301 und ICD 10 zur Kodierung der DRGs notwendig sind. Diese Kodierung und die Dokumentation für Abrechnungszwecke nehmen den größten Teil der administrativen Dokumentationszeit in Anspruch. Diese wird jedoch zunehmend übertroffen von den Anfragen der Krankenkassen, Rückfragen des Medizinischen Dienstes und den Begründungen zur Rechtfertigung der stationären Aufnahme.

(Beifall)

Die Begründung der stationären Aufnahme wird unnötigerweise noch dadurch erschwert, dass für die stationäre Durchführung von in der Regel als ambulant durchführbar gekennzeichneten Leistungen des AOP-Katalogs – das ist der Katalog nach § 115 b SGB V für ambulante Operationen und stationsersetzende Eingriffe; das sind die so genannten Sternchenleistungen – andere Maßstäbe gelten als für sonstige stationäre Behandlungen, die oft korrespondierenden Kriterien der allgemeinen Tatbestände nach § 115 b SGB V und des G-AEP teils widersprechen. Wenn eine mindestens achtstündige Überwachungspflicht im Anschluss an eine in der Regel ambulant erbringbare „Sternchenleistung“ aus dem AOP-Katalog ausreichen kann, um die stationäre Aufnahme zu rechtfertigen, müssen sich die Patienten mit einer anderen, in der Regel nicht ambulant zu erbringenden Leistung vier Stunden länger gedulden, damit die stationäre Behandlung nach dem korrespondierenden G-AEP gebilligt wird. Um es konkret darzustellen: Bei 8,5-stündiger Überwachungspflicht im Anschluss an die AOP-„Sternchenleistung“ 1355 – Implantation einer intraokularen Linse als selbstständige Leistung – ist die stationäre Aufnahme gerechtfertigt. Bei einer 11,5-stündigen Überwachungspflicht nach der nicht als „Sternchenleistung“ gekennzeichneten AOP-Leistung 1351 – Operation des Grauen Stars mit Implantation einer intraokularen Linse – soll die stationäre Aufnahme nicht gerechtfertigt sein. Wo bleiben hier Sinn und Verstand?

Nächstes Beispiel: das Mammakarzinom. Ich denke, für Frauen ist es sowieso ein schwieriges Schicksal, mit dieser Diagnose zu leben. Im Krankenhaus ist das Mammakarzinom nicht nur aufwendig zu behandeln, sondern auch sehr aufwendig zu dokumentieren. Allein für die Tumordokumentation wird schon eine Dreifachdokumentation betrieben, ohne dass wir auf die speziellen Brustzentren, die DRG-Kodierung und die BQS-Dokumentation überhaupt schon eingegangen sind. Die Tumordaten werden für DMP, Krebsregistergesetz und sinnvolle klinische Register bei den Tumorzentren separat und damit größtenteils redundant erfasst. Aus diesen drei Dokumentationsvorgängen könnte man schlicht einen Vorgang machen, wenn nicht die Rechtsverordnung des Bundes vorschreiben würde, dass die Daten der DMP-Erfassung ausschließlich für DMP verwandt werden dürfen. Von insgesamt 71 Items, Stammdaten ausgenommen, werden für alle drei Bereiche nur 4 Prozent inhalts- und abfrageidentisch erfasst. 58 Prozent der Items werden in mindestens zwei Bereichen zwar inhaltsidentisch, aber über unterschiedliche Abfragen erfasst. 37 Prozent der Items werden speziell für einen Teil der drei Bereiche erfasst.

Auch ohne den Sinn der einzelnen Items zu hinterfragen, ergibt sich hier bereits ein erhebliches Maß an Doppel- und Dreifachdokumentation. Die Erfassung der insgesamt 71 Items für alle drei Dokumentationsbereiche führt allein zu 149 Erfassungsvorgängen. Nur 26 dieser Items werden einmal erfasst, weil sie jeweils nur in einem der drei Bereiche abgefragt werden. Zwölf der Items sind zwar gleichzeitig für zwei der Bereiche interessant, müssen aber leider für jeden Bereich separat und damit doppelt erfasst werden.

33 dieser Items – damit die Mehrheit – werden sogar für alle drei Bereiche separat erfasst und lösen damit eine gleich dreifach redundante Dokumentationsarbeit aus.

