Henke, Referent:
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist bereits spät am Tag. Es handelt sich um ein schwieriges
Thema. Es gibt keine Bilder. Ich werde jetzt keine eingehende Erläuterung
des Antrags VI-2 vornehmen, sondern ich will auf den Anlass für diese
Beratung eingehen. Es hat ja – ich glaube, das war auf dem Ärztetag
2001 – einen Antrag gegeben, der uns aufgefordert hat, uns mit Haltungen
auseinander zu setzen, wie sie beispielsweise im so genannten Münchener
Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu finden sind. Der Münchener
Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch ist ein sehr renommierter juristischer
Kommentar. Dort findet man in der Kommentierung zu § 823 – Schadensersatzpflicht
– Ausführungen zu den möglichen Schadensersatzansprüchen eines Kindes,
das mit einer Behinderung zur Welt gekommen ist. Dort findet sich
von Herrn Wagner, dem Autor, der Satz:
In ethischer Hinsicht sollte man beherzigen, dass
es menschliches Leben gibt, das nicht lebenswert ist.
Es gab auf dem 104. Deutschen Ärztetag in Ludwigshafen
den Wunsch, uns mit solchen Auffassungen auseinander zu setzen und
dazu einen Tagesordnungspunkt auf einem späteren Ärztetag vorzubereiten.
Wir haben im vergangenen Jahr das Europäische Jahr
der Menschen mit Behinderungen begangen. In vielen Veranstaltungen
haben auch viele Ärztinnen und Ärzte versucht, ein verändertes Bild
von Menschen mit Behinderungen zu vermitteln. Das war eine neue Möglichkeit,
auf die besondere Lebenssituation behinderter Menschen hinzuweisen
und die Impulse und Ansätze in der Behindertenarbeit zu verstärken.
Wir sind uns wahrscheinlich einig, dass die Gesellschaft
in den vergangenen Jahrzehnten für Menschen mit einer oder mehrfacher
Behinderung viel bewegt hat. Ich denke an die Verfassungsänderung
mit dem Diskriminierungsverbot 1994, ich denke an Gesetze wie das
Sozialgesetzbuch IX und das Behindertengleichstellungsgesetz, die
parteiübergreifend beschlossen wurden. Ich denke an die finanziellen
Ansprüche in der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz,
die die Finanzkraft der Kommunen so sehr fordern, dass der Ruf nach
einem Leistungsgesetz auf Bundesebene immer lauter wird. Ich denke
an personelle Hilfen wie in den vielen Werkstätten für behinderte
Menschen; ich denke an bauliche Investitionen für die gesundheitliche,
die berufliche und die soziale Rehabilitation.
Die Entwicklung in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg
ist sicher rascher verlaufen als in langen historischen Zeiträumen
zuvor, von der Behindertenfeindlichkeit der nationalsozialistischen
Diktatur ganz zu schweigen. Das bedeutet nicht, dass der Ausbau auch
in dieser Hinsicht nicht noch Etliches erfordern würde. Anpassungen
an die Entwicklung sind immer wieder nötig.
Bereits im 19. Jahrhundert hat man Anstalten für
Behinderte gegründet, entweder auf staatliche oder auf kirchliche
Initiative hin. Man hat die damit gestellte Aufgabe zunächst so zu
lösen versucht, dass man alle diejenigen, die eine bestimmte Form
der Behinderung hatten, in eigens für sie errichteten Anstalten zusammengefasst
hat. Diese räumliche und organisatorische Zusammenfassung hat zwar
eine fachspezifische Hilfe gewährt, wie sie unumgänglich geworden
ist, aber damit ist auch ein neues Problem entstanden, nämlich die
soziale Isolierung behinderter Menschen von der Gesellschaft. Ich
sage nicht, dass das bewusst beabsichtigt war. Aber man kam dadurch
auch bestimmten – mindestens heimlichen – Bedürfnissen und Wünschen
in der Gesellschaft entgegen. Die Gesellschaft hat nämlich gegen Mitmenschen,
die mit einem Leiden behaftet sind, oft ein gespanntes, ein ambivalentes,
nicht zu selten sogar abwehrendes und ablehnendes Verhalten ausgebildet.
Ich glaube nicht, dass wir uns heute bereits von allen Anzeichen dafür
befreit haben.
