Prof. Dr. Siegrist, Referent:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Einladung
zu diesem Tagesordnungspunkt des Deutschen Ärztetages und die freundliche
Begrüßung danke ich Ihnen vielmals. Der Einladung bin ich gerne
gefolgt, weist sie doch auf die Aufgeschlossenheit und das Verantwortungsgefühl
der deutschen Ärzteschaft angesichts eines drängenden Problems hin:
der ausgeprägten sozialen Unterschiede bei den Chancen eines gesunden
Lebens und der Risiken eines frühen Todes. Der amerikanische Arzt
und Wissenschaftler Redford Williams hat nach gründlichem Studium
des Forschungsstandes erst vor wenigen Jahren die Behauptung aufgestellt:
Niedrige soziale Schichtzugehörigkeit ist vermutlich die
stärkste einzelne Einflussgröße auf vorzeitige Erkrankungen und Sterbefälle,
nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern weltweit.
Nun wird man sagen: In den USA liegt es auf der Hand, dass
Arme früher sterben, denn ihnen bleibt allzu häufig im Bedarfsfall eine
angemessene medizinische Betreuung versagt. Und ähnlich – oder noch schlimmer –
sieht es in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern dieser Erde aus.
Aber wie steht es um diese Behauptung in Europa, in Ländern
wie Deutschland, der Schweiz, Frankreich, England und den skandinavischen
Ländern, in denen nicht nur eine hohe medizinische Versorgungsqualität gegeben
ist, sondern auch gleiche Zugangschancen für die breite Bevölkerung bestehen?
Ich muss gestehen, dass ich überrascht war, als vor einigen
Jahren bekannt wurde, dass selbst in der reichen Schweiz der Unterschied der
mittleren Lebenserwartung zwischen Männern, die der Führungsschicht angehören,
und einfachen Angestellten und Arbeitern 4,4 Jahre beträgt. In Finnland liegt
die Differenz sogar bei sieben Jahren und nicht viel geringer ist sie in
Frankreich und Großbritannien. Alle Länder Europas, aus denen belastbare Daten
hierzu vorliegen, bestätigen diesen Trend, wobei die sozialen Unterschiede der
Lebenserwartung bei Männern größer sind als bei Frauen.
Besonders beunruhigend ist der Trend, dass die Schere der
Frühsterblichkeit zwischen Armen und Reichen sich in den vergangenen 15 Jahren
weiter geöffnet hat. Man erkennt dies bereits an einer einfachen Grafik, die
das Verhältnis der altersangepassten Sterberaten von Männern in der
Altersgruppe 30 bis 59 Jahre in manuellen, das heißt durchschnittlich geringer
qualifizierten Berufen im Vergleich zu nicht manuellen, höher qualifizierten
Berufen in verschiedenen europäischen Ländern zeigt. Da die Sterberate der
nicht manuell Beschäftigten immer gleich 1 gesetzt ist, erkennt man überall
eine deutlich erhöhte Frühsterblichkeit bei den manuell Beschäftigten.
Beispielsweise ist sie in Finnland doppelt so hoch.
Interessant ist nun ferner die Beobachtung, dass die sozialen
Unterschiede
über die Zeit zugenommen haben. Man sieht dies, wenn man die Daten der ersten
Untersuchung von 1980 bis 1984 mit den Daten der letzten Untersuchung von 1990
bis 1994 vergleicht.
Bevor ich auf die Erklärung dieses Tatbestands – und damit auf
wesentliche Ergebnisse des europäischen Forschungsprogramms – eingehe, möchte
ich zwei wichtige Begriffe klären. Die Begriffe heißen „soziale Schicht“ und
„Armut“. Soziale Schichten sind Personengruppen, die sich hinsichtlich
zentraler Merkmale sozialer Ungleichheit – Einkommen, Bildung und berufliche
Stellung – in einer vergleichbaren Lage befinden. Soziale Schicht ist somit zum
einen ein soziologisches Konstrukt zur Beschreibung gesellschaftlicher
Differenzierung. Auf diese Weise kann man die Bevölkerung beispielsweise anhand
von Quartilen des Schichtindex in eine Oberschicht, eine obere und untere
Mittelschicht und eine Unterschicht einteilen.
