ENTSCHLIESSUNGSANTRAG
I - 02
Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache
I-02) fasst der 107. Deutsche Ärztetag mit großer Mehrheit
folgende Entschließung:
Mit Empörung beobachtet die Deutsche Ärzteschaft, dass
sie gemeinsam mit anderen Gesundheitsberufen mit zunehmender Gewohnheit
zum Sündenbock für die aus einer verfehlten Reformpolitik
resultierenden Missstände abgestempelt werden soll.
Ärztinnen und Ärzte werden von Politik und Kostenträgern
gern zu Unrecht als fortbildungsscheue, gegenüber qualitätsverbessernden
Ansätzen verschlossene, mit den begrenzten Ressourcen der gesetzlichen
Krankenversicherung verschwenderisch umgehende und die Patienten
mit einer Vielzahl unnötiger Maßnahmen gefährdende
Egoisten diffamiert. Es wird unrichtigerweise unterstellt, dass
Über-, Unter- und Fehlversorgung die Krankenversorgung in Deutschland
prägen. Damit soll die Verantwortung für die wegen nicht
zu Ende gedachter Reformregelungen entstehenden Beeinträchtigungen
der Patientenversorgung auf die Leistungsträger abgeschoben
werden. Die Politik hat die Herausforderung des demographisch bedingt
stark wachsenden Versorgungsbedarfs vor dem Hintergrund leerer Gesundheitskassen
in keinem Ansatz gelöst. Weil sich der längst zum Reformprogramm
gewordene systematische Leistungsabbau der gesetzlichen Krankenversicherung
als Wahlprogramm nicht eignet, wird als vermeintliche Wurzel allen
Übels die ärztlich verschuldete Fehlversorgung bezeichnet.
Diese dient gleichzeitig zur Rechtfertigung der immer stärkeren
Reglementierung ärztlichen Handelns durch Kostenträger
und nichtärztliche Institutionen. Das den Grundstein für
den Behandlungserfolg bildende Vertrauen zwischen Patienten und
ihren Ärzten soll systematisch erschüttert werden. So
kann die als Bedrohung der ökonomisch diktierten Einsparziele
gesehene Freiheit der ärztlichen Behandlungssteuerung durch
das „Case-Management“ der Krankenkassen und deren Behandlungsprogramme
ersetzt werden, die das kostentechnisch Zulässige zum Goldstandard
erklären. Abweichungen vom ökonomisch erlaubten Minimalstandard
sollen bald nur noch mit ausführlicher Begründung zulässig
sein. Ärztinnen und Ärzte sehen sich durch zunehmend systematisierte
Abrechnungs-, Fehlbelegungs-, Verlegungs- und Entlassungsprüfungen
einer immer übermächtiger werdenden Rechtfertigungsbürokratie
gegenüber. Der hierdurch verursachte Aufwand hält Ärzte
von ihren Patienten fern und darf durch die im Krankenhaus jetzt
noch hinzukommenden Stichprobenprüfungen nicht noch zusätzlich
gesteigert werden!
Gut in das politische Konzept der Diskreditierung des ärztlichen
Berufes passt die permanente Unterstellung des Abrechnungsmissbrauchs
in allen Bereichen. Bewusst ausgeblendet wird dabei, dass die Politik,
z. B. in der GOÄ, Ärzte an ein völlig veraltetes
Gebührenverzeichnis verpflichtend bindet, das Fehlinterpretationen
bei der Abrechnung der modernen Medizin geradezu vorprogrammiert.
Die durchgreifende Modernisierung und Anpassung der mittlerweile
25 Jahre alten Amtlichen Gebührenordnung für Ärzte
(GOÄ) an den aktuellen Leistungsstand wird vom verantwortlichen
Ministerium Jahr für Jahr verweigert.
Den letzten Höhepunkt hat die schon fortgeschrittene Abkehr
von der vormals Patienten, Leistungs- und Kostenträger verbindenden
Vertrauensbasis hin zu einer kontrollbesessenen, den freien ärztlichen
Beruf entmündigenden und die alle Beteiligten systematisch
spaltenden „Misstrauenskultur“ im sogenannten „Schwarzbuch
zur Gesundheitsreform“ gefunden. Die erst zuletzt auf Einzelfälle
reduzierten Vorwürfe der „kriminellen Energie“
und des „fehlenden Rechtsbewusstseins“ weist der Deutsche
Ärztetag entschieden zurück. Ärztinnen und Ärzte
sehen sich bei höchstem persönlichen Engagement durch
oft unzureichende Arbeitsbedingungen mit einer steigenden beruflichen
Frustration konfrontiert. Vor diesem Hintergrund werden unberechtigte
Pauschalverurteilungen der Ärzteschaft die bereits zu hohe
Zahl der sich beruflich umorientierenden Medizinstudentinnen und
-studenten sowie Ärztinnen und Ärzte noch weiter steigern.
Der Deutsche Ärztetag verknüpft mit der inzwischen wenigstens
erfolgten Rücknahme des Schwarzbuches die Forderung und Hoffnung,
dass die Akteure der Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung alles
daran setzen, entstandenes Misstrauen zu beseitigen und das für
eine erfolgreiche und wirtschaftliche Behandlung unverzichtbare
Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten, Gesundheitsfachberufen
und ihren Patienten zu stärken. Dies erfordert den Abbau überschießender
Reglementierung und Kontrollbürokratie, die Wahrung des Patientenrechts
auf den Schutz der persönlichen Daten, die weitere Harmonisierung
von Haftungs-, Leistungs- und Sozialrecht, die Schaffung eindeutiger
und dem aktuellen Stand der Medizin entsprechender Abrechnungssysteme
sowie die Abkehr vom Prinzip der vorbehaltlichen Unterstellung eines
Fehlverhaltens zum Prinzip der gegenseitigen Wertschätzung
eines arbeitsteiligen vertrauensvollen Miteinanders zum Wohle unserer
Patienten.
Misstrauen, übermäßige Kontrolle sowie staatlich-institutioneller
Dirigismus, der die Bedürfnisse des kranken Menschen in den
Hintergrund wirtschaftlicher Erwägungen drängt, sind nicht
die Kennzeichen einer humanen Gesellschaft. Die ausgabenorientierte
Schematisierung und Kontrolle von Diagnose und Therapie ist keine
Garantie für Qualität, sondern eine beschönigende
Rechtfertigung von Rationierung und Zuteilungsmedizin.
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