Dr. Goesmann, Referentin:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Herren Referenten!
Mir fällt der Part zu, Anteil und Rolle von Ärztinnen und Ärzten
im Bereich der primärärztlichen Versorgung Unterprivilegierter zu
beschreiben, darzustellen, ob und wie Ärztinnen und Ärzte gesundheitliche
Folgen von Armut identifizieren, wahrnehmen und aufgreifen, und
welche Aufgaben und Ziele in diesem Zusammenhang für die Ärzteschaft
definiert werden müssen.
Ich beschränke mich auf meinen Erfahrungsbereich, die
ambulante kurative Medizin, zumal hier der größte Teil der Kontakte zu den
unterprivilegierten Patientengruppen stattfindet, auf die der Armutsbegriff –
oder Aspekte davon – zutrifft.
Der Begriff „Armut“ wurde von meinen Vorrednern umfangreich
definiert. Für mich, die ich täglich mit Kranken und bedürftigen Menschen
arbeite, bedeutet er nicht nur relative Einkommensarmut, sondern eine
„Anhäufung von Unterversorgungslagen“. Das bedeutet Armut auch als
Unterversorgung in relevanten Lebensbereichen, nämlich Armut an Arbeit, an
Bildung, an Wohnungsmöglichkeiten, an Kultur und Politik, an Beziehungen und an
emotionalen Bindungen; Armut also definiert als mangelhafter Zugang zu einem
gesellschaftlich akzeptierten Lebensstandard.
Dieses subjektive Armutskonzept geht in der Regel Hand in Hand
mit gesundheitlicher Ungleichheit. Hiervon betroffene Gruppen, auf die wir in
der Praxis stoßen, sind vor allem Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose,
Wohnungslose und Illegalisierte, Migranten, allein erziehende Frauen,
kinderreiche Familien, psychisch Kranke und Heimbewohner.
In der täglichen Praxis der Primärversorgungsebene, das heißt
bei Kinder- und Jugendärzten, Praktischen Ärzten und Ärzten für
Allgemeinmedizin, hausärztlich tätigen Internisten und Psychiatern, hier vor
allem sozialpsychiatrisch tätigen Kolleginnen und Kollegen, lassen sich
innerhalb dieser aufgeführten Gruppen wiederum verschiedene Patiententypen
unterscheiden.
Ich nenne als ersten Patiententyp diejenigen, die sich einer
Behandlung in unserem System der Regelversorgung aus medizinisch oder sozial
begründeten Ängsten heraus so lange wie möglich oder völlig entziehen, wie
beispielsweise Obdachlose, Illegalisierte und psychiatrisch Kranke, und die
unserer ärztlichen Aufmerksamkeit und Fürsorge völlig entgehen, wenn hierfür
nicht nur die Gesundheitspolitik, sondern auch wir selbst nicht sensibilisiert
wären.
Die zweite Gruppe bilden diejenigen Patientinnen und
Patienten, die sich aus ihrer sozialen Lage heraus stigmatisiert fühlen, sich
zurückziehen und weniger medizinische Leistungen in Anspruch nehmen als vor
ihrem sozialen Abstieg, wie Arbeitslose und Alleinerziehende.
Schließlich gibt es drittens Patientengruppen, die öfter als
der Durchschnitt das Gesundheitswesen in Anspruch nehmen, aber aufgrund von
Bildungsmängeln, Sprach- und Kulturbarrieren und mangelnder finanzieller Mittel
die ärztlichen und medizinischen Angebote nicht aufgreifen, verstehen und
nutzen. Hier seien exemplarisch Migranten, alte Menschen und Kinderreiche
genannt. Diese Zusammenhänge sollten uns durchaus klar sein, damit diese
Gruppen unserer Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht entgehen.
Wir, die wir uns wohl für gute Ärztinnen und Ärzte halten,
haben den Anspruch, alle Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrer
sozialen Lage, ihrem Bildungsgrad und ihrer Herkunft ausschließlich
entsprechend ihren individuellen medizinischen Bedürfnissen zu behandeln und
denjenigen, bei denen wir eine gesundheitliche Benachteiligung feststellen,
besondere Fürsorge zukommen zu lassen. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus:
So folgt der sozialen Benachteiligung nicht etwa gesamtgesellschaftlich eine
bessere, sondern eher eine schlechtere Gesundheitsversorgung – eine
Feststellung, die schon 1971 in einer Ausgabe des „Lancet“ von Tudor Hart das „inverse
care law“ genannt wurde.