Zum anderen ermöglicht dieses Konstrukt jedoch, wichtige
Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen: schichtspezifisch
verteilte Lebensstile und Lebenschancen wie zum Beispiel die ungleiche
Lebenserwartung.
Am unteren Ende der sozialen Schichtung einer Gesellschaft
überschneiden sich Schichtzugehörigkeit und Armut. Dabei ist die Beobachtung
bedeutsam, dass Armut sich in jüngster Zeit stärker auch bis in die soziale
Mittelschicht hinein ausbreitet. Armut beschränkt sich nicht auf das verfügbare
Einkommen, sondern stellt ein mehrdimensionales Geschehen sozialer
Unterversorgung und Benachteiligung dar, das auch Aspekte wie Bildung,
Erwerbsbeteiligung, Wohnlage und Zugang zur Infrastruktur einschließlich
medizinischer Versorgung umfasst.
Entscheidend ist nun die Tatsache, dass der Zusammenhang
zwischen sozialer Schicht und Gesundheit die gesamte Sozialstruktur eines
Landes betrifft und nicht lediglich diejenigen, die am unteren Ende der
Sozialstruktur stehen. Wir sprechen von einem sozialen Gradienten: je niedriger
die soziale Schicht, desto größer die Krankheitslast. Dieser soziale Gradient
wurde in Europa erstmals 1978 von dem britischen Sozialepidemiologen Sir
Michael Marmot nachgewiesen, und zwar anhand einer Längsschnittstudie an
17 000 britischen Regierungsbeamten. Man erkennt einen klaren
„Treppeneffekt“: Bereits Regierungsbeamte in zweithöchster Stellung weisen eine
höhere Sterblichkeit auf als die Spitzenbeamten und im Vergleich zu diesen
sterben die einfachen Bediensteten etwa dreimal so häufig frühzeitig, und zwar
nicht nur an der Todesursache Nummer eins, den koronaren Herzkrankheiten,
sondern an einem breiten Spektrum weiterer Todesursachen.
Der soziale Gradient von Morbidität und Mortalität ist
inzwischen in vielen Studien in Europa nachgewiesen worden. An diesem Punkt
setzt das Forschungsprogramm der European Science Foundation an, dessen
Hauptziel darin bestand, Fortschritte bei der Erklärung des sozialen Gradienten
zu erzielen. Zu diesem Zweck schlossen sich rund 80 Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler aus West- und Osteuropa, den USA und Kanada zu einem Forschungsnetzwerk
zusammen, in dem über fünf Jahre in gemeinsamen Tagungen, Arbeitsgruppen und in
koordinierter eigener Forschungsarbeit dieses Problem bearbeitet wurde.
Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich wie folgt
zusammenfassen: Erstens hat das Programm gezeigt, dass von den vier zentralen
Hypothesen zur Erklärung des sozialen Gradienten nur zwei von substanzieller
Bedeutung sind. Hypothese 1 besagt, dass nicht Armut krank macht, sondern umgekehrt
Krankheit zu Armut führt. Das ist die Hypothese sozialer Selektion. Aus
Längsschnittstudien wurde ermittelt, dass dies zwar vereinzelt zutrifft, dass
jedoch nur ein geringer Teil der Varianz des sozialen Gradienten von Morbidität
und Mortalität dadurch aufgeklärt werden kann, höchstens 5 bis 10 Prozent.
Gemäß der zweiten Hypothese ist der begrenzte Zugang und
möglicherweise die schlechtere Qualität medizinischer Versorgung für das
soziale Gefälle verantwortlich. Zwar bestehen in den verschiedenen europäischen
Ländern, auch hierzulande – insbesondere seit den neuen Zuzahlungsregelungen –,
diesbezüglich gewisse soziale Ungleichheiten, aber mehrere Argumente sprechen
dagegen, dass sie in substanzieller Weise zur Erklärung dieses Gefälles der
Ungleichheit über die gesamte Gesellschaftsstruktur hinweg beitragen. Erstens
hat sich gezeigt, dass der Gradient in Staaten mit freiem Zugang zur Versorgung
nicht geringer ausgeprägt ist als in Staaten mit stärker marktwirtschaftlichem
Gesundheitssystem.
Zweitens wird die Hauptlast frühzeitiger Sterblichkeit durch
Bedingungen verursacht, welche durch ärztliche Intervention nur begrenzt
beeinflussbar sind. Begründete Expertenschätzungen rechnen hier mit einem
maximalen Beitrag von 10 bis 15 Prozent Varianzaufklärung.
