TOP III: Förderung der Versorgungsforschung durch die Bundesärztekammer

2. Tag: Mittwoch, 4. Mai 2005 Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Dr. h. c. Scriba, Referent:
Copyright el-zorro.de, 2005. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der außerordentliche Deutsche Ärztetag 2003 hat eine solide Beschreibung der Versorgungsstandards im deutschen Gesundheitswesen mit internationalem Vergleich gefordert. Mit dem 107. Deutschen Ärztetag in Bremen wurde der Wille bekundet, sich am Aufbau einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung in Deutschland zu beteiligen. Von diesen beiden Deutschen Ärztetagen hat Herr Windau auch schon gesprochen.

Die ersten konkreten Überlegungen zur Etablierung einer von der Bundesärztekammer getragenen Versorgungsforschung entstanden am Rande des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer. Im Juli 2003 trafen sich einige Experten, unter anderem die Herren Busse, Encke, Frau Kurth, Herr Häussler und Herr Schwartz. Drei Empfehlungen dieser Gruppe wurden in der Folgezeit wichtig: erstens die Empfehlung, dass die Schlüsseldeterminanten des Versorgungsgeschehens in den Mittelpunkt gestellt werden sollten; zweitens, dass die Arbeit in einer „joint commission“ gemeinsam mit der AWMF gestaltet werden; drittens sollte der Grundsatz herrschen: Ausschreibung von Projekten.

Auf dieser Basis hat die Bundesärztekammer eine Strukturskizze entwickelt, die die budgetneutrale Einberufung des Arbeitskreises „Versorgungsforschung“ zur Folge hatte. Ein Viertel der Mitglieder des Arbeitskreises wurden von der AWMF vorgeschlagen. Die Strukturskizze wurde im Plenum des Wissenschaftlichen Beirats und in der Versammlung der AWMF sowie erstmals orientierend im November 2003 im Vorstand der Bundesärztekammer beraten.

Nach gemeinsamer Bestätigung der Strukturskizze im Dezember 2003 durch die Vorstände von Bundesärztekammer und Wissenschaftlichem Beirat wurden die Mitglieder des Arbeitskreises „Versorgungsforschung“ im April 2004 durch den Vorstand der Bundesärztekammer offiziell benannt. Es sind folgende 16 Mitglieder: Herr Busse, Herr Gaebel, Herr Häussler, Herr Hoffmann, Herr Kochen, Herr Kunath, Frau Kurth, Herr Ohmann, Herr Pfaff, Herr Raspe, Herr Roeder, Herr Schölmerich, Herr Schwartz, Herr Selbmann, Frau Stoppe und Herr von Troschke. Ich denke, dass es sich um eine angemessene Repräsentanz der Scientific Community handelt. Es gibt sieben ständige Gäste, nämlich die Herren Encke, Fuchs, Hoppe, Müller-Oerlinghausen, Ollenschläger, Schulze und Scriba.

Mit dem Vorsitzenden, Herrn Schwartz, hat der Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ sehr zügig – in drei Sitzungen: im Juni, im August und im September 2004 – das Rahmenkonzept erarbeitet. Dieses wurde vom Vorstand des Wissenschaftlichen Beirats im September zustimmend zur Kenntnis genommen. Der Vorstand der Bundesärztekammer hat es im Oktober für weitere Beratungen akzeptiert und am 17. Dezember 2004 verabschiedet. Dabei wurde eine enge Anbindung einer „Ständigen Koordinationsgruppe Versorgungsforschung“ an den Vorstand des Wissenschaftlichen Beirats und die Straffung der Arbeits- und Entscheidungsabläufe mit Dämpfung der organisationsbedingten Gremienkosten beschlossen.

Auf der Basis dieser vielleicht etwas gründlichen Schilderung der Entstehungsgeschichte des Rahmenkonzepts kann man wohl folgende vier Punkte festhalten: 1. schnelles, zielorientiertes Arbeiten der Wissenschaftler, 2. Schulterschluss mit der AWMF, 3. intensive Begleitung durch Vorstand und Plenum des Wissenschaftlichen Beirats, 4. bewährtes Zusammenspiel von Vorstand der Bundesärztekammer und Wissenschaftlichem Beirat.

