Henke, Referent:
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich gebe zunächst eine Einleitung. Diese beginnt natürlich
mit der Frage: Warum haben wir das Thema „Krankheit und Armut“ auf
die Tagesordnung genommen? Warum haben wir dies zum Schwerpunktthema
des diesjährigen Ärztetages gemacht?
Das ist wahrscheinlich nicht schwer zu erkennen:
Arbeitslosigkeit ist gegenwärtig der größte Missstand in unserer Gesellschaft
und Arbeitslosigkeit ist der wichtigste Grund für die wachsende Ausbreitung von
Armut. Arbeitslosigkeit und Armut haben viele Auswirkungen. Sie haben auch
Auswirkungen auf die Gesundheit und damit auf das Gesundheitssystem und in die
medizinische Versorgung hinein. Jeder von uns kennt die Arbeitslosenzahlen, die
uns die Bundesagentur für Arbeit Monat für Monat aus Nürnberg präsentiert.
Manch einer mag sich ja schon an die Schreckensmeldungen über
5 Millionen Arbeitslose so gewöhnt haben, dass er bereits über einen
geringen saisonalen Rückgang frohlockt. Aber fast 5 Millionen Arbeitslose
entsprechen 12,5 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung.
Hinzu kamen bis zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe 2,8 Millionen Sozialhilfeempfänger – das sind die Daten aus
dem Jahre 2003 –, was allein schon etwa 3 Prozent der Gesamtbevölkerung
entsprach.
Nun ist unser Sozialhilfesystem in Deutschland so konzipiert,
dass es einen Mindestlebensstandard für jeden sicherstellen soll, den das
Unglück in Not versetzt. Es kann aber nicht verhindern, dass inzwischen auch in
Deutschland in zunehmendem Maße Menschen unterhalb einer relativen Armutsgrenze
leben. Diese Grenze liegt für die Europäische Union bei 60 Prozent des
mittleren Einkommens. In Deutschland liegt dieser Wert bei 938 Euro (2003).
Der Anfang dieses Jahres veröffentlichte Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung hat offengelegt, dass der Anteil der
Bevölkerung, der in Deutschland inzwischen unterhalb dieser Armutsgrenze lebt,
bei 13,5 Prozent liegt. Im Jahre 1998, über das der vorige Bericht dieser Art
(2001) berichtet hat, lag er noch bei 12,1 Prozent, sodass der Anteil der
Armutsbevölkerung in der Zwischenzeit um weitere 1,4 Prozentpunkte angestiegen
ist. Es ist zu vermuten, dass Hartz IV die Situation seit Anfang dieses Jahres
verschärft, da das Arbeitslosengeld II dem Sozialhilfeniveau entspricht und das
Arbeitslosengeld I für Personen, die ab dem 1. Februar 2006 arbeitslos werden,
nur noch für ein Jahr gezahlt wird.
Nun mag man sich fragen, warum sich ein Deutscher Ärztetag mit
diesem Thema beschäftigen soll. Denn man könnte ja durchaus die Ansicht
vertreten, dass zunehmende Arbeitslosigkeit und Armut zwar im höchsten Maße
bedauerlich sind, aus der Sicht von Ärztinnen und Ärzten aber doch eher ein
allgemeines gesellschaftliches oder wirtschaftspolitisches Problem darstellen,
an dem wir Ärztinnen und Ärzte zwar als Wahlbürger, Investor oder Tarifpartei,
nicht jedoch mit unseren originär beruflichen Mitteln etwas verändern können.
Der Volksmund sagt uns, warum wir uns mit dem Thema zu
befassen haben. Der Volksmund formuliert es brüsk und sagt: Wenn du arm bist,
musst du früher sterben. Damit sind wir als Ärztinnen und Ärzte unmittelbar
angesprochen.
Wir stellen in unserer täglichen Arbeit in der Praxis wie in
der Klinik fest, wie sehr die finanziellen Probleme von Patienten und
Patientinnen in den letzten Jahren zugenommen haben: Schon die im europäischen
Vergleich durchaus niedrigen Zuzahlungen werden für Patienten immer häufiger zu
einem ernsten Problem und mit Hartz IV scheint auch die Zahl der Patienten
wieder zuzunehmen, die über keinen Krankenversicherungsschutz verfügen bzw. bei
denen dieser ungeklärt ist. Die Zahl war nach der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes
sehr stark gesunken; sie scheint in jüngster Zeit wieder deutlich anzusteigen.
Und ein dritter Aspekt des Themas scheint mir Grund genug, das
Thema hier und heute auf dem Ärztetag zu behandeln: In einer Gesellschaft, in
der die Beiträge für das Gesundheitswesen direkt an die Löhne, Gehälter und
Lohnersatzeinkommen gekoppelt sind, zeigen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
auch unmittelbare Auswirkungen auf die im Gesundheitswesen verfügbaren Ressourcen.
Damit stellt sich automatisch die Frage, ob wir immer größer werdende
gesundheitliche Not mit immer weniger Mitteln bewältigen können.
Somit ist das Thema – das hat auch die gestrige
Eröffnungsveranstaltung gezeigt – hochaktuell und voller Brisanz für das
Gesundheitswesen.
Die Tatsache, dass wir uns heute mit diesem Thema intensiver
befassen wollen, geht auch auf eine Initiative von Delegierten aus Ihren Reihen
zurück, die auf dem 105. Deutschen Ärztetag in Rostock den Antrag gestellt
hatten, das Thema „Krankheit und soziale Lage“ zu einem Schwerpunktthema auf
einem der nächsten Ärztetage zu machen. Dieser Antrag wurde von Ihnen in
Rostock an den Vorstand überwiesen, woraufhin er im „Ausschuss für
Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation“, den ich leite, in
mehreren Sitzungen behandelt wurde.
Wir haben im Ausschuss versucht, uns die Zusammenhänge
zwischen Armut, Krankheit und Mortalität zu verdeutlichen. Der Vorstand hat
dann beschlossen, das Thema zu einem eigenen Tagesordnungspunkt des
diesjährigen Ärztetages hier in Berlin zu machen.
Ein großes Glück für unsere Beratungen wie auch für unsere
Vorbereitung des diesjährigen Ärztetages war die Tatsache, dass Herr Professor
Siegrist dem Ausschuss für Gesundheitsförderung seit Jahren als Mitglied
angehört. Herr Professor Siegrist ist sicherlich einer der bedeutendsten
deutschen und europäischen Medizinsoziologen. Er ist Leiter des Instituts für
Medizinische Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Dort
war er auch maßgeblich an dem Aufbau des Düsseldorfer Public-Health-Studiengangs
beteiligt, in dem seit 1991 Mediziner in der bevölkerungsbezogenen Medizin
ausgebildet werden.
Internationalen Ruf hat er durch seine Arbeiten über
berufsbedingte Stressfaktoren und ihre Bedeutung für die Entstehung von
Herz-Kreislauf-Krankheiten erlangt.
Herr Professor Siegfrist hat zudem - und das kommt uns für
unsere heutige Debatte besonders zugute – seit 1999 ein großes europäisches
Forschungsprojekt der European Science Foundation mit dem Titel „Social Variations
in Health Expectancy in Europe“ geleitet, an dem akademische
Forschungseinrichtungen aus 21 europäischen Ländern beteiligt waren. Die
Ergebnisse dieser europäischen Gemeinschaftsstudie liegen seit letztem Jahr in
einem umfangreichen Bericht vor. Herr Professor Siegfrist wird uns heute einige
der für uns hier in Deutschland relevantesten Ergebnisse dieses Projekts
vorstellen.
Ich werde dann im Anschluss an den Vortrag von Herrn Professor
Siegrist versuchen, auf der Basis seiner Forschungsergebnisse einige
Konsequenzen für die Gesundheitspolitik und das medizinische Versorgungssystem
abzuleiten.
Nach meinem Vortrag wird dann Frau Dr. Goesmann die
Auswirkungen zunehmender Armut in unserer Gesellschaft auf der Ebene der
gesundheitlichen Versorgung durch niedergelassene Ärzte beleuchten.
Frau Dr. Goesmann ist, wie Sie wissen, Allgemeinärztin und
Vorsitzende der Deutschen Akademie für Allgemeinmedizin und kooptiertes
Mitglied des Vorstands der Bundesärztekammer. Sie ist Vizepräsidentin der
Ärztekammer Niedersachsen.
Zunächst darf ich Herrn Professor Siegrist bitten, uns
wissenschaftlich in das Thema „Krankheit und Armut“ einzuführen und uns einige
zentrale Ergebnisse seiner europäischen Gemeinschaftsstudie zum Zusammenhang
von sozialer Lage, Krankheit und Mortalität vorzustellen.
Herr Professor Siegrist, Sie haben das Wort.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Was
eigentlich nur ich ihm geben kann. Herr Henke ist eben manchmal
Landtagspräsident; von daher kommen solche Töne. Aber das ist schon in Ordnung.
Wir kriegen das alles hin.
Wir begrüßen Herrn Professor Siegrist sehr herzlich.
(Beifall)
Herr Siegrist, wir freuen uns auf Ihr Referat. Bitte schön.
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