In einigen Bereichen sind sogar Verschlechterungen
festzustellen. Die Einstellung, dass die Geburt eines Kindes mit körperlichen
Fehlbildungen ein Schadensfall wäre, hat auf fatale Weise einen Weg
in das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. Juni 2002 gefunden. Dieses
Urteil spricht von einem „Unterhaltsschaden der Eltern bei unterbliebenem
Schwangerschaftsabbruch“. Auf problematische Weise wird hier deutlich,
dass die Selektion von Menschen aufgrund ihrer Behinderung in unserer
Gesellschaft bereits Realität ist. Dieses BGH-Urteil lässt viele daran
zweifeln, dass der Wertekonsens des Grundgesetzes tatsächlich ein
Wertekonsens sei. Diese und andere Entscheidungen dokumentieren ein
sehr problematisches Verständnis von Menschen mit Behinderungen als
Schadensfall.
Zwar heben Juristen oder Rechtspolitiker hervor,
dass nicht das behinderte Kind als solches ein Schaden sei, sondern
lediglich der Vermögensschaden für Eltern, der durch die Kosten des
Kindes bzw. seiner Behinderung verursacht wird. Damit aber wird die
Wirkung dieses Urteils nicht gemindert. Wo es um die Alternative des
Geborenwerdens oder Nichtgeborenwerdens, um Leben oder Nichtleben
geht, werden Menschen mit Behinderungen zu Ursachen von Kosten und
Vermögensschäden entwertet. Das Beispiel des Münchener Kommentars
zum BGB habe ich eingangs genannt.
Natürlich soll das Arzthaftungsrecht die Qualität
ärztlicher Dienstleistung sicherstellen und Kunstfehler ahnden. Insofern
muss der Arzt, wenn er sich zu einer vorgeburtlichen Diagnostik bereit
findet, seine Diagnosen gewissenhaft vornehmen und die Eltern über
die tatsächlich erhobenen Befunde informieren. Um das Ergebnis einer
pränatalen Diagnostik sinnvoll einordnen und in seinen Konsequenzen
verstehen zu können, bedarf es aber neben einer ausführlichen medizinischen
sicher auch einer Wertüberlegungen vermittelnden Beratung durch Fachleute
vor und nach dem eigentlichen Test.
Ich persönlich glaube, dass gegenüber der zuvor
genannten Pränataldiagnostik die Präimplantationsdiagnostik,
eine neue Anwendungsform der genetischen
Diagnostik – das haben wir in früheren Jahren diskutiert –, von anderer
Qualität ist. Sie ist von vornherein auf Aussonderung von erblich
belasteten Embryonen ausgerichtet. Schon das erblich bedingte Risiko
einer späteren schwerwiegenden Erkrankung oder dauernden Schädigung
gilt als „Behinderung“, die die Tötung des Embryos in der Petrischale
zur Folge hat. Das ist nach meiner Auffassung auch aus ethischer Sicht
so problematisch, dass die Präimplantationsdiagnostik
auch weiterhin verboten bleiben sollte.
(Vereinzelt
Beifall)
Wir brauchen ein Mehr an Sensibilität für die Würde
des Menschen – in allen Lebensphasen, für die Grundrechte auf Leben
und Unversehrtheit, für die Achtung der Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte
behinderter Menschen. Es geht darum, unsere ethische Kompetenz für
ein lebensförderndes Zusammenleben der Menschen
mit und ohne Behinderung gezielt fortzuentwickeln.
Das in den letzten Jahren vor allem aus skandinavischen
Erfahrungen übernommene Prinzip der „Normalisierung“ ist auch für
uns Ärztinnen und Ärzte eine wichtige Leitidee für den Umgang mit
behinderten Menschen. Wie schwierig der Begriff „normal“ auch ist:
Das Prinzip will erreichen, dass Menschen mit einer körperlichen,
geistigen oder psychischen Beeinträchtigung ihr Leben so uneingeschränkt
wie möglich sollen führen können. Das ist die Leitvorstellung für
alle Systeme der Hilfe und für alle Zielperspektiven.
