TOP IV: Bericht: Krankheit und Armut

2. Tag: Mittwoch, 4. Mai 2005 Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Siegrist, Referent:
Copyright baek.de, 2005. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Einladung zu diesem Tagesordnungspunkt des Deutschen Ärztetages und die freundliche Begrüßung danke ich Ihnen vielmals. Der Einladung bin ich gerne gefolgt, weist sie doch auf die Aufgeschlossenheit und das Verantwortungsgefühl der deutschen Ärzteschaft angesichts eines drängenden Problems hin: der ausgeprägten sozialen Unterschiede bei den Chancen eines gesunden Lebens und der Risiken eines frühen Todes. Der amerikanische Arzt und Wissenschaftler Redford Williams hat nach gründlichem Studium des Forschungsstandes erst vor wenigen Jahren die Behauptung aufgestellt:

Niedrige soziale Schichtzugehörigkeit ist vermutlich die stärkste einzelne Einflussgröße auf vorzeitige Erkrankungen und Sterbefälle, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern weltweit.

Nun wird man sagen: In den USA liegt es auf der Hand, dass Arme früher sterben, denn ihnen bleibt allzu häufig im Bedarfsfall eine angemessene medizinische Betreuung versagt. Und ähnlich – oder noch schlimmer – sieht es in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern dieser Erde aus.

Aber wie steht es um diese Behauptung in Europa, in Ländern wie Deutschland, der Schweiz, Frankreich, England und den skandinavischen Ländern, in denen nicht nur eine hohe medizinische Versorgungsqualität gegeben ist, sondern auch gleiche Zugangschancen für die breite Bevölkerung bestehen?

Ich muss gestehen, dass ich überrascht war, als vor einigen Jahren bekannt wurde, dass selbst in der reichen Schweiz der Unterschied der mittleren Lebenserwartung zwischen Männern, die der Führungsschicht angehören, und einfachen Angestellten und Arbeitern 4,4 Jahre beträgt. In Finnland liegt die Differenz sogar bei sieben Jahren und nicht viel geringer ist sie in Frankreich und Großbritannien. Alle Länder Europas, aus denen belastbare Daten hierzu vorliegen, bestätigen diesen Trend, wobei die sozialen Unterschiede der Lebenserwartung bei Männern größer sind als bei Frauen.

Besonders beunruhigend ist der Trend, dass die Schere der Frühsterblichkeit zwischen Armen und Reichen sich in den vergangenen 15 Jahren weiter geöffnet hat. Man erkennt dies bereits an einer einfachen Grafik, die das Verhältnis der altersangepassten Sterberaten von Männern in der Altersgruppe 30 bis 59 Jahre in manuellen, das heißt durchschnittlich geringer qualifizierten Berufen im Vergleich zu nicht manuellen, höher qualifizierten Berufen in verschiedenen europäischen Ländern zeigt. Da die Sterberate der nicht manuell Beschäftigten immer gleich 1 gesetzt ist, erkennt man überall eine deutlich erhöhte Frühsterblichkeit bei den manuell Beschäftigten. Beispielsweise ist sie in Finnland doppelt so hoch.

Interessant ist nun ferner die Beobachtung, dass die sozialen Unterschiede
über die Zeit zugenommen haben. Man sieht dies, wenn man die Daten der ersten Untersuchung von 1980 bis 1984 mit den Daten der letzten Untersuchung von 1990 bis 1994 vergleicht.

Bevor ich auf die Erklärung dieses Tatbestands – und damit auf wesentliche Ergebnisse des europäischen Forschungsprogramms – eingehe, möchte ich zwei wichtige Begriffe klären. Die Begriffe heißen „soziale Schicht“ und „Armut“. Soziale Schichten sind Personengruppen, die sich hinsichtlich zentraler Merkmale sozialer Ungleichheit – Einkommen, Bildung und berufliche Stellung – in einer vergleichbaren Lage befinden. Soziale Schicht ist somit zum einen ein soziologisches Konstrukt zur Beschreibung gesellschaftlicher Differenzierung. Auf diese Weise kann man die Bevölkerung beispielsweise anhand von Quartilen des Schichtindex in eine Oberschicht, eine obere und untere Mittelschicht und eine Unterschicht einteilen.