Meine Damen und Herren, es geht heute im Kern um eine Allianz zwischen den wissenschaftlichen Fachgesellschaften und den Ärztekammern. Als Ziele möchte ich nennen: die Sichtbarmachung der Bemühungen um Qualität und der erreichten Qualität sowie die Verbesserung der Versorgung, wo möglich durch Eigeninitiative, übrigens durchaus im Sinne vorhandener Aktivitäten wie der BQS. Aber auch die ÄZQ und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wären hier neben anderen zu nennen.

Wenn wir Ärzte diese beiden Ziele erreichen, wird es für staatliche, das soll heißen: politische Eingriffe sehr viel schwieriger, dirigistisch oder rationierend einzugreifen. Qualität ist der beste Schutz vor allem, was wir im negativen Sinne unter Staatsmedizin verstehen. Der zunehmenden Tendenz zur Fremdbestimmung muss durch Demonstration der eigenen wissenschaftlichen Kompetenz in den Ärztekammern entgegengewirkt werden.

Für eine eigene wissenschaftliche Kompetenz der Ärztekammern braucht man erstens die Solidität der Bearbeitung und zweitens Unabhängigkeit. Natürlich muss man damit rechnen, dass eine durch Ärztekammern geförderte Versorgungsforschung dem Vorbehalt oder sogar dem Vorwurf begegnet, sie sei nicht unparteiisch. Dagegen helfen Transparenz der methodischen Qualität, der Auswahl für die Förderung, der Bewertung und der Präsentation der späteren Ergebnisse. Dagegen hilft vor allem, dass unser Ansatz eine große Zahl anerkannter Wissenschaftler aus der „Szene“ einbringt. Es wird darauf ankommen, die überlegene Qualität der beteiligten Wissenschaftler mit ihrer anerkannten Unabhängigkeit eindeutig zu demonstrieren. Dementsprechend haben sich in der Vorbereitung des heutigen Tages die 16 Kolleginnen und Kollegen für das Rahmenkonzept und des Weiteren in Unterarbeitsgruppen engagiert.

Ein paar Worte zum bisherigen Fortschritt in den Unterarbeitsgruppen sind angebracht. Herr Pfaff hat gemeinsam mit Herrn Hoffmann, Frau Kurth und den Herren Ohmann, Schwartz und von Troschke Definitionen der für die Versorgungsforschung wichtigen Begriffe ins Internet gestellt. „www.versorgungsforschung.net“ ist die Internetadresse, unter der das „Forum Versorgungsfor­schung“ der ÄZQ von Herrn Ollenschläger Verbindungen zu allen schon exis­tierenden, oft anders benannten Aktivitäten der Versorgungsforschung geknüpft hat.

Nun zur inhaltlichen Definition: Versorgungsforschung ist die wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und ärztlichen Leistungen unter Alltagsbedingungen. „Dem Arzt über die Schulter schauen“, das macht die Praxisrelevanz dieses Forschungsgebiets aus. Das gilt für das ganze Spektrum vom Hausarzt bis zum Krankenhausarzt.

Die methodische/funktionale Definition lautet: Versorgungsforschung untersucht und beschreibt die Inputs, Prozesse und Ergebnisse der Krankheits- und Gesundheitsversorgung und versucht, Zusammenhänge kausal zu erklären. Ziel ist es dabei, auf der Grundlage der empirischen Untersuchungen vorhandene Versorgungskonzepte zu verbessern oder neue zu entwickeln. Die Adresse ist die „letzte Meile des Gesundheitssystems“.

Sodann wird von Herrn Pfaff und seiner Unterarbeitsgruppe noch die Abgrenzung der Versorgungsforschung beschrieben, also unter anderem, dass klinische Studien zur Efficacy, bekanntlich unter Idealbedingungen durchgeführte Wirksamkeitsstudien, nicht hinzugezählt werden.