„Ein Leben so normal wie möglich“ – das hört sich
so selbstverständlich an,
aber ist es wirklich so selbstverständlich? „Ein Leben so normal wie
möglich“ – das ist ein Kernpunkt vieler Reformen sowohl der großen
stationären Einrichtungen als auch ihrer Ergänzung durch kleinere
Institutionen. Das Normalisierungsprinzip ist ein Mittel, das dem
geistig Behinderten erlaubt, Errungenschaften und Bedingungen des
täglichen Lebens weitgehend zu nutzen. Dies bezieht sich auf sehr
viele Dinge. Es geht beispielsweise um einen normalen Tages-, Wochen-
sowie Jahresrhythmus, um die Orientierung am Lebenszyklus, um die
Respektierung von persönlichen Bedürfnissen, es geht um normalen wirtschaftlichen
Lebensstandard usw. Im täglichen Leben ist es ganz erstaunlich, was
man trotz Behinderungen „normal“ tun kann und was Behinderte in ihrem
Leben erreicht haben.
Natürlich bilden Menschen mit Behinderungen keine
homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich wie alle Menschen nach Alter,
Geschlecht, Religion und Lebenslagen. Sie unterscheiden sich auch
hinsichtlich der Ursache, des Grades und der Dauer von Behinderungen.
Menschen mit Behinderungen leben in Familien oder in Heimen, als Einzelne
oder in Wohngruppen. Ihre Behinderungen können körperlicher, geistiger
oder seelischer Natur sein, erblich bedingt oder durch äußere Einflüsse
in der Geburts- bzw. Frühphase des Lebens verursacht sein, durch Unfall
oder chronische Krankheit im späteren Leben erworben. Ich glaube,
wichtig ist, dass Menschen mit Behinderungen mit allen anderen die
Höhen und Tiefen menschlichen Schicksals teilen und dass sie die unterschiedlichsten
Lebenserfahrungen machen.
Trotz aller Unterschiedlichkeit, mit der behinderte
Menschen ihr Leben führen, werden sie vielfach immer noch unter einem
einzigen Blickwinkel wahrgenommen: Menschen mit Behinderungen sind
Menschen mit Defiziten und weichen zum Negativen vom gewohnten Menschsein
ab. Ihnen fehlen eben bestimmte körperliche Funktionen, geistige oder
seelische Fähigkeiten. Sie sind – so besehen – ungewohnt und ungewöhnlich.
In einer Welt, die nicht behinderte Menschen entsprechend ihren Erfordernissen
ausgestaltet haben, können Menschen mit Behinderungen eine gleichartige
Lebensführung nur schwer, oftmals unmöglich verwirklichen.
Stellen Sie sich für einen Moment vor, dieser Raum
hier sei so eingerichtet, dass er von Menschen benutzt wird, deren
Beine 30 cm kurz sind. Stellen Sie sich vor, wie diese Menschen mit
einer solchen Umgebung wie hier zurechtkämen. Ich glaube, es wäre
dann so, dass jeder, der hier sitzt und unbehindert ist, in einem
solchen Raum behindert wäre. Das heißt, die Frage, was normal ist,
ist eine Frage, die in hohem Maße von Mehrheiten bestimmt wird, von
der Frage: Zu welcher dieser Gruppen gehört man?
Natürlich gibt es viele Hilfen zur Förderung und
zur Erhaltung der Lebensqualität. Es gibt medizinische, heilpädagogische
oder betreuende Maßnahmen. Es gibt technische Hilfsmittel, integrative
Kindergärten, Förderzentren oder Förderschulen, Werkstätten für Menschen
mit Behinderungen. All dies ist unverzichtbar.
Aber diese Hilfen und Möglichkeiten dürfen nicht
dazu führen, im behinderten Menschen nur noch einen Menschen mit Defekten
und Defiziten zu sehen. Sonst gewinnt die für die Mehrheit gewohnte
Weise des Menschseins unmerklich die Bedeutung einer Norm für wahrhaft
menschliches Leben, nach der Melodie: So muss ein Mensch ausgestattet
sein, sonst ist er kein „vollgültiger“, kein „ganzer“ Mensch. Ist
er aber kein ganzer Mensch, dann fehlen seinem Leben entscheidende
Qualitäten, sodass dieses Leben und dieser Mensch faktisch minderwertig
erscheinen. So werden das Leben und die Menschen mit Behinderungen
nach und nach automatisch, auch ungewollt, abgewertet.
Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass die
Behinderung eines Menschen nicht einfach der Ausfall oder die Schädigung
bestimmter Funktionen als solche ist. Die Weltgesundheitsorganisation
unterscheidet seit 2001 zwischen körperlichen Schädigungen, Beeinträchtigungen
der geistigen, sozialen oder instrumentellen Fähigkeiten sowie Benachteiligungen
bei der Teilhabe am Alltagsleben einer Gesellschaft. Die Behinderung
eines Menschen resultiert aus einem komplexen Zusammenspiel vieler
innerer und äußerer Faktoren. Erst seit Januar 2001 hat die Weltgesundheitsorganisation
in ihre Beurteilung auch die Fähigkeiten aufgenommen, die Menschen
mit Behinderungen haben. Sie beschreibt den Menschen als ein selbstständig
handelndes Subjekt. Sie betrachtet den Menschen als Subjekt in Gesellschaft
und Umwelt und als ein biologisches Wesen mit Fähigkeiten. Das hat
dazu geführt, dass die International Classification
of Impairments, Disabilities
and Handicaps (ICIDH) umbenannt wurde in International Classification
of Functioning, Disability
and Health (ICFDH), sodass die Fähigkeiten
im Vordergrund stehen. Ich halte das für einen wichtigen Punkt, der
einfach eine andere Art des Umgangs mit Behinderungen deutlich macht.
Ich glaube, das Bild, das sich nicht behinderte
Menschen von einem Leben mit Behinderungen machen, stimmt nicht immer
mit der Wirklichkeit und der Eigenwahrnehmung behinderter Menschen
überein. Behinderungen werden oft nur mit Leiden, Schmerzen und Unglück
identifiziert, eben nur mit negativen Elementen. Die Lebensfreude,
Glück und Dankbarkeit, das Positive und Schöne, das im Leben von behinderten
Menschen genauso seinen Platz hat, werden wenig wahrgenommen. Dabei
verstehen sich Menschen mit Behinderungen eben nicht als Menschen
minderen Wertes, sondern sie sehen ihr Anderssein als ungewohnte Verschiedenheit
des gleichen Menschseins an. Sie entdecken ihre Fähigkeiten, Erfahrungen
und Kompetenzen als Chancen, ihr Leben sinnvoll zu meistern. Deswegen
beharren sie darauf, dass man dieses Selbstverständnis respektiert.
Ich glaube, dass sich nicht behinderte Menschen
der Aufgabe stellen müssen, diese Lebensweise der Menschen mit Behinderungen
zu verstehen und als gleichberechtigt wertzuschätzen.
Das heißt nicht, dass man das Leid behinderter
Menschen leugnet, verharmlost oder sogar verherrlicht. Das wäre zynisch.
Der Verlust von Unversehrtheit ist schmerzvoll. Erfahrungen von Ablehnung
und Ausgrenzung bereiten Leid.
Um der Würde behinderter Menschen willen aber darf
man ihr Lebensschicksal nicht nur auf ein Leiden reduzieren. Deshalb
gilt es, die Lebensfreude und die Lebensleistung nicht außer Acht
zu lassen, nur weil sich beides in einer ungewohnten Weise äußern
mag. Für jeden Menschen mit und ohne Behinderung gilt, dass im Lebensschicksal,
in der Biografie eben Licht und Schatten, Freude und Trauer, Glück
und Schmerz verwoben sind. Leben kann dadurch reicher werden, auch
in schmerzhaften Grenzsituationen zu bestehen und in ihnen Zukunftsperspektiven
zu entwickeln.
Ich glaube, dass insbesondere die jüngeren Entwicklungen
in der Gentechnik eine längst überwunden geglaubte Illusion wiederbeleben:
den Traum vom perfekten Menschen und einer leidfreien Gesellschaft.
Gerade wir Ärztinnen und Ärzte müssen uns auch mit diesem Traum auseinander
setzen.
Dieser Traum spiegelt etwas vor, was kein Mensch
jemals verwirklichen und keine menschliche Gesellschaft jemals garantieren
kann. Dieser Traum vom perfekten Menschen, von einer leidfreien Gesellschaft
produziert nur selbst immer neues Leid, missachtet und wertet die
Würde aller Menschen ab, die seiner Vorstellung nicht entsprechen.
Das trifft dann nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch
Alte, sozial Benachteiligte, gesellschaftlich nicht oder nicht mehr
„voll Funktionsfähige“. Der Traum vom perfekten Menschen zerstört
den solidarischen Zusammenhalt einer humanen Gesellschaft und er macht
es zu einer privaten Entscheidung der Frau bzw. der Eltern, ob sie
die Schwangerschaft nach erfolgter Diagnose erblicher Belastungen
fortführen oder abbrechen lassen.