Zum anderen ermöglicht dieses Konstrukt jedoch, wichtige Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen: schichtspezifisch verteilte Lebensstile und Lebenschancen wie zum Beispiel die ungleiche Lebenserwartung.

Am unteren Ende der sozialen Schichtung einer Gesellschaft überschneiden sich Schichtzugehörigkeit und Armut. Dabei ist die Beobachtung bedeutsam, dass Armut sich in jüngster Zeit stärker auch bis in die soziale Mittelschicht hinein ausbreitet. Armut beschränkt sich nicht auf das verfügbare Einkommen, sondern stellt ein mehrdimensionales Geschehen sozialer Unterversorgung und Benachteiligung dar, das auch Aspekte wie Bildung, Erwerbsbeteiligung, Wohnlage und Zugang zur Infrastruktur einschließlich medizinischer Versorgung umfasst.

Entscheidend ist nun die Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Gesundheit die gesamte Sozialstruktur eines Landes betrifft und nicht lediglich diejenigen, die am unteren Ende der Sozialstruktur stehen. Wir sprechen von einem sozialen Gradienten: je niedriger die soziale Schicht, desto größer die Krankheitslast. Dieser soziale Gradient wurde in Europa erstmals 1978 von dem britischen Sozialepidemiologen Sir Michael Marmot nachgewiesen, und zwar anhand einer Längsschnittstudie an 17 000 britischen Regierungsbeamten. Man erkennt einen klaren „Treppeneffekt“: Bereits Regierungsbeamte in zweithöchster Stellung weisen eine höhere Sterblichkeit auf als die Spitzenbeamten und im Vergleich zu diesen sterben die einfachen Bediensteten etwa dreimal so häufig frühzeitig, und zwar nicht nur an der Todesursache Nummer eins, den koronaren Herzkrankheiten, sondern an einem breiten Spektrum weiterer Todesursachen.

Der soziale Gradient von Morbidität und Mortalität ist inzwischen in vielen Studien in Europa nachgewiesen worden. An diesem Punkt setzt das Forschungsprogramm der European Science Foundation an, dessen Hauptziel darin bestand, Fortschritte bei der Erklärung des sozialen Gradienten zu erzielen. Zu diesem Zweck schlossen sich rund 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus West- und Osteuropa, den USA und Kanada zu einem Forschungsnetzwerk zusammen, in dem über fünf Jahre in gemeinsamen Tagungen, Arbeitsgruppen und in koordinierter eigener Forschungsarbeit dieses Problem bearbeitet wurde.

Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens hat das Programm gezeigt, dass von den vier zentralen Hypothesen zur Erklärung des sozialen Gradienten nur zwei von substanzieller Bedeutung sind. Hypothese 1 besagt, dass nicht Armut krank macht, sondern umgekehrt Krankheit zu Armut führt. Das ist die Hypothese sozialer Selektion. Aus Längsschnittstudien wurde ermittelt, dass dies zwar vereinzelt zutrifft, dass jedoch nur ein geringer Teil der Varianz des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität dadurch aufgeklärt werden kann, höchstens 5 bis 10 Prozent.

Gemäß der zweiten Hypothese ist der begrenzte Zugang und möglicherweise die schlechtere Qualität medizinischer Versorgung für das soziale Gefälle verantwortlich. Zwar bestehen in den verschiedenen europäischen Ländern, auch hierzulande – insbesondere seit den neuen Zuzahlungsregelungen –, diesbezüglich gewisse soziale Ungleichheiten, aber mehrere Argumente sprechen dagegen, dass sie in substanzieller Weise zur Erklärung dieses Gefälles der Ungleichheit über die gesamte Gesellschaftsstruktur hinweg beitragen. Erstens hat sich gezeigt, dass der Gradient in Staaten mit freiem Zugang zur Versorgung nicht geringer ausgeprägt ist als in Staaten mit stärker marktwirtschaftlichem Gesundheitssystem.

Zweitens wird die Hauptlast frühzeitiger Sterblichkeit durch Bedingungen verursacht, welche durch ärztliche Intervention nur begrenzt beeinflussbar sind. Begründete Expertenschätzungen rechnen hier mit einem maximalen Beitrag von 10 bis 15 Prozent Varianzaufklärung.

