ENTSCHLIESSUNGSANTRAG
I - 01
ÄNDERUNGSANTRAG ZUM ENTSCHLIESSUNGSANTRAG I - 01a
ÄNDERUNGSANTRAG ZUM ENTSCHLIESSUNGSANTRAG I - 01b
Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache
I-01) unter Berücksichtigung der Anträge von Dr. Bicker
(Drucksache I-01a) und Frau Dr. Heinmüller (Drucksache I-01b)
fasst der 107. Deutsche Ärztetag mit großer Mehrheit
folgende Entschließung:
Die Reformen des Gesundheitswesens der letzten Jahre drohen, das
Gesicht der Medizin drastisch zu verändern: Der einst offene
Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung geht verloren.
Patientinnen und Patienten sollen nicht mehr die Behandlung bekommen,
die sie individuell medizinisch brauchen, sondern das, was ihnen
zugeteilt wird. Mit dem Verlust der Individualität und Chancengleichheit
im Zugang zu einem hochwertigen Gesundheitssystem gehen auch Menschlichkeit
und Gerechtigkeit verloren.
Folgen einer verfehlten Gesundheitspolitik
Das Vertrauen unserer Bevölkerung auf die in den letzten Jahrzehnten
gewachsene soziale Daseinsfürsorge wird durch schlecht gemachte
Reformen nachhaltig erschüttert. Die Praxisgebühr, die
Chronikerregelung und die Zuzahlungen bei Arznei- und Hilfsmitteln
kommen für die einkommensschwächsten Patientinnen und
Patienten einer Zugangssperre zum Gesundheitswesen gleich. Hinter
den Schlagworten „Effizienzverbesserung“ und „Wettbewerb“
verbergen sich Leistungsabbau und Zuteilungsmedizin:
- Der populistisch angepriesene Wettbewerb der Krankenkassen wird
dazu führen, dass aus Versicherten Risiken werden. Aus Patienten
werden Schadensfälle, die man begrenzt oder besser noch loswird.
Individualität, Menschlichkeit und Qualität weichen dem
Gesetz der Kostenminimierung, dem engstirnigen politischen Dogma
der Gesundheitspolitik.
- Für die von politischer Seite gewollten bürokratischen
Mindestmengenregelungen bei stationären Leistungen fehlen solide
wissenschaftliche Grundlagen. Ohne diese Grundlagen ist nicht gewährleistet,
dass Mindestmengenvereinbarungen zur „best practice“
führen, sondern sie können so nur eine Abnahme der Versorgungsdichte
bewirken. Die Folge heißt „Masse statt Klasse“
- und dies an zu wenigen Standorten.
- Disease Management Programme sollen dem Patienten bessere Behandlung
suggerieren. Tatsächlich dienen sie den Krankenkassen dazu,
an das Geld des Risikostrukturausgleiches zu kommen. Unter dem Deckmantel
einer angeblich besseren Versorgung versteckt sich das Geschacher
der Krankenkassen ums Geld. Gute Behandlungsprogramme bleiben auf
der Strecke.
- Das als „aufwandsgerechte Finanzierung“ von Krankenhausleistungen
versprochene DRG-Vergütungssystem droht zu scheitern. Wird
das fehlerhafte Fallpauschalensystem schon ab 2005 ohne systematische
Korrektur budgetwirksam eingesetzt, ist die flächendeckende
Krankenhausversorgung bedroht und eine Rationierung von Leistungen
für die Patienten die Folge.
- Die Krankenkassen versuchen durch selektive Verträge (Einkaufsmodelle),
Ärzte zu Bütteln ihrer Budgetplanung zu machen. Dieser
neue Typus „Vertrauensarzt“ soll die Anweisungen der
Krankenkassen vollstrecken.
Während Politiker vollmundig auf Distanz zur Einführung
von Altersgrenzen für teure medizinische Eingriffe gehen, wird
die Rationierung durch die Hintertür eingeführt: Die Ausdünnung
der Versorgungslandschaft und die Einengung des Versorgungsspektrums
sind Instrumente einer statistischen und strukturellen Rationierung.
Aus der Garantie des Sozialgesetzbuches auf eine angemessene ärztliche
Behandlung für jeden Einzelnen wird die Zuteilung einer durchschnittlichen
Behandlung, einschließlich Wartelisten und faktischen Behandlungsausschlüssen.
Veränderung menschlich gestalten
Die deutsche Ärzteschaft ignoriert keineswegs die großen
Probleme und Aufgaben, die vor uns liegen. Demografische und medizinische
Entwicklungen alleine fordern gravierende Änderungen der solidarisch
finanzierten Gesundheitsversorgung. Diese muss sich streng an dem
tatsächlichen medizinischen Bedarf ausrichten und der Würde
des einzelnen Menschen und dem Schutz seiner Gesundheit Rechnung
tragen. Hinter jedem medizinischen „Behandlungsfall“
steht ein Einzelschicksal.