Die dritte Hypothese besagt, dass schichtspezifische
Belastungen des alltäglichen Lebens – von der ungünstigen Wohnlage über
materielle Einschränkungen, über soziale Instabilität in Erziehung und Familie
bis hin zu prekärer und belastungsreicher Arbeit – für die ungleiche
Krankheitslast wesentlich verantwortlich sind.
Die vierte Hypothese misst dem gesundheitsschädigenden
Verhalten, das
ebenfalls schichtspezifisch verteilt ist, das stärkste Gewicht zu.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser europäischen Forschungskooperation
ist darin zu sehen, dass zu diesen beiden Haupthypothesen – und insbesondere
zur dritten Hypothese – eigene neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen
wurden. Sie lassen sich in drei Thesen so zusammenfassen:
Erstens. Der soziale Gradient von Morbidität und Mortalität
wird bereits am Beginn des Lebens, in der Schwangerschaft und in den
allerersten Lebensjahren, gebahnt.
Zweitens. Im frühen und mittleren Erwachsenenalter wird der
soziale Gradient durch die Qualität der Erwerbsarbeit entscheidend beeinflusst.
Drittens. Selbst bei Berücksichtigung individueller Merkmale
sozialer Benachteiligung erhöht die Umgebung, in der Menschen leben, das
Erkrankungsrisiko, und zwar nicht allein aufgrund ökologischer Gefährdung –
etwa Feinstaub –, sondern auch aufgrund eines spannungsreichen Klimas im
sozialen Zusammenleben.
Ich möchte diese Aussagen an wenigen Beispielen erläutern.
Englische Geburtskohortenstudien zeigen, dass Kinder, die in eine niedrige
soziale Schicht hineingeboren werden, in den kommenden vier Jahrzehnten eine
höhere Sterberate aufweisen als ihre bessergestellten Altersgenossen. Hierfür
hat man in erster Linie folgende Faktoren während der Schwangerschaft und der
frühen Kindheit verantwortlich gemacht: mangelnde Vorsorge und gesundheitsschädigendes
Verhalten schwangerer Mütter, erhöhte postnatale Gesundheitsrisiken,
insbesondere Verletzungen, sowie gestörte affektive Bindungsprozesse in der
Mutter-Kind-Beziehung, die durch materielle Not, etwa bei Alleinerziehenden,
noch verstärkt werden.
Dass Kinder Alleinerziehender gegenüber den in vollständigen
Familien Aufwachsenden tatsächlich gesundheitlich stärker gefährdet sind, hat
eine schwedische Studie sehr eindrucksvoll gezeigt. Danach sind Sterblichkeit
und schwere Gesundheitsstörungen bereits bei 6- bis 18-jährigen Kindern
Alleinerziehender signifikant erhöht.
Aber auch Krankheiten, die erst im dritten, vierten und
fünften Dezennium auftreten, wie Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Krankheiten,
werden intrauterin und in frühen postnatalen Phasen mit programmiert. So wurde
nachgewiesen, dass mütterliche Fehlernährung während der Schwangerschaft zu
Wachstumsstörungen führen kann, die sich zunächst in einem niedrigen
Geburtsgewicht manifestieren. Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht sind in unteren
sozialen Schichten häufiger anzutreffen. Untergewichtige Kleinkinder erfahren
in den nachfolgenden Jahren eine spezifische, als „adiposity rebound“
bezeichnete Gewichtsdynamik. Sie ist durch eine disproportionale Zunahme des
Körpergewichts bis zum Schuleintrittsalter gekennzeichnet.
Aus der Kieler Längsschnittstudie ist dieser Zusammenhang auch
für deutsche Kinder nachgewiesen worden: Bei den 5- bis 7-jährigen Kindern
zeigt sich bereits ein sozialer Gradient des Körpergewichts: je niedriger die
gesellschaftliche Stellung der Eltern, desto höher das Körpergewicht der
Kinder. Übergewicht im weiteren Lebenslauf ist in unteren Sozialschichten weit
verbreitet und wird als eine der großen gesundheitspolitischen
Herausforderungen der nächsten Zukunft erkannt.