Die dritte Hypothese besagt, dass schichtspezifische Belastungen des alltäglichen Lebens – von der ungünstigen Wohnlage über materielle Einschränkungen, über soziale Instabilität in Erziehung und Familie bis hin zu prekärer und belastungsreicher Arbeit – für die ungleiche Krankheitslast wesentlich verantwortlich sind.

Die vierte Hypothese misst dem gesundheitsschädigenden Verhalten, das
ebenfalls schichtspezifisch verteilt ist, das stärkste Gewicht zu.

Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser europäischen Forschungskooperation ist darin zu sehen, dass zu diesen beiden Haupthypothesen – und insbesondere zur dritten Hypothese – eigene neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen wurden. Sie lassen sich in drei Thesen so zusammenfassen:

Erstens. Der soziale Gradient von Morbidität und Mortalität wird bereits am Beginn des Lebens, in der Schwangerschaft und in den allerersten Lebensjahren, gebahnt.

Zweitens. Im frühen und mittleren Erwachsenenalter wird der soziale Gradient durch die Qualität der Erwerbsarbeit entscheidend beeinflusst.

Drittens. Selbst bei Berücksichtigung individueller Merkmale sozialer Benachteiligung erhöht die Umgebung, in der Menschen leben, das Erkrankungsrisiko, und zwar nicht allein aufgrund ökologischer Gefährdung – etwa Feinstaub –, sondern auch aufgrund eines spannungsreichen Klimas im sozialen Zusammenleben.

Ich möchte diese Aussagen an wenigen Beispielen erläutern. Englische Geburtskohortenstudien zeigen, dass Kinder, die in eine niedrige soziale Schicht hineingeboren werden, in den kommenden vier Jahrzehnten eine höhere Sterberate aufweisen als ihre bessergestellten Altersgenossen. Hierfür hat man in erster Linie folgende Faktoren während der Schwangerschaft und der frühen Kindheit verantwortlich gemacht: mangelnde Vorsorge und gesundheitsschädigendes Verhalten schwangerer Mütter, erhöhte postnatale Gesundheitsrisiken, insbesondere Verletzungen, sowie gestörte affektive Bindungsprozesse in der Mutter-Kind-Beziehung, die durch materielle Not, etwa bei Alleinerziehenden, noch verstärkt werden.

Dass Kinder Alleinerziehender gegenüber den in vollständigen Familien Aufwachsenden tatsächlich gesundheitlich stärker gefährdet sind, hat eine schwedische Studie sehr eindrucksvoll gezeigt. Danach sind Sterblichkeit und schwere Gesundheitsstörungen bereits bei 6- bis 18-jährigen Kindern Alleinerziehender signifikant erhöht.

Aber auch Krankheiten, die erst im dritten, vierten und fünften Dezennium auftreten, wie Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Krankheiten, werden intrauterin und in frühen postnatalen Phasen mit programmiert. So wurde nachgewiesen, dass mütterliche Fehlernährung während der Schwangerschaft zu Wachstumsstörungen führen kann, die sich zunächst in einem niedrigen Geburtsgewicht manifestieren. Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht sind in unteren sozialen Schichten häufiger anzutreffen. Untergewichtige Kleinkinder erfahren in den nachfolgenden Jahren eine spezifische, als „adiposity rebound“ bezeichnete Gewichtsdynamik. Sie ist durch eine disproportionale Zunahme des Körpergewichts bis zum Schuleintrittsalter gekennzeichnet.

Aus der Kieler Längsschnittstudie ist dieser Zusammenhang auch für deutsche Kinder nachgewiesen worden: Bei den 5- bis 7-jährigen Kindern zeigt sich bereits ein sozialer Gradient des Körpergewichts: je niedriger die gesellschaftliche Stellung der Eltern, desto höher das Körpergewicht der Kinder. Übergewicht im weiteren Lebenslauf ist in unteren Sozialschichten weit verbreitet und wird als eine der großen gesundheitspolitischen Herausforderungen der nächsten Zukunft erkannt.