Die höchste Sorge der Gesellschaft muss dabei den besonders
schutzbedürftigen Patienten gelten. Denn schwer kranke Menschen
und jene, die durch Alter oder psychische Veränderung keine
Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen können,
haben auch in der politischen Auseinandersetzung keine Stimme.
Maßstab für Qualität und Menschlichkeit des Systems
bleibt die Behandlung des einzelnen Patienten. Daran und nicht am
statistischen Durchschnitt muss sich die Entwicklung des Gesundheitswesens
messen lassen. Die Ärzteschaft weist dafür Wege auf:
- Ärztlich entwickelte evidenzbasierte Leitlinien und Therapieempfehlungen
weisen den Korridor für individuelle Versorgungsentscheidungen.
- Qualitätsmanagement und Kompetenzförderung bringen
eine stetige Entwicklung und Verbesserung der ärztlichen Behandlung,
hierbei ist Motivation erfolgversprechender als Zwang.
- Zielgruppenspezifische Prävention in der Arztpraxis, im
Krankenhaus und den übrigen Bereichen stärkt Eigenverantwortung
und Gesundheitskompetenz der Patienten, die zusätzlich durch
qualitätsgesicherte Patienteninformationssysteme unterstützt
werden.
- In enger Zusammenarbeit auch mit den anderen Heil- und Fachberufen
im Gesundheitswesen schafft die Ärzteschaft sektorübergreifende
Versorgungsstrukturen, die den Interessen der Patienten -
nicht der Krankenkassen - dienen.
- Besonders wenn Ressourcen knapp sind, braucht Gesundheitspolitik
eine solide wissenschaftliche Grundlage. Der Deutsche Ärztetag
bekräftigt den Willen der Ärzteschaft, sich am Aufbau
einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung in Deutschland zu
beteiligen.
Auch Politik muss handeln
Die Möglichkeiten der Ärzteschaft, Individualität
und Chancengleichheit in der Patientenversorgung zu realisieren,
sind aber begrenzt, umso mehr als die zurückliegenden Reformen
die Voraussetzungen hierfür sogar verschlechtert haben. Deshalb
fordert der 107. Deutsche Ärztetag:
- Die solidarisch getragene medizinische Versorgung muss auch in
Zukunft für jedermann jederzeit erreichbar sein, dem aktuellen
medizinischen Standard entsprechen und mit ausreichenden Ressourcen
flächendeckend, auch für den Notfall, ausgestattet sein.
- Versorgungsstrukturen müssen primär am medizinischen
Bedarf des Patienten ausgerichtet sein und dürfen nicht von
ökonomischen Einsparzielen dominiert werden. Dies gilt insbesondere
für die integrierte Versorgung.
- Mindestmengenvereinbarungen und Disease Management Programme
dürfen nur dann eingeführt oder fortgesetzt werden, wenn
sie wissenschaftlich nachweisbar die Versorgungsqualität verbessern.
Eine auch von den Krankenkassen strikt unabhängige Begleitforschung
ist dazu notwendig.
- Chancengleichheit braucht Datenschutz. Nur wenn Diagnosen und
Behandlungsdaten sicher vor dem Zugriff der Krankenkassen bewahrt
werden, kann eine Risikoselektion zu Lasten schwerkranker Patienten
verhindert werden. Die fundamentale Verletzung des informationellen
Selbstbestimmungsrechtes durch das GMG muss beendet werden.
- Dokumentation und Bürokratie müssen auf das Notwendige
begrenzt werden, damit Ärzte wieder mehr Zeit für die
Patienten haben.
- Die Dominanz der Ökonomie im Gesundheitswesen ohne Rücksicht
auf die Versorgungsqualität muss beendet werden. Nicht kurzfristige
Einsparungen müssen zielleitend sein, sondern Qualität
und Menschlichkeit. Eine Investition, die sich auszahlt.
- Der 107. Deutsche Ärztetag fordert den Gesetzgeber auf,
umgehend eine Härtefallregelung im Rahmen des GMG zu verabschieden.
Damit soll eine Härtefallregelung für das jährliche
Bruttoeinkommen, unterhalb der keine Zuzahlungen, Praxisgebühr
etc. zu leisten ist, festgelegt werden. Eine solche Regelung soll
die Situation von Obdachlosen, Suchtkranken, Pflegeheimbewohnern
mit kleinem Taschengeld und anderen Armen verbessern.
Die Menschlichkeit in der Medizin kann durch Politik alleine nicht
geschaffen werden. Eine schlechte Politik alleine kann aber die
Menschlichkeit in der Medizin zerstören.
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