Die Beschreibung der Methoden in der zweiten Unterarbeitsgruppe, der von Herrn Kunath und anderen, ist weit fortgeschritten. Das entsprechende Stichwort lautet „Solidität“. Dazu hören Sie gleich von Herrn Schwartz noch etwas.

Zu den Datenquellen wird sich heute Frau Kurth äußern.

Die empfohlenen initialen Themenfelder werden gleich ebenfalls von Herrn Schwartz, dem bewährten wissenschaftlichen Koordinator des Arbeitskreises „Versorgungsforschung“, erläutert: Implementierung von Leitlinien, Ökonomisierung der Versorgung und arztseitige Faktoren (Job Satisfaction).

Ich denke, das skizzierte Vorgehen kann die Scientific Community ebenso wie die Öffentlichkeit von der Qualität und der Solidität der geplanten wissenschaftlichen Arbeit überzeugen. Ich hoffe, dass die Delegierten das auch so sehen.

Versorgungsforschung ist überdies akademisch unterbewertet, was die Anerkennung im Vergleich zur Grundlagenforschung und zur klinischen Forschung betrifft. Die Fakultäten urteilen heute meist auf der Basis von eingeworbenen Drittmitteln und vom Impact-Factor. Der Beitrag zur Verbesserung der Versorgungsqualität als wissenschaftliche Aufgabe kommt in der Anerkennung vielfach zu kurz. Die heutige Initiative kann durchaus dazu beitragen, das zu ändern.

Meine Damen und Herren, leider ist die Datenlage zur Krankenversorgung in Deutschland sehr lückenhaft. Ich zitiere:

In Deutschland bestehen Defizite hinsichtlich der Daten zum Versorgungsgeschehen.

So der Sachverständigenrat. Deshalb hat der Sachverständigenrat vor vier Jahren mit großem Nachdruck eine Intensivierung der Versorgungsforschung gefordert.

Es geht heute bei der Wiederholung dieses Appells an die Verantwortlichen auch um ein ausreichend ausgestattetes, befristetes und mehrgliedriges Förderprogramm zur Gesundheitsforschung, insbesondere zur Versorgungsforschung. An dessen Umsetzung sollen sich BMBF und BMGS inhaltlich und finanziell beteiligen. Die Einbindung der Kassen in Programmgestaltung, Begutachtung von Anträgen und Bewertung der Ergebnisse soll helfen, die Versorgungsrelevanz sicherzustellen. Wenn der Ärztetag heute beschließt, dass sich die Ärztekammern aktiv mit einem eigenfinanzierten Programm in die Versorgungsforschung einbringen sollen, so hat das Signalwirkung und löst hoffentlich eine regelrechte Finanzierungslawine vonseiten der Ministerien und der Kassen aus.

Vielfältige Themen warten dringend auf Bearbeitung!

Aber nun noch einmal zur Unabhängigkeit wissenschaftlicher Beratung. Wissenschaftler sind – wie alle Lebewesen – dem Einfluss von Anreizmechanismen ausgesetzt. Da gibt es keinen prinzipiellen Unterschied, ob man seine Drittmittel von der Industrie bekommen kann oder ob man von irgendwelchen Kassenverbänden oder politischen Gruppen unterstützt wird. Daraus folgt, dass die Offenlegung aller Verbindungen obligatorisch sein muss. Der andere Schutzmechanismus ist darin zu sehen, dass der Wissenschaftler seinen Ruf selbst ruiniert, wenn seine Äußerungen zu sehr durch den jeweiligen Sponsor beeinflusst werden.

Als Aufgabe einer Qualitätssicherung der wissenschaftlichen Beratung – das gilt übrigens auch für das IQWiG – wird neben Transparenz von mir auch heute gefordert, zu prüfen, ob wirklich alle Evidenz berücksichtigt wurde, ob bei der Beurteilung der Qualität der berücksichtigten Evidenz manipuliert wurde, Ergebnisse, die in eine „unerwünschte“ Richtung deuten, systematisch weggelassen wurden und ob über den Bereich des tatsächlichen Untersuchungsgegen­standes weit hinausgehende Aussagen gemacht werden.