Eine zweite neue Erkenntnis des europäischen Programms bezieht sich auf den Nachweis, dass über den bereits bekannten Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und erhöhter Krankheitslast in unteren Sozialschichten hinaus die – schichtspezifisch variierende – Qualität der Erwerbsarbeit die Morbidität und Mortalität im mittleren Erwachsenenalter in starkem Maße bestimmt. Dies wurde durch Untersuchungen bestätigt, die zwei neu entwickelte Modelle psychosozialer Stressbelastung im Erwerbsleben testeten: das so genannte Anforderungs-Kontroll-Modell und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen.

Das erste Modell besagt, dass Menschen, die an Arbeitsplätzen beschäftigt sind, an denen sie trotz hoher Leistungsdichte wenig Einfluss und wenig Kontrolle haben, erhöhte stressassoziierte Erkrankungsrisiken aufweisen. Im zweiten, ergänzenden Modell steht das Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und hierfür erhaltenen Belohnungen im Vordergrund, wobei niedrige Gratifikationen sich nicht nur auf Geld beziehen, sondern Anerkennung, Aufstiegschancen und insbesondere die weitere Arbeitsplatzsicherheit einschließen. Beide Bedingungen sind bei geringer qualifizierten Beschäftigten häufiger anzutreffen.

Aus verschiedenen Ländern liegen Studienergebnisse vor, dass auch bestimmte Gruppen berufstätiger Ärzte von diesen Bedingungen betroffen sind. Diese Modelle der Stressbelastung betreffen also nicht nur niedrig Qualifizierte.

Beide Modelle sind in mehreren prospektiven epidemiologischen Studien überprüft worden. Stellvertretend für viele Befunde möchte ich das Ergebnis einer Prospektivstudie aus Finnland anführen. Danach verdoppelt sich das relative Risiko der Herz-Kreislauf-Mortalität bei Arbeitern, deren Tätigkeit geringe Kontrolle bei hohen Anforderungen aufweist, sowie bei Arbeitern, die für hohe Verausgabung keine angemessenen Gratifikationen erfahren haben. Ein vergleichbares Ergebnis zeigt eine britische Studie hinsichtlich des Risikos, bei Vorliegen beruflicher Gratifikationskrisen an einer depressiven Störung neu zu erkranken.

Wichtig ist der Hinweis, dass auch Tätigkeiten außerhalb des Berufslebens, die durch psychosoziale Stressbelastung in Form geringer Kontrolle und geringer sozialer Belohnung bei fortgesetzter Verausgabung gekennzeichnet sind, die Gesundheit mindern. Ich denke hier beispielsweise an die häusliche Pflegearbeit und ähnliche belastende Erfahrungen.

Ich möchte zum Schluss in aller Kürze auf einige praktische Folgerungen aus diesen neuen Erkenntnissen für unser Handeln, vor allem auf dem Gebiet der Prävention, hinweisen. Ich bin sicher, dass das von meinen Nachrednern vertieft wird.

Meine Damen und Herren, ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, welche Bedeutung dem von Ihnen gewählten Thema „Soziale Benachteiligung und Gesundheit“ zukommt. Auch wenn die praktischen Folgerungen aus den hier lediglich exemplarisch dargestellten Erkenntnissen des Forschungsprogramms weit über das ärztliche Handeln und auch über unser herkömmliches Verständnis von Gesundheitspolitik hinausreichen, kann und soll die Ärzteschaft dennoch im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Beitrag zur Verringerung des sozialen Gradienten leisten. Wie dies konkret aussehen könnte, vermögen meine Nachredner mit Sicherheit kompetenter als ich darzulegen. Ich schließe daher meine Ausführungen in der Hoffnung, Ihnen für ein solches Engagement neue Impulse gegeben zu haben.

Vielen Dank.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Vielen Dank, Herr Siegrist, für dieses exzellente Referat, das uns in blendender Weise in diese Thematik eingeführt hat. Jetzt wird Herr Henke aus diesen Erkenntnissen, die Sie vorgetragen haben, die Schlussfolgerungen für unseren Ärztetag ziehen, was die Beschlüsse angeht. Bitte, Rudolf Henke.

 

© 2005, Bundesärztekammer.