TOP IV: Bericht: Krankheit und Armut

2. Tag: Mittwoch, 4. Mai 2005 Nachmittagssitzung

Dr. Goesmann, Referentin:
Copyright el-zorro.de, 2005. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Herren Referenten! Mir fällt der Part zu, Anteil und Rolle von Ärztinnen und Ärzten im Bereich der primärärztlichen Versorgung Unterprivilegierter zu beschreiben, darzustellen, ob und wie Ärztinnen und Ärzte gesundheitliche Folgen von Armut identifizieren, wahrnehmen und aufgreifen, und welche Aufgaben und Ziele in diesem Zusammenhang für die Ärzteschaft definiert werden müssen.

Ich beschränke mich auf meinen Erfahrungsbereich, die ambulante kurative Medizin, zumal hier der größte Teil der Kontakte zu den unterprivilegierten Patientengruppen stattfindet, auf die der Armutsbegriff – oder Aspekte davon – zutrifft.

Der Begriff „Armut“ wurde von meinen Vorrednern umfangreich definiert. Für mich, die ich täglich mit Kranken und bedürftigen Menschen arbeite, bedeutet er nicht nur relative Einkommensarmut, sondern eine „Anhäufung von Unterversorgungslagen“. Das bedeutet Armut auch als Unterversorgung in relevanten Lebensbereichen, nämlich Armut an Arbeit, an Bildung, an Wohnungsmöglichkeiten, an Kultur und Politik, an Beziehungen und an emotionalen Bindungen; Armut also definiert als mangelhafter Zugang zu einem gesellschaftlich akzeptierten Lebensstandard.

Dieses subjektive Armutskonzept geht in der Regel Hand in Hand mit gesundheitlicher Ungleichheit. Hiervon betroffene Gruppen, auf die wir in der Praxis stoßen, sind vor allem Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Wohnungslose und Illegalisierte, Migranten, allein erziehende Frauen, kinderreiche Familien, psychisch Kranke und Heimbewohner.

In der täglichen Praxis der Primärversorgungsebene, das heißt bei Kinder- und Jugendärzten, Praktischen Ärzten und Ärzten für Allgemeinmedizin, hausärztlich tätigen Internisten und Psychiatern, hier vor allem sozialpsychiatrisch tätigen Kolleginnen und Kollegen, lassen sich innerhalb dieser aufgeführten Gruppen wiederum verschiedene Patiententypen unterscheiden.

Ich nenne als ersten Patiententyp diejenigen, die sich einer Behandlung in unserem System der Regelversorgung aus medizinisch oder sozial begründeten Ängsten heraus so lange wie möglich oder völlig entziehen, wie beispielsweise Obdachlose, Illegalisierte und psychiatrisch Kranke, und die unserer ärztlichen Aufmerksamkeit und Fürsorge völlig entgehen, wenn hierfür nicht nur die Gesundheitspolitik, sondern auch wir selbst nicht sensibilisiert wären.

Die zweite Gruppe bilden diejenigen Patientinnen und Patienten, die sich aus ihrer sozialen Lage heraus stigmatisiert fühlen, sich zurückziehen und weniger medizinische Leistungen in Anspruch nehmen als vor ihrem sozialen Abstieg, wie Arbeitslose und Alleinerziehende.

Schließlich gibt es drittens Patientengruppen, die öfter als der Durchschnitt das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen, aber aufgrund von Bildungsmängeln, Sprach- und Kulturbarrieren und mangelnder finanzieller Mittel die ärztlichen und medizinischen Angebote nicht aufgreifen, verstehen und nutzen. Hier seien exemplarisch Migranten, alte Menschen und Kinderreiche genannt. Diese Zusammenhänge sollten uns durchaus klar sein, damit diese Gruppen unserer Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht entgehen.

Wir, die wir uns wohl für gute Ärztinnen und Ärzte halten, haben den Anspruch, alle Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrem Bildungsgrad und ihrer Herkunft ausschließlich entsprechend ihren individuellen medizinischen Bedürfnissen zu behandeln und denjenigen, bei denen wir eine gesundheitliche Benachteiligung feststellen, besondere Fürsorge zukommen zu lassen. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus: So folgt der sozialen Benachteiligung nicht etwa gesamtgesellschaftlich eine bessere, sondern eher eine schlechtere Gesundheitsversorgung – eine Feststellung, die schon 1971 in einer Ausgabe des „Lancet“ von Tudor Hart das „inverse care law“ genannt wurde.