Diese Liste lässt sich ergänzen. Im Übrigen vermag hier gerade die offene, interdisziplinäre wissenschaftliche Diskussion ihre reinigende Wirkung gegenüber jedweder Manipulation zu entfalten. Wir meinen, dazu beitragen zu müssen.

Meine Damen und Herren, jedes wissenschaftliche Ergebnis kann Auswirkungen haben, die in (gesellschafts-)politischen, standespolitischen, rechtlichen, ökonomischen, sozialen, moralischen oder ethischen Dimensionen und Bereichen Bedeutung haben. Schwierigkeiten in der Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern beruhen unter anderem auch darauf, dass die natürliche Autorität des Wissenschaftlers in seinem Metier, das heißt in der Wissenschaft, bei Äußerungen zu ethischen oder politischen und auch ökonomischen Fragen durchschimmert. So etwas wird von den Nichtwissenschaftlern dann gerne als Arroganz aufgefasst. Es kommt darauf an, sich, also dem Wissenschaftler, und dem jeweiligen Zuhörer klar zu machen, dass man im nicht wissenschaftlichen Bereich mit keiner höheren Autorität spricht als jeder andere Laie. Bei strittigen Themen sollte man im Übrigen mit einer optionsweisen Darstellung arbeiten, wobei man dann durchaus eigene Präferenzen angeben kann.

Aber dennoch, es bleibt dabei: Die Differenz zwischen wissenschaftlicher Empfehlung einerseits und notwendigem – ich betone: notwendigem – ökonomischen Kompromiss im Gemeinsamen Bundesausschuss andererseits kann man Rationierung nennen.

Was hat das nun alles mit dem Deutschen Ärztetag zu tun? Ärztekammern sind durch Landesgesetz Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Pflichtmitgliedschaft aller Ärzte. Die Ärztekammern haben als sehr schwierige Verantwortung die Doppelaufgabe: die Wahrung der beruflichen Belange der Ärzteschaft und als hoheitliche Aufgabe die Aufsicht über die Ärzte.

Ich halte es für eine ausgesprochen glückliche Entwicklung, dass die Bundesärztekammer weder dem neuen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin noch dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Mitglied angehört, sondern nach § 91 im Gemeinsamen Bundesausschuss nur „angehört“ wird. Damit muss die Ärztekammer, die ja, wie gerade gesagt, für die professionelle Qualität geradestehen soll, nicht ökonomisch-politisch beeinflussten Entscheidungen zustimmen. Sie kann vielmehr gegebenenfalls auf deren Qualitätsdefizite deutlich hinweisen. Es wird die Verantwortung der Ärztekammern bleiben, ökonomisch begründete Einschränkungen der Versorgung mit an sich angemessenen Leistungen als Rationierung zu geißeln.

Mein Fazit lautet: Qualität und Unabhängigkeit der von der Bundesärztekammer geförderten Versorgungsforschung werden dabei helfen, möglicherweise weniger unabhängige wissenschaftliche Beratung in ihre Schranken zu weisen. Vor allem darin sollte man den Mehrwert eines finanziellen Engagements der Ärzte für die Versorgungsforschung sehen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Vielen Dank, Herr Scriba, für diese aus der Wissenschaft begründete Einführung, die aber durchaus auch einen politischen Touch hatte. Ich glaube, das haben wir gar nicht missverstanden. Das soll so sein. Es handelt sich bei uns ja auch um ein berufspolitisches Gremium. Noch einmal ganz herzlichen Dank für den gut verständlichen Vortrag.

(Beifall)

Jetzt ist Herr Professor Schwartz an der Reihe. Er wird uns die Themenfelder vorstellen. Ich habe Herrn Schwartz vorhin schon vorgestellt. Ich glaube, ihn kennt sowieso jeder. Er kommt ja aus unseren Reihen. Bitte schön, Herr Schwartz.

 

© 2005, Bundesärztekammer.