Mit diesem Entscheidungsspielraum verbinden immer
mehr Menschen die Erwartung, dass die Frau bzw. die Eltern für die
Folgen ihrer individuellen Entscheidung auch individuell geradestehen,
also ohne die Unterstützung der Solidargemeinschaft und ohne das Netz
sozialer Sicherheiten.
Die Würde eines jeden Menschen ist unter allen
Umständen unantastbar. Genetische Analysen belasten schon heute lebende
Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen in einem hohen Maße.
Sie können künftig auch dazu führen, einen behinderten Menschen nur
in seiner biologischen Verfassung zu sehen. Ein solches Menschenbild
bürdet den Eltern einen Rechtfertigungsdruck auf, der nicht annehmbar
ist.
Das Schicksal behinderter Menschen und ihre Aufnahme
durch uns trifft uns sicher an einer verletzlichen Stelle auch unserer
eigenen Überzeugungen. Zählt am Ende nur der, der in unseren Augen
lebenstüchtig und gesund ist, der sich durchzusetzen vermag? Wäre
es nicht schlimm, wenn gerade wir Ärztinnen und Ärzte keinen Sinn
aufbringen könnten für den, wie Kardinal Lehmann es formuliert hat,
glimmenden Docht und das geknickte Rohr?
Es gibt eine Belastung, der wir nicht immer gewachsen
sind. Viele Anstrengungen für Menschen, die in ihrem Leben beeinträchtigt
sind, scheinen sich nicht zu lohnen. Da kann es sein, dass keine Heilung
möglich ist. In anderer Form kennen wir das auch von den Bemühungen
um Obdachlose und Suchtabhängige. Rückfälle ersticken die Hoffnung
oder machen Bemühungen zunichte. Manches scheint vergebens zu sein.
Solidarität und Partnerschaft mit behinderten Menschen verlangen von
den Helfern eine große Bereitschaft zum endlosen Helfen, zum Warten
und zur Vergeblichkeit. Oft haben wir es mit dem glatten Gegenteil
von „Erfolg“ und „Nutzen“ zu tun. Oft muss man täglich und gegen alle
Kalkulationen, auch gegen alle materiellen Kalkulationen Hoffnung
setzen.
Ich weiß nicht, aus welchen Quellen in dieser Beziehung
der Einzelne schöpft. Braucht man dazu den Glauben, dass Gott auch
gerade diesen Menschen unendlich liebt? Gibt es viele andere Quellen,
aus denen man die Kraft schöpfen kann, diesen Dienst des Samariters
fortzusetzen?
Die Frage ist, was wir beisteuern, um die Belastungen
eines beschränkten Lebens zwar nicht aufheben, aber im Ganzen mindern
und vielfach erträglicher machen zu können. Ist unsere Gesellschaft
finanziell vorbereitet und personell dazu in der Lage und auch willens,
die notwendigen Anforderungen zu erfüllen? Der behinderte Mensch,
jeder behinderte Mensch hat von Anfang seiner Existenz an bei allen
Begrenzungen seine eigene Würde, eine Würde, die nicht Unbehinderte
ihm verleihen oder zuerkennen können, sondern die er als Mensch hat,
nicht weniger als jeder Unbehinderte. Schritte zur Realisierung dieser
Würde, zur Eröffnung von Teilhabechancen, zur Bewertung behinderten
Lebens als eines ebenfalls normalen Lebens in Abweichung von der Mehrheit
der Gesellschaft versucht unser Antrag zu beschreiben und damit einen
Weg für konkrete Schritte aufzuzeigen, die gegangen werden können,
um die Situation zu verbessern.
In der Anerkennung der Würde der Schwächeren, in
der Anerkennung der Würde von Menschen mit Behinderung entscheiden
wir alle über unsere eigene Würde.
Vielen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank, Rudolf Henke, für diese klare Darstellung, auch für die
klare Position, die damit bezogen wird, die sich im Antrag des Vorstandes
widerspiegelt.
Wir haben uns erlaubt, zu diesem Tagesordnungspunkt,
obwohl es nicht so ganz eng zu den Referaten gehört, auch jene Anträge
zu addieren, die in diesen ethischen Rahmen passen.
Es geht um den Vorstandsantrag 2 mit den Änderungsanträgen
2 a und 2 b, ferner um die Anträge 9, 67, 10 und 89.
Der Erste auf der Rednerliste ist Herr Montgomery.
Bitte schön. |