Eine zweite neue Erkenntnis des europäischen Programms bezieht
sich auf den Nachweis, dass über den bereits bekannten Zusammenhang zwischen
Arbeitslosigkeit und erhöhter Krankheitslast in unteren Sozialschichten hinaus
die – schichtspezifisch variierende – Qualität der Erwerbsarbeit die Morbidität
und Mortalität im mittleren Erwachsenenalter in starkem Maße bestimmt. Dies wurde
durch Untersuchungen bestätigt, die zwei neu entwickelte Modelle psychosozialer
Stressbelastung im Erwerbsleben testeten: das so genannte Anforderungs-Kontroll-Modell
und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen.
Das erste Modell besagt, dass Menschen, die an Arbeitsplätzen
beschäftigt sind, an denen sie trotz hoher Leistungsdichte wenig Einfluss und
wenig Kontrolle haben, erhöhte stressassoziierte Erkrankungsrisiken aufweisen.
Im zweiten, ergänzenden Modell steht das Ungleichgewicht zwischen beruflicher
Verausgabung und hierfür erhaltenen Belohnungen im Vordergrund, wobei niedrige
Gratifikationen sich nicht nur auf Geld beziehen, sondern Anerkennung, Aufstiegschancen
und insbesondere die weitere Arbeitsplatzsicherheit einschließen. Beide
Bedingungen sind bei geringer qualifizierten Beschäftigten häufiger
anzutreffen.
Aus verschiedenen Ländern liegen Studienergebnisse vor, dass
auch bestimmte Gruppen berufstätiger Ärzte von diesen Bedingungen betroffen
sind. Diese Modelle der Stressbelastung betreffen also nicht nur niedrig
Qualifizierte.
Beide Modelle sind in mehreren prospektiven epidemiologischen
Studien überprüft worden. Stellvertretend für viele Befunde möchte ich das
Ergebnis einer Prospektivstudie aus Finnland anführen. Danach verdoppelt sich
das relative Risiko der Herz-Kreislauf-Mortalität bei Arbeitern, deren
Tätigkeit geringe Kontrolle bei hohen Anforderungen aufweist, sowie bei
Arbeitern, die für hohe Verausgabung keine angemessenen Gratifikationen
erfahren haben. Ein vergleichbares Ergebnis zeigt eine britische Studie
hinsichtlich des Risikos, bei Vorliegen beruflicher Gratifikationskrisen an
einer depressiven Störung neu zu erkranken.
Wichtig ist der Hinweis, dass auch Tätigkeiten außerhalb des
Berufslebens, die durch psychosoziale Stressbelastung in Form geringer
Kontrolle und geringer sozialer Belohnung bei fortgesetzter Verausgabung
gekennzeichnet sind, die Gesundheit mindern. Ich denke hier beispielsweise an
die häusliche Pflegearbeit und ähnliche belastende Erfahrungen.
Ich möchte zum Schluss in aller Kürze auf einige praktische
Folgerungen aus diesen neuen Erkenntnissen für unser Handeln, vor allem auf dem
Gebiet der Prävention, hinweisen. Ich bin sicher, dass das von meinen
Nachrednern vertieft wird.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, deutlich gemacht zu haben,
welche Bedeutung dem von Ihnen gewählten Thema „Soziale Benachteiligung und Gesundheit“
zukommt. Auch wenn die praktischen Folgerungen aus den hier lediglich
exemplarisch dargestellten Erkenntnissen des Forschungsprogramms weit über das
ärztliche Handeln und auch über unser herkömmliches Verständnis von
Gesundheitspolitik hinausreichen, kann und soll die Ärzteschaft dennoch im
Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Beitrag zur Verringerung des sozialen Gradienten
leisten. Wie dies konkret aussehen könnte, vermögen meine Nachredner mit
Sicherheit kompetenter als ich darzulegen. Ich schließe daher meine
Ausführungen in der Hoffnung, Ihnen für ein solches Engagement neue Impulse
gegeben zu haben.
Vielen Dank.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Siegrist, für dieses exzellente Referat, das uns in blendender Weise in
diese Thematik eingeführt hat. Jetzt wird Herr Henke aus diesen Erkenntnissen,
die Sie vorgetragen haben, die Schlussfolgerungen für unseren Ärztetag ziehen,
was die Beschlüsse angeht. Bitte, Rudolf Henke.
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