Wie stellt sich dies alles in der täglichen Praxis dar?

Durch die Praxisgebühr und die Zuzahlungsregelungen des GMG für Arzneimittel, Heilmittel und Krankenfahrten ist es zu einer sinkenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen insgesamt, überraschenderweise aber auch von Impfungen und Vorsorgeleistungen, die ja durchaus zuzahlungsfrei sind, gekommen.

Der Gesundheitszustand vor allem von Obdachlosen und psychisch Kranken hat sich verschlechtert, weil gerade diese nicht in der Lage sind, Zuzahlungen zu nötigen Medikamenten zu leisten und ihre Belege für den Befreiungsantrag ordnungsgemäß in Ordnern zu sammeln und dann noch bei der Krankenkasse abzugeben.

Die Versorgung mit selbst zu zahlenden Brillen und Zahnersatz bei Armen sinkt deutlich und Besorgnis erregend.

Unsere Obdachlosensprechstunden werden zunehmend von anderen mittellosen Bevölkerungsgruppen aufgesucht, da es sich herumgesprochen hat, dass es dort Medikamente, finanziert durch Spenden, umsonst gibt. Die aktuelle Evaluation des Wohnungslosenprojekts, das ich in Hannover begründet habe, in dem ehrenamtlich tätige Kolleginnen und Kollegen dreimal die Woche Sprechstunden für Obdachlose abhalten, zeigt für die letzten vier Jahre eine Gesamtzahl von 4 162 Arzt-Patient-Kontakten mit einer deutlichen Zunahme an Behandlungen für das Jahr 2004, das erste Jahr des GMG.

Langjährig in hausärztlichen Praxen versorgte Patientinnen und Patienten, die arbeitslos werden, unterliegen sehr häufig einem wahrnehmbaren Prozess von Depression und Verwahrlosung und entziehen sich aus Scham mehr und mehr ärztlicher Betreuung.

Bei Hausbesuchen finden sich immer mehr Patientinnen und Patienten, die in ihrer Haushaltsführung verwahrlosen, weil sie heutzutage erheblich früher aus der stationären Behandlung entlassen werden und sich bis zur völligen Rekonvaleszenz keine Hilfe für Haushalt und Pflege leisten können.

Kolleginnen und Kollegen, die häufig nachts und am Wochenende im städtischen Bereich am fahrenden Notdienst teilnehmen, berichten über eine steigende Inanspruchnahme unter anderem von Migranten in schlechten Wohnlagen. Dieser Personenkreis fällt offensichtlich zunehmend aus einer regelmäßigen hausärztlichen Betreuung heraus und organisiert sich seine medizinische Versorgung auch bei Bagatellen über den Doktor-Service zur Unzeit oder sucht bei Bedarf Krankenhausambulanzen auf. Ursachen hierfür sind u. a. mangelnde Aufklärung und das Unvermögen, allen täglichen Anforderungen geordnet gerecht zu werden.

Die Tuberkulose, die Krankheit der Armen, nimmt zu. Hatte ich 15 Jahre lang in der Praxis keine Tbc-Fälle mehr zu behandeln, so in den letzten fünf Jahren gleich sechs unter meinen Patientinnen und Patienten. Alle Betroffenen stammten aus unterprivilegierten Gruppen, nämlich psychiatrischen Heimpatienten, Migranten, illegal in Hannover Lebenden und Aus- und Übersiedlern mit schlechten Wohnlagen.

Die Versorgung derjenigen, die trotz Vollversicherung mit gleichem Zugangsrecht aller Bürger zu jeglicher Gesundheitsleistung durch unser soziales Netz fallen, ist erst in den letzten Jahren und fast nur auf individueller Basis von Einzelinitiativen geleistet worden. Allen voran Ärztinnen und Ärzte haben bundesweit Wohnungslosen- und Illegalenprojekte gestartet, betreiben Gesundheitsförderung in Schule und Kindergarten, etablieren Nichtraucherprogramme und Ernährungsberatung, gestalten sozialpsychiatrische Verbünde und betreuen Suchtpatienten, Heimbewohner und Patienten ohne Versicherungsschutz mit Engagement und oft ohne entsprechendes Honorar.

Was individuelles ärztliches Engagement bewirken mag, liest sich beeindruckend in einem Interview mit der Berliner Kollegin Renate Schüssler, die seit 20 Jahren eine kinderärztliche Praxis in Berlin-Kreuzberg betreibt und bis zu 90 Prozent Migrantenkinder aus türkischen, arabischen und jugoslawischen Familien betreut.

Sie beklagt vor allem eine zunehmende Verarmung und Verslumung ihres Stadtteils, das Aufblähen von Bagatellerkrankungen und Unzugänglichkeit für Gesundheitsaufklärung bei den Eltern, gesundheitsschädigende Lebensweisen, Erziehungsprobleme und mangelndes Interesse für Körper, Hygiene, Ernährung usw. bei ihren kleinen Patientinnen und Patienten.

Am Ende des Interviews in einer Fachzeitschrift findet sich dann folgende Passage. Es wird die Frage gestellt:

Was sehen Sie heute als konkreten Erfolg Ihrer bisherigen Arbeit in Kreuzberg an?

Antwort von Frau Schüssler:

Erfolg oder Misserfolg hat man ja vor allem in der individuellen Arbeit mit den Patienten und die Wirkungen aus einer Praxis in einem Bezirk können nur beschränkt sein. Ich habe aber seit längerem Eltern, die bereits als Kinder Patienten bei mir waren, und die sind auffallend informiert, kritisch und offen im Umgang – vielleicht ist das eine Frucht früherer Bemühungen. Seit ein, zwei Jahren beobachten wir, dass Eltern häufiger zu den Informationsbroschüren greifen und anfangen, darin zu lesen, sie mit nach Hause nehmen. Das gab es früher nicht. Langsam beginnt die Patientenaufklärung Früchte zu tragen, nehmen die Selbstständigkeit und der Wunsch, sich Wissen anzueignen, bei unseren Patienten zu. Kleine Schritte, sicher – aber das freut mich sehr.

Und das beeindruckt auch uns. Aber: Dieser von Frau Kollegin Schüssler bewirkte Empowerment- und Emanzipationsprozess hat immerhin auch 20 Jahre gedauert!

Es ergibt sich also die Frage, ob in unserem System neben solcher Art individuellem Engagement Einzelner auch kompensatorische Programme umsetzbar sind, die schnellere Erfolge zeitigen werden. Konkret gefragt: Welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, damit auch wir, die klassisch kurativ und in der Primärversorgung tätigen Ärztinnen und Ärzte, dazu beitragen können, die sozial bedingten gesundheitlichen Defizite unserer unterprivilegierten Patientinnen und Patienten auszugleichen?

Der Deutsche Ärztetag möge sich folgende Vorschläge zu Eigen machen:

Das Problem „Armut und Gesundheit“ muss deutlich mehr Gewicht in medizinischer Forschung, Lehre, Fort- und Weiterbildung erhalten.

Die von der Bundesärztekammer vorangetriebene Versorgungsforschung muss sich des Themas annehmen. Denkbare Fragestellungen für Forschungsaufträge wären: Welche medizinischen und ärztlichen Angebote brauchen Unterprivilegierte, um eine gerechte Gesundheitsversorgung zu erfahren? Oder: Welche Kooperationsformen und neuen Versorgungsstrukturen verbessern nicht nur die Behandlung einzelner Krankheitsbilder, sondern die der Patientengruppen in unterprivilegierten Lebensbedingungen und Wohnvierteln?

Künftige Gesundheitsversorgung muss im primärärztlichen Bereich gemeindeorientiert im Rahmen von Vernetzungsstrukturen arbeiten. Es ist Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes, gemeinsam mit hausärztlich und psychiatrisch tätigen Ärztinnen und Ärzten, Pflegediensten und der Sozialarbeit Defizite der gesundheitlichen Versorgung in besonders betroffenen Regionen und Stadtteilen zu identifizieren und koordinierend die Beteiligten im Sinne einer gemeindeorientierten Handlungsweise zusammenzuführen. Das heißt, zum Beispiel ärztliche Präsenzzeiten in Schule und Kindergarten sowie sozialpsychiatrische Verbünde und eine aufsuchende Versorgung Unterprivilegierter zu organisieren.

Gelder aus dem Risikostrukturausgleich sollten denjenigen Krankenkassen zufließen, die Projekte zur Förderung der Gesundheit unterprivilegierter Patientengruppen, beispielsweise entsprechende Netzwerke, unterstützen.

Wenn der Vorstand der Bundesärztekammer und seine Fachberufegremien, wie heute Morgen mit Für und Wider diskutiert, ein Curriculum für die Weiterbildung zur Arztfachhelferin in der hausärztlichen Praxis entwickeln würden, wäre eine solche Arzthelferin befähigt, aus der hausärztlichen Praxis heraus unter Aufsicht und Anleitung der Ärztin bzw. des Arztes bestimmte Patientengruppen zu versorgen und anzuleiten, das heißt, beispielsweise Präventionsprogramme anzubieten und eigenständig regelmäßige Hausbesuche zur Betreuung unterprivilegierter Patientengruppen durchzuführen, beispielsweise bei chronisch Kranken, Alten, Dementen oder psychisch Kranken sowie bei Kinderreichen oder Patientinnen mit Neugeborenen.

Krankenkassen und Gemeinden sollen Honorarzuschläge bzw. Unterstützungszahlungen an Hausärzte, Kinderärzte und Psychiater bei Niederlassung in unterprivilegierten Regionen gewähren.

Krankenkassen leisten Bonuszahlungen außerhalb der Gesamtvergütung an Arztgruppen, die sozial benachteiligte Patientinnen und Patienten an Präventionsmaßnahmen heranführen.

Krankenkassenverbände honorieren außerhalb der Gesamtvergütung Hausärzte und Psychiater, die aufsuchende Betreuung, also regelmäßige Hausbesuche zum Beispiel bei Wohnungslosen, alten Menschen, Heimbewohnern, psychiatrisch Kranken und Migranten, leisten.

Sozialpsychiatrische Dienste werden nicht ab-, sondern ausgebaut. Sozialpsychiatrische Verbünde werden gefördert, ambulante psychiatrische Pflege nach Auslaufen des bundesweiten Modellversuchs wird als Regelleistung der Krankenkasse flächendeckend übernommen.

Sämtliche Zuzahlungen und die Praxisgebühr für Wohnungslose und Heimpatienten werden gestrichen. Zuzahlungen für Kinder zu Medikamenten müssen erst ab dem 18. Lebensjahr statt wie bisher ab dem 12. Lebensjahr geleistet werden.

Abschließend mein Appell an alle Ärztinnen und Ärzte, an unsere Berufsverbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaften: Es sollte uns gelingen, bei der weiteren Planung und Gestaltung neuer Versorgungsstrukturen Modellprojekte der Vernetzung und Kooperation mit anderen Berufsgruppen für unterprivilegierte Patientengruppen zu entwickeln. Da hier die schlechtesten Gesundheitsrisiken liegen, wäre ein langfristiges Engagement auf Dauer nicht nur kostensparend, sondern im Sinne der betroffenen „armen“ Patientinnen und Patienten eine lohnenswerte Investition.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach Molière sind wir nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. Die Lithografie von Käthe Kollwitz, die mein Referat begleitend zu sehen war, hat mir mein Vater zu Beginn meines Medizinstudiums geschenkt, als Appell für ein soziales und politisches Engagement von Ärztinnen und Ärzten. Und dieser gilt auch in unserem neuen Jahrhundert weiter.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Vielen Dank, Frau Goesmann. Ich danke allen drei Referenten für die Vorstellung dieses Themas. Ich glaube, es wird hier unter uns gar keine großen Kontroversen geben. Wir haben bisher drei Wortmeldungen vorliegen, was keine Aufforderung sein soll, die Zahl zu erhöhen. Ich glaube, die vorliegenden Anträge sind einvernehmlich abzustimmen. Wir können noch die eine oder andere Kritik und den einen oder anderen Vorschlag hören; dann könnten wir in die Abstimmung eintreten. Es wäre gut, wenn wir dieses Thema noch am heutigen Abend beenden könnten. Ich denke, wir ziehen das jetzt durch.

Die Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten gilt formal nicht mehr, da wir in einem neuen Tagesordnungspunkt sind. Vielleicht können sich die drei Diskussionsredner so verhalten, als gäbe es die Redezeitbegrenzung noch.

Der erste Redner ist Herr Dr. Urban aus Berlin. Bitte schön.

 

© 2005, Bundesärztekammer.