Allein durch die Vermeidung der redundanten Erfassungsvorgänge ließe sich der gesamte Dokumentationsaufwand für BQS, DMP und Krebsregister um fast zwei Drittel reduzieren. Hier bedarf es dringend der Änderungen, um nicht nur ärztliche Zeit zu sparen, sondern um darüber hinaus sinnvolle Ressourcen zusammenzuführen.

(Beifall)

Wir konnten die Tumorregistrierung aus Brandenburg mit den DMP-Daten vergleichen. Man kommt zu dem Schluss, dass die DMP-Daten zwar einen geringeren Umfang haben, dadurch aber wesentliche Fragen nicht beantworten, sodass sich die Frage nach dem Zweck des Ganzen stellt.

Sie sehen an diesem Beispiel, dass es der Ärzteschaft nicht darum geht, sich jeglicher Dokumentationsaufgaben zu entledigen. Es macht aber keinerlei Sinn, schlechtere Datensysteme ohne zusätzlichen Aussagewert parallel zu bereits bewährten Dokumentationsmodellen zu etablieren, ohne die Möglichkeit zu schaffen, gemeinsam mit den Datenschutzbeauftragten und den Softwareentwicklern Lösungen für eine gemeinsame Nutzung einfach erfasster Daten zu schaffen. Teilweise liegt das Problem aber auch daran, dass sich die Verantwortlichen vor der Neuerfindung des Rades nicht vergewissert haben, dass bereits ein viel besser funktionierendes existiert.

(Beifall)

Bei der externen Qualitätssicherung nach § 137 SGB V durch die BQS, die jetzt dem Gemeinsamen Bundesausschuss unterstellt wurde, müssen Ziel und Zweck überprüft werden. Hier müssen alle Beteiligten den inzwischen eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgen, mithilfe einer geschickten Reduzierung der Items, verbesserter EDV-Lösungen und unter verstärkter Ausschöpfung der administrativen Routinedaten mit reduziertem Dokumentationsaufwand zu demselben Ergebnis zu kommen.

An dieser Stelle wollen wir uns nochmals ganz klar für eine sinnvolle Qualitätssicherung aussprechen. Die Ärzteschaft ist nicht gegen Dokumentation und Qualitätssicherung, sie ist lediglich dagegen, sich mit der Erfassung von Daten zu belasten, die hinterher nicht sinnvoll genutzt werden.

(Beifall)

Auch im ambulanten Bereich ist mehr als nur die Hölle los. Man muss auch hier sehr genau unterscheiden, was gesetzlich vorgeschrieben ist und was selbst gemachtes Leid ist. Bei circa 60 Formularen sind einige für die Arbeitgeber; dies ist wohl nicht zu ändern. Aber ist es sinnvoll, dass jetzt schon Schulkinder bei Krankheit eine ärztliche Bescheinigung brauchen? Ein Teil sind Antragsformulare für eine Leistung der Kassen. An dieser Stelle bleibt nachzufragen, was der Sachbearbeiter damit macht: nur einen Stempel darauf oder entscheidet er wirklich aufgrund der Datenlage, ob dem Patienten diese Leistung auch zusteht? Könnte hier eine erhebliche Vereinfachung eintreten?

Ein großer Teil besteht aus Kontrollformularen, ob eine Leistung vollständig erbracht worden ist. Ein Teil des Formulars geht bei der Abrechnung zur KV, die diese sammelt. Was passiert damit? Werden die Formulare wirklich sinnvoll ausgewertet oder werden damit die Kellerräume gefüllt?

Der Clou aber sind die DMPs.

(Beifall)

Hier bewundere ich die Schmerzgrenze meiner Kolleginnen und Kollegen. Drei Bögen pro Patient! Wichtig ist die Einwilligung des Patienten. Ich nehme als Beispiel den Erstbogen für Diabetes. Bitte beachten Sie: Wenn Sie oben „Nichtraucher“ ankreuzen und unten „Raucherberatung“ auslassen, bekommen Sie den Bogen postwendend zurück. Der Folgebogen wird dann die nächsten Male benötigt. Kritisch bemerkt: Er ist unübersichtlich, man macht viel zu leicht Fehler und er verbessert die Versorgung der Diabetiker keineswegs.

(Beifall)

Da war der Strukturvertrag aus Sachsen doch um Klassen besser!

(Beifall)

Aber es scheint ja bei uns nicht um eine gute Versorgung zu gehen, sondern eher um den Risikostrukturausgleich der Kassen, die ab 2007, wenn der Morbiditätsindex eingeführt wird, vielleicht gar nicht mehr so sehr an den DMPs interessiert sind. Aber auch Krankenkassen haben über den Dokumentationsaufwand geklagt. Ob sich dies alles rechnet, bleibt abzuwarten; denn wenn die AOK Mecklenburg-Vorpommern an andere Kassen zu zahlen hat, frage ich mich, ob der Sinn erfüllt ist.

Rechnet man die Arbeit unserer Arzthelferinnen zu denen des Arztes oder der Ärztin hinzu, liegt der Anteil der Dokumentation – vor allen Dingen in den hausärztlichen Praxen – bei 70 Prozent. Gott sei Dank gibt es unsere Arzthelferinnen, sodass sich die Dokumentationszeit des einzelnen Arztes auf immerhin noch 40 Prozent reduziert. Um der Patientenversorgung nachzukommen, werden viele dieser Tätigkeiten außerhalb der normalen Arbeitszeit erledigt.

Was ist unser Ziel? Wir wollen erstens ein Bewusstsein schaffen, dass mit der Bürokratie, die nicht patientenorientiert ist, Schluss sein muss.

(Beifall)

Wir akzeptieren, dass zur Führung von Krankenhäusern und Praxen bestimmte Kontrollsysteme bestehen müssen. Wir fordern jedoch, Rechtsgrundlagen und technische Lösungen zu schaffen, die eine Mehrfachdokumentation überflüssig machen.

(Beifall)

Bei der Einführung neuer Dokumentationen muss dringend kontrolliert werden, ob ältere Dokumentationen dadurch entfallen können. Bundes- und Landesebenen müssen besser miteinander vernetzt werden, beispielsweise DMP und Krebsregistergesetze.

Wir möchten von Ihnen den Auftrag erhalten, dass bis zum 108. Deutschen Ärztetag in Berlin die Arbeitsgruppe mit allen Partnern im Gesundheitswesen zusammen eine Reduktion der Bürokratie anstoßen soll.

Für uns alle ist wichtig, die Ressource Arzt freizusetzen für seine ursprüngliche Arbeit, nämlich die Patientenversorgung. Qualitätssicherung muss sein, aber nur insofern, dass sie für die Patientenversorgung sinnvoll ist. Dokumentationen müssen vernetzt werden, soweit der Datenschutz dies zulässt, wobei man manche Datenschutzbestimmungen noch einmal überdenken sollte.

Ich weiß, dass dies alles ein dickes Brett ist, aber für unsere jungen Kolleginnen und Kollegen und für unsere eigene Arbeitszufriedenheit sollten wir gemeinsam anfangen, dieses Brett zu bohren. Jeder von Ihnen ist aufgefordert, mitzumachen. Es ist nicht nur das Problem Ihres Nachbarn, sondern es ist unser ureigenes Problem. Ich denke, hier sollte die Ärzteschaft die Führung übernehmen, nicht die Verwaltung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, liebe Frau Auerswald, für diesen wunderschön illustrierten und klaren Vortrag, der uns allen aus der Seele gesprochen hat.

Es liegen zu diesem Themenkomplex insgesamt 7 Anträge vor. Ich glaube, meine lieben Vorstandskollegen haben nichts dagegen, wenn ich auch auf den Rat von dritter Seite hin empfehle, dem Antrag VI-1 des Vorstandes im ersten Absatz etwas hinzuzufügen. Wenn wir alle anderen auffordern, sich dieses Themas anzunehmen, dürfen wir uns selber nicht ausschließen. Auch die Ärztekammern machen das eine oder andere zu bürokratisch, was vielleicht zu überdenken wäre. Im ersten Absatz sollte der letzte Satz lauten:

Auch wir als Ärztekammern schließen uns nicht aus.

Wenn meine Vorstandskollegen dagegen sind, das mit aufzunehmen, können wir darüber diskutieren. Anderenfalls meine ich, wir können das freiwillig hinzufügen. Sonst wird man uns vorwerfen, wir würden den Splitter im Auge des anderen sehen, aber nicht den Balken im eigenen Auge. Das wollen wir uns nicht nachsagen lassen.

(Vereinzelt Beifall)

Die erste Wortmeldung kommt von Herrn Kollegen Josten aus Nordrhein. Bitte schön.

© 2004, Bundesärztekammer.