TOP VII: Ärztliches Fehlermanagement/Patientensicherheit

3. Tag: Donnerstag, 5. Mai 2005 Vormittagssitzung

Dr. Jonitz, Referent:
Copyright el-zorro.de, 2005. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen keine Fehler machen. Deswegen haben wir eine Pause zwischen meinem Referat zu dem eher politischen Aspekt dieses Themas und dem Referat von Herrn Professor Schrappe. Das Thema ist uns in der Vergangenheit mehrfach begegnet. Es ist im Prinzip so alt wie die Medizin selber. Es erlebt zurzeit eine große Renaissance. Ich möchte Ihnen mit meiner Präsentation das Thema näher bringen und Sie gleich zu Beginn bitten, den Vorstandsantrag positiv zu bescheiden.

Was haben die Ärztekammern damit zu tun? Die Ärztekammern unterliegen – das kann man sich gar nicht oft genug in Erinnerung rufen – der Gemeinwohlbindung. Sie sind kein Selbstzweck. Ärztekammern sind vom Gesetzgeber geschaffen worden, damit den Patienten, wenn es irgend geht, kein Schaden entstehe. Die Ärztekammern sind Einrichtungen zum Schutz von Patienten. Zu diesem Zweck haben wir von der Gesellschaft Rechte und Pflichten verliehen bekommen.

Dieser Aufgabe werden die Kammern auf unterschiedlichen Wegen gerecht, beispielsweise durch die Berufs- und Weiterbildungsordnung, die Fortbildungsordnung, die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. Die Ärztekammern sind darüber hinaus – das möchte ich hier betonen – die einzigen übergreifenden, sachkundigen und unabhängigen Einrichtungen im Gesundheitswesen. Alle anderen Einrichtungen sind entweder sachkundig, aber nicht unabhängig oder unabhängig, aber nicht sachkundig oder weder das eine noch das andere. Dieser Verantwortung müssen wir gerecht werden.

Das Thema ist, wie gesagt, so alt wie die Medizin selber. Es ist weder neu noch Aufsehen erregend noch ungehörig. Allerdings ist das Thema heikel. Der Schutz des Patienten betrifft den sensibelsten Bereich des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient. Gerade weil der Patient, der sich in subjektiver und objektiver Not befindet, ein besonderes Schutzbedürfnis hat, muss alles dafür getan werden, dass dieser Schutz gewährleistet und vor allem das Vertrauen in den Arzt und seine Behandlung gewahrt bleibt.

Das Thema weist ein hohes Missbrauchspotenzial auf. Die Dramatisierung von realen oder behaupteten Fehlern in der Patientenversorgung ist uns bis in die jüngere Vergangenheit aus Presse, Funk und Fernsehen und leider auch aus der Politik bekannt. Sie wird gerne dafür genützt, um in der Diskussion den „politischen Gegner“ beispielsweise vor Budgetverhandlungen zu schwächen. Die Stigmatisierung unseres Berufsstands fällt ebenfalls in diese Kategorie. Sie alle kennen die Liste spektakulärer Buchtitel; diese Liste ist genauso lang wie langweilig. Die allermeisten davon leben von Sensationsdarstellungen und der Schaulust und tragen leider wenig zur Aufklärung bei.

Gleichwohl zwei Beispiele. „Halbgott in Weiß“ oder „schwarzes Schaf“ betrifft einen früheren Ordinarius. In demselben Jahr entdeckte ein Patientenverband fast 25 000 Tote durch „Ärztepfusch“. Die Zahlen sind nicht belegt. Es handelt sich um Hochrechnungen aus den USA. Diese Hochrechnungen aus den USA sind auf uns genauso übertragbar, wie der Stadtplan von New York auf den Stadtplan von Berlin übertragbar ist. Bei diesen Zahlen wird regelmäßig vergessen oder ignoriert, wie viele dieser Patienten den Arzt vor die Wahl stellten, entweder nichts zu tun und den Patienten dem sicheren Tod zu überlassen oder für diesen Patienten ein Risiko einzugehen, beispielsweise eine Hospitalinfektion nach einer schweren Operation. Arzt sein heißt: Risiken abschätzen, abwägen und notfalls Risiken im Interesse des Patienten eingehen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich fühle mich als Vertreter der Ärzteschaft im ersten Anlauf bei solchen Schlagzeilen immer betroffen. Gleichzeitig ärgere ich mich über pauschale, extreme Darstellungen. Wir müssen nach Möglichkeit die Wiederholung von möglichen Missständen vermeiden.

Lassen Sie uns die Befunde erheben: Erstens. Die Medizin wird leistungsfähiger und komplexer. Zweitens. Unsere Patienten werden älter, anfälliger und anspruchsvoller. Drittens. Die Rahmenbedingungen für gute Medizin werden schlechter. Wie die schlechteren Rahmenbedingungen aussehen können, habe ich Ihnen bereits vor einigen Jahren dargestellt. Das, was ich damals sagte, gilt noch immer. Mittlerweile verfügen wir über konkrete Erfahrungen. Im März 1996 stellte ein Artikel in der Zeitschrift „f & w“ – das ist die Zeitschrift der privaten Krankenhausträger – Folgendes fest:

Mit ca. 65 bis 70 % stellt der Personalbereich den Hauptblock der Kosten dar. … Für die Krankenhausleitung bleibt die qualitative Besetzung (zum Beispiel AiP anstelle Assistenzarzt) der Stellen, die Anzahl der Stellen und Teile der variablen Personalkosten (Bereitschaftsdienste) beeinflussbar. Die Einhaltung des extern vereinbarten Personalbudgets, vermindert um eine kalkulierte Sicherheitsrate, ist der Hauptansatzpunkt jedes Kostenmanagements.