Wie stellt sich dies alles in der täglichen Praxis dar?
Durch die Praxisgebühr und die Zuzahlungsregelungen des GMG
für Arzneimittel, Heilmittel und Krankenfahrten ist es zu einer sinkenden
Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen insgesamt, überraschenderweise aber
auch von Impfungen und Vorsorgeleistungen, die ja durchaus zuzahlungsfrei sind,
gekommen.
Der Gesundheitszustand vor allem von Obdachlosen und psychisch
Kranken hat sich verschlechtert, weil gerade diese nicht in der Lage sind,
Zuzahlungen zu nötigen Medikamenten zu leisten und ihre Belege für den
Befreiungsantrag ordnungsgemäß in Ordnern zu sammeln und dann noch bei der
Krankenkasse abzugeben.
Die Versorgung mit selbst zu zahlenden Brillen und Zahnersatz
bei Armen sinkt deutlich und Besorgnis erregend.
Unsere Obdachlosensprechstunden werden zunehmend von anderen
mittellosen Bevölkerungsgruppen aufgesucht, da es sich herumgesprochen hat,
dass es dort Medikamente, finanziert durch Spenden, umsonst gibt. Die aktuelle
Evaluation des Wohnungslosenprojekts, das ich in Hannover begründet habe, in
dem ehrenamtlich tätige Kolleginnen und Kollegen dreimal die Woche Sprechstunden
für Obdachlose abhalten, zeigt für die letzten vier Jahre eine Gesamtzahl von
4 162 Arzt-Patient-Kontakten mit einer deutlichen Zunahme an Behandlungen
für das Jahr 2004, das erste Jahr des GMG.
Langjährig in hausärztlichen Praxen versorgte Patientinnen und
Patienten, die arbeitslos werden, unterliegen sehr häufig einem wahrnehmbaren
Prozess von Depression und Verwahrlosung und entziehen sich aus Scham mehr und
mehr ärztlicher Betreuung.
Bei Hausbesuchen finden sich immer mehr Patientinnen und
Patienten, die in ihrer Haushaltsführung verwahrlosen, weil sie heutzutage
erheblich früher aus der stationären Behandlung entlassen werden und sich bis
zur völligen Rekonvaleszenz keine Hilfe für Haushalt und Pflege leisten können.
Kolleginnen und Kollegen, die häufig nachts und am Wochenende
im städtischen Bereich am fahrenden Notdienst teilnehmen, berichten über eine
steigende Inanspruchnahme unter anderem von Migranten in schlechten Wohnlagen.
Dieser Personenkreis fällt offensichtlich zunehmend aus einer regelmäßigen
hausärztlichen Betreuung heraus und organisiert sich seine medizinische
Versorgung auch bei Bagatellen über den Doktor-Service zur Unzeit oder sucht
bei Bedarf Krankenhausambulanzen auf. Ursachen hierfür sind u. a. mangelnde
Aufklärung und das Unvermögen, allen täglichen Anforderungen geordnet gerecht
zu werden.
Die Tuberkulose, die Krankheit der Armen, nimmt zu. Hatte ich
15 Jahre lang in der Praxis keine Tbc-Fälle mehr zu behandeln, so in den
letzten fünf Jahren gleich sechs unter meinen Patientinnen und Patienten. Alle
Betroffenen stammten aus unterprivilegierten Gruppen, nämlich psychiatrischen
Heimpatienten, Migranten, illegal in Hannover Lebenden und Aus- und
Übersiedlern mit schlechten Wohnlagen.
Die Versorgung derjenigen, die trotz Vollversicherung mit
gleichem Zugangsrecht aller Bürger zu jeglicher Gesundheitsleistung durch unser
soziales Netz fallen, ist erst in den letzten Jahren und fast nur auf
individueller Basis von Einzelinitiativen geleistet worden. Allen voran
Ärztinnen und Ärzte haben bundesweit Wohnungslosen- und Illegalenprojekte
gestartet, betreiben Gesundheitsförderung in Schule und Kindergarten,
etablieren Nichtraucherprogramme und Ernährungsberatung, gestalten
sozialpsychiatrische Verbünde und betreuen Suchtpatienten, Heimbewohner und
Patienten ohne Versicherungsschutz mit Engagement und oft ohne entsprechendes
Honorar.
Was individuelles ärztliches Engagement bewirken mag, liest
sich beeindruckend in einem Interview mit der Berliner Kollegin Renate Schüssler,
die seit 20 Jahren eine kinderärztliche Praxis in Berlin-Kreuzberg
betreibt und bis zu 90 Prozent Migrantenkinder aus türkischen, arabischen
und jugoslawischen Familien betreut.
Sie beklagt vor allem eine zunehmende Verarmung und Verslumung
ihres Stadtteils, das Aufblähen von Bagatellerkrankungen und Unzugänglichkeit
für Gesundheitsaufklärung bei den Eltern, gesundheitsschädigende Lebensweisen,
Erziehungsprobleme und mangelndes Interesse für Körper, Hygiene, Ernährung usw.
bei ihren kleinen Patientinnen und Patienten.
Am Ende des Interviews in einer Fachzeitschrift findet sich
dann folgende Passage. Es wird die Frage gestellt:
Was sehen Sie heute als konkreten Erfolg Ihrer bisherigen
Arbeit in Kreuzberg an?
Antwort von Frau Schüssler:
Erfolg oder Misserfolg hat man ja vor allem in der individuellen
Arbeit mit den Patienten und die Wirkungen aus einer Praxis in einem Bezirk
können nur beschränkt sein. Ich habe aber seit längerem Eltern, die bereits als
Kinder Patienten bei mir waren, und die sind auffallend informiert, kritisch
und offen im Umgang – vielleicht ist das eine Frucht früherer Bemühungen. Seit
ein, zwei Jahren beobachten wir, dass Eltern häufiger zu den Informationsbroschüren
greifen und anfangen, darin zu lesen, sie mit nach Hause nehmen. Das gab es
früher nicht. Langsam beginnt die Patientenaufklärung Früchte zu tragen, nehmen
die Selbstständigkeit und der Wunsch, sich Wissen anzueignen, bei unseren
Patienten zu. Kleine Schritte, sicher – aber das freut mich sehr.
Und das beeindruckt auch uns. Aber: Dieser von Frau Kollegin Schüssler
bewirkte Empowerment- und Emanzipationsprozess hat immerhin auch 20 Jahre
gedauert!
Es ergibt sich also die Frage, ob in unserem System neben
solcher Art individuellem Engagement Einzelner auch kompensatorische Programme
umsetzbar sind, die schnellere Erfolge zeitigen werden. Konkret gefragt: Welche
Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, damit auch wir, die klassisch
kurativ und in der Primärversorgung tätigen Ärztinnen und Ärzte, dazu beitragen
können, die sozial bedingten gesundheitlichen Defizite unserer
unterprivilegierten Patientinnen und Patienten auszugleichen?
Der Deutsche Ärztetag möge sich folgende Vorschläge zu Eigen
machen:
Das Problem „Armut und Gesundheit“ muss deutlich mehr Gewicht
in medizinischer Forschung, Lehre, Fort- und Weiterbildung erhalten.
Die von der Bundesärztekammer vorangetriebene
Versorgungsforschung muss sich des Themas annehmen. Denkbare Fragestellungen
für Forschungsaufträge wären: Welche medizinischen und ärztlichen Angebote
brauchen Unterprivilegierte, um eine gerechte Gesundheitsversorgung zu
erfahren? Oder: Welche Kooperationsformen und neuen Versorgungsstrukturen
verbessern nicht nur die Behandlung einzelner Krankheitsbilder, sondern die der
Patientengruppen in unterprivilegierten Lebensbedingungen und Wohnvierteln?
Künftige Gesundheitsversorgung muss im primärärztlichen
Bereich gemeindeorientiert im Rahmen von Vernetzungsstrukturen arbeiten. Es ist
Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes, gemeinsam mit hausärztlich und
psychiatrisch tätigen Ärztinnen und Ärzten, Pflegediensten und der Sozialarbeit
Defizite der gesundheitlichen Versorgung in besonders betroffenen Regionen und
Stadtteilen zu identifizieren und koordinierend die Beteiligten im Sinne einer
gemeindeorientierten Handlungsweise zusammenzuführen. Das heißt, zum Beispiel
ärztliche Präsenzzeiten in Schule und Kindergarten sowie sozialpsychiatrische
Verbünde und eine aufsuchende Versorgung Unterprivilegierter zu organisieren.
Gelder aus dem Risikostrukturausgleich sollten denjenigen
Krankenkassen zufließen, die Projekte zur Förderung der Gesundheit
unterprivilegierter Patientengruppen, beispielsweise entsprechende Netzwerke,
unterstützen.
Wenn der Vorstand der Bundesärztekammer und seine Fachberufegremien,
wie heute Morgen mit Für und Wider diskutiert, ein Curriculum für die Weiterbildung
zur Arztfachhelferin in der hausärztlichen Praxis entwickeln würden, wäre eine
solche Arzthelferin befähigt, aus der hausärztlichen Praxis heraus unter
Aufsicht und Anleitung der Ärztin bzw. des Arztes bestimmte Patientengruppen zu
versorgen und anzuleiten, das heißt, beispielsweise Präventionsprogramme
anzubieten und eigenständig regelmäßige Hausbesuche zur Betreuung unterprivilegierter
Patientengruppen durchzuführen, beispielsweise bei chronisch Kranken, Alten, Dementen
oder psychisch Kranken sowie bei Kinderreichen oder Patientinnen mit
Neugeborenen.
Krankenkassen und Gemeinden sollen Honorarzuschläge bzw.
Unterstützungszahlungen an Hausärzte, Kinderärzte und Psychiater bei
Niederlassung in unterprivilegierten Regionen gewähren.
Krankenkassen leisten Bonuszahlungen außerhalb der
Gesamtvergütung an Arztgruppen, die sozial benachteiligte Patientinnen und Patienten
an Präventionsmaßnahmen heranführen.
Krankenkassenverbände honorieren außerhalb der Gesamtvergütung
Hausärzte und Psychiater, die aufsuchende Betreuung, also regelmäßige
Hausbesuche zum Beispiel bei Wohnungslosen, alten Menschen, Heimbewohnern, psychiatrisch
Kranken und Migranten, leisten.
Sozialpsychiatrische Dienste werden nicht ab-, sondern
ausgebaut. Sozialpsychiatrische Verbünde werden gefördert, ambulante
psychiatrische Pflege nach Auslaufen des bundesweiten Modellversuchs wird als
Regelleistung der Krankenkasse flächendeckend übernommen.
Sämtliche Zuzahlungen und die Praxisgebühr für Wohnungslose
und Heimpatienten werden gestrichen. Zuzahlungen für Kinder zu Medikamenten
müssen erst ab dem 18. Lebensjahr statt wie bisher ab dem 12. Lebensjahr geleistet
werden.
Abschließend mein Appell an alle Ärztinnen und Ärzte, an
unsere Berufsverbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaften: Es sollte uns
gelingen, bei der weiteren Planung und Gestaltung neuer Versorgungsstrukturen
Modellprojekte der Vernetzung und Kooperation mit anderen Berufsgruppen für
unterprivilegierte Patientengruppen zu entwickeln. Da hier die schlechtesten
Gesundheitsrisiken liegen, wäre ein langfristiges Engagement auf Dauer nicht
nur kostensparend, sondern im Sinne der betroffenen „armen“ Patientinnen und
Patienten eine lohnenswerte Investition.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach Molière sind wir
nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir
nicht tun. Die Lithografie von Käthe Kollwitz, die mein Referat begleitend zu
sehen war, hat mir mein Vater zu Beginn meines Medizinstudiums geschenkt, als
Appell für ein soziales und politisches Engagement von Ärztinnen und Ärzten.
Und dieser gilt auch in unserem neuen Jahrhundert weiter.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Frau Goesmann. Ich danke allen drei Referenten für die Vorstellung dieses
Themas. Ich glaube, es wird hier unter uns gar keine großen Kontroversen geben.
Wir haben bisher drei Wortmeldungen vorliegen, was keine Aufforderung sein
soll, die Zahl zu erhöhen. Ich glaube, die vorliegenden Anträge sind
einvernehmlich abzustimmen. Wir können noch die eine oder andere Kritik und den
einen oder anderen Vorschlag hören; dann könnten wir in die Abstimmung
eintreten. Es wäre gut, wenn wir dieses Thema noch am heutigen Abend beenden
könnten. Ich denke, wir ziehen das jetzt durch.
Die Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten gilt formal nicht
mehr, da wir in einem neuen Tagesordnungspunkt sind. Vielleicht können sich die
drei Diskussionsredner so verhalten, als gäbe es die Redezeitbegrenzung noch.
Der erste Redner ist Herr Dr. Urban aus Berlin. Bitte schön.
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