TOP IV: Bericht: Krankheit und Armut

2. Tag: Mittwoch, 4. Mai 2005 Nachmittagssitzung

Henke, Referent:
Copyright el-zorro.de, 2005. Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zunächst eine Einleitung. Diese beginnt natürlich mit der Frage: Warum haben wir das Thema „Krankheit und Armut“ auf die Tagesordnung genommen? Warum haben wir dies zum Schwerpunktthema des diesjährigen Ärztetages gemacht?

Das ist wahrscheinlich nicht schwer zu erkennen: Arbeitslosigkeit ist gegenwärtig der größte Missstand in unserer Gesellschaft und Arbeitslosigkeit ist der wichtigste Grund für die wachsende Ausbreitung von Armut. Arbeitslosigkeit und Armut haben viele Auswirkungen. Sie haben auch Auswirkungen auf die Gesundheit und damit auf das Gesundheitssystem und in die medizinische Versorgung hinein. Jeder von uns kennt die Arbeitslosenzahlen, die uns die Bundesagentur für Arbeit Monat für Monat aus Nürnberg präsentiert.

Manch einer mag sich ja schon an die Schreckensmeldungen über 5 Millionen Arbeitslose so gewöhnt haben, dass er bereits über einen geringen saisonalen Rückgang frohlockt. Aber fast 5 Millionen Arbeitslose entsprechen 12,5 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung.

Hinzu kamen bis zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe 2,8 Millionen Sozialhilfeempfänger – das sind die Daten aus dem Jahre 2003 –, was allein schon etwa 3 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach.

Nun ist unser Sozialhilfesystem in Deutschland so konzipiert, dass es einen Mindestlebensstandard für jeden sicherstellen soll, den das Unglück in Not versetzt. Es kann aber nicht verhindern, dass inzwischen auch in Deutschland in zunehmendem Maße Menschen unterhalb einer relativen Armutsgrenze leben. Diese Grenze liegt für die Europäische Union bei 60 Prozent des mittleren Einkommens. In Deutschland liegt dieser Wert bei 938 Euro (2003).

Der Anfang dieses Jahres veröffentlichte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat offengelegt, dass der Anteil der Bevölkerung, der in Deutschland inzwischen unterhalb dieser Armutsgrenze lebt, bei 13,5 Prozent liegt. Im Jahre 1998, über das der vorige Bericht dieser Art (2001) berichtet hat, lag er noch bei 12,1 Prozent, sodass der Anteil der Armutsbevölkerung in der Zwischenzeit um weitere 1,4 Prozentpunkte angestiegen ist. Es ist zu vermuten, dass Hartz IV die Situation seit Anfang dieses Jahres verschärft, da das Arbeitslosengeld II dem Sozialhilfeniveau entspricht und das Arbeitslosengeld I für Personen, die ab dem 1. Februar 2006 arbeitslos werden, nur noch für ein Jahr gezahlt wird.

Nun mag man sich fragen, warum sich ein Deutscher Ärztetag mit diesem Thema beschäftigen soll. Denn man könnte ja durchaus die Ansicht vertreten, dass zunehmende Arbeitslosigkeit und Armut zwar im höchsten Maße bedauerlich sind, aus der Sicht von Ärztinnen und Ärzten aber doch eher ein allgemeines gesellschaftliches oder wirtschaftspolitisches Problem darstellen, an dem wir Ärztinnen und Ärzte zwar als Wahlbürger, Investor oder Tarifpartei, nicht jedoch mit unseren originär beruflichen Mitteln etwas verändern können.

Der Volksmund sagt uns, warum wir uns mit dem Thema zu befassen haben. Der Volksmund formuliert es brüsk und sagt: Wenn du arm bist, musst du früher sterben. Damit sind wir als Ärztinnen und Ärzte unmittelbar angesprochen.

Wir stellen in unserer täglichen Arbeit in der Praxis wie in der Klinik fest, wie sehr die finanziellen Probleme von Patienten und Patientinnen in den letzten Jahren zugenommen haben: Schon die im europäischen Vergleich durchaus niedrigen Zuzahlungen werden für Patienten immer häufiger zu einem ernsten Problem und mit Hartz IV scheint auch die Zahl der Patienten wieder zuzunehmen, die über keinen Krankenversicherungsschutz verfügen bzw. bei denen dieser ungeklärt ist. Die Zahl war nach der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes sehr stark gesunken; sie scheint in jüngster Zeit wieder deutlich anzusteigen.

Und ein dritter Aspekt des Themas scheint mir Grund genug, das Thema hier und heute auf dem Ärztetag zu behandeln: In einer Gesellschaft, in der die Beiträge für das Gesundheitswesen direkt an die Löhne, Gehälter und Lohnersatzeinkommen gekoppelt sind, zeigen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt auch unmittelbare Auswirkungen auf die im Gesundheitswesen verfügbaren Ressourcen. Damit stellt sich automatisch die Frage, ob wir immer größer werdende gesundheitliche Not mit immer weniger Mitteln bewältigen können.

Somit ist das Thema – das hat auch die gestrige Eröffnungsveranstaltung gezeigt – hochaktuell und voller Brisanz für das Gesundheitswesen.

Die Tatsache, dass wir uns heute mit diesem Thema intensiver befassen wollen, geht auch auf eine Initiative von Delegierten aus Ihren Reihen zurück, die auf dem 105. Deutschen Ärztetag in Rostock den Antrag gestellt hatten, das Thema „Krankheit und soziale Lage“ zu einem Schwerpunktthema auf einem der nächsten Ärztetage zu machen. Dieser Antrag wurde von Ihnen in Rostock an den Vorstand überwiesen, woraufhin er im „Ausschuss für Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation“, den ich leite, in mehreren Sitzungen behandelt wurde.

Wir haben im Ausschuss versucht, uns die Zusammenhänge zwischen Armut, Krankheit und Mortalität zu verdeutlichen. Der Vorstand hat dann beschlossen, das Thema zu einem eigenen Tagesordnungspunkt des diesjährigen Ärztetages hier in Berlin zu machen.

Ein großes Glück für unsere Beratungen wie auch für unsere Vorbereitung des diesjährigen Ärztetages war die Tatsache, dass Herr Professor Siegrist dem Ausschuss für Gesundheitsförderung seit Jahren als Mitglied angehört. Herr Professor Siegrist ist sicherlich einer der bedeutendsten deutschen und europäischen Medizinsoziologen. Er ist Leiter des Instituts für Medizinische Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Dort war er auch maßgeblich an dem Aufbau des Düsseldorfer Public-Health-Studiengangs beteiligt, in dem seit 1991 Mediziner in der bevölkerungsbezogenen Medizin ausgebildet werden.

Internationalen Ruf hat er durch seine Arbeiten über berufsbedingte Stressfaktoren und ihre Bedeutung für die Entstehung von Herz-Kreislauf-Krankheiten erlangt.

Herr Professor Siegfrist hat zudem - und das kommt uns für unsere heutige Debatte besonders zugute – seit 1999 ein großes europäisches Forschungsprojekt der European Science Foundation mit dem Titel „Social Variations in Health Expectancy in Europe“ geleitet, an dem akademische Forschungseinrichtungen aus 21 europäischen Ländern beteiligt waren. Die Ergebnisse dieser europäischen Gemeinschaftsstudie liegen seit letztem Jahr in einem umfangreichen Bericht vor. Herr Professor Siegfrist wird uns heute einige der für uns hier in Deutschland relevantesten Ergebnisse dieses Projekts vorstellen.

Ich werde dann im Anschluss an den Vortrag von Herrn Professor Siegrist versuchen, auf der Basis seiner Forschungsergebnisse einige Konsequenzen für die Gesundheitspolitik und das medizinische Versorgungssystem abzuleiten.

Nach meinem Vortrag wird dann Frau Dr. Goesmann die Auswirkungen zunehmender Armut in unserer Gesellschaft auf der Ebene der gesundheitlichen Versorgung durch niedergelassene Ärzte beleuchten.

Frau Dr. Goesmann ist, wie Sie wissen, Allgemeinärztin und Vorsitzende der Deutschen Akademie für Allgemeinmedizin und kooptiertes Mitglied des Vorstands der Bundesärztekammer. Sie ist Vizepräsidentin der Ärztekammer Niedersachsen.

Zunächst darf ich Herrn Professor Siegrist bitten, uns wissenschaftlich in das Thema „Krankheit und Armut“ einzuführen und uns einige zentrale Ergebnisse seiner europäischen Gemeinschaftsstudie zum Zusammenhang von sozialer Lage, Krankheit und Mortalität vorzustellen.

Herr Professor Siegrist, Sie haben das Wort.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Was eigentlich nur ich ihm geben kann. Herr Henke ist eben manchmal Landtagspräsident; von daher kommen solche Töne. Aber das ist schon in Ordnung. Wir kriegen das alles hin.

Wir begrüßen Herrn Professor Siegrist sehr herzlich.

(Beifall)

Herr Siegrist, wir freuen uns auf Ihr Referat. Bitte schön.

 

© 2005, Bundesärztekammer.