Man kann diesen Satz drehen und wenden, wie man will: Er bedeutet, dass man weniger Personal hat, dass man weniger qualifiziertes Personal hat, die kalkulierte Sicherheitsrate ist zulasten der Patientenversorgung kalkuliert. Geht etwas schief, haftet der Arzt. Aus einem Systemfehler wird im Zweifelsfall das individuelle Verschulden des einzelnen Arztes. Er haftet persönlich für das Versagen an höherer Stelle. Dies ist ungerecht, unmoralisch und falsch.

(Beifall)

In diesem Zusammenhang sind auch die Proteste unserer Kolleginnen und Kollegen zu verstehen, die für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gehen. Es geht nicht einfach um die Arbeitszeit oder das Einkommen. Wenn die Zwickmühle, in die jeder einzelne klinisch tätige Arzt gestellt wird, so groß wird, dass er seiner ärztlichen Verantwortung nicht mehr gerecht werden kann, sind Proteste und Ausstieg die Konsequenz.

Erfreulicherweise stehen wir mit diesem Problem nicht ganz allein. Der Zusammenhang zwischen einer übermäßigen Arbeitsbelastung und der Produktion von Fehlern bei der Patientenversorgung wurde in zwei lesenswerten Arbeiten im „New England Journal of Medicine“ im Oktober letzten Jahres dargestellt. In den beiden Arztgruppen – zum einen auf der Intensivstation, zum anderen im normalen Hausdienst – konnte die belegbare Zahl von Fehlern zum Teil um die Hälfte, zum Teil um das Drei- bis Fünffache reduziert werden. Ich bin neugierig, wann sich diese Erkenntnis auch in deutschen Arbeitgebergremien und auch auf der politischen Ebene herumspricht.

(Beifall)

Nun wird die Patientensicherheit als Thema gern dann entdeckt, wenn diese tatsächlich bedroht ist. Dies scheint auch jetzt der Fall zu sein. Der Grund für die ärztliche Selbstverwaltung, sich dieses Themas jetzt anzunehmen, liegt aber vor allen Dingen darin, dass wir neben größeren Problemen auch neue und wichtige Handlungsmöglichkeiten haben. Deshalb spricht der Antrag VII-1 des Vorstands von „Herausforderungen“ und „Möglichkeiten“. Wir haben uns bemüht, eine Dramatisierung des Themas durch die Wortwahl zu vermeiden.

Es gibt im Wesentlichen drei Handlungsmöglichkeiten: Erstens. Das Wissen um den Umgang mit Fehlern nimmt zu. Wir haben gelernt. Die Luftfahrt und die Arbeits- und Organisationspsychologie zeigen, dass überall dort, wo Menschen arbeiten, Organisations- und vor allem Kommunikationsmängel die Hauptursache für unerwünschte Ereignisse oder Fehler sind. Es ist eben nicht der verhängnisvolle Fehler eines Einzelnen.

Wie es um die Organisation und um die Kommunikation beispielsweise in unseren Krankenhäusern steht, darüber können wir uns an anderer Stelle selbst ein Bild machen. Die wenigen Studien, die es zu diesem Thema gibt, werfen kein gutes Licht auf den Umgang untereinander, schon gar nicht im ärztlichen Dienst. Die auch von zahlreichen Deutschen Ärztetagen wiederholte Klage über das strikt hierarchische System an deutschen Krankenhäusern findet auch in diesem Zusammenhang ihre Berechtigung. Wenn die Bundespolitik wissen möchte, warum es dort Probleme gibt, könnte man ihr empfehlen, die früheren Beschlüsse der Deutschen Ärztetage nachzulesen.

Zweitens. Es stehen neue Verfahren zur Fehlervermeidung und zum Lernen aus Fehlern zur Verfügung. Hier nenne ich die Fehlerlernsysteme – Critical Incident Reporting Systems –, Fortbildungen, Schulungen und die Zertifizierung.

Drittens. Neben neuem Wissen und neuen Verfahren ist vor allem die politische Einsicht zu konkreten Handlungen vorhanden, und zwar auf gleichberechtigter Basis. Die gleichberechtigte Basis ist deswegen wichtig, weil das alte Prinzip, das Professor Eichhorn vor mehr als zehn Jahren beschrieben hat, folgendermaßen aussieht:

Autoritäres Handeln verbunden mit negativen Anreizen wird immer dazu verleiten, aufgetretene Probleme nicht auszuweisen.

Das gilt im Krankenhaus genauso wie in der Politik. Durch autoritäres Auftreten mit negativen Anreizen blieben in der Vergangenheit leider einige Dinge liegen. Diese schlichte Erkenntnis zeigt vor allen Dingen eines: Wir brauchen eine gemeinsame Institution, mit der man zusammenarbeiten kann. Was wir nicht brauchen, ist eine „Bundesoberfehlerbehörde“.

Die Zeit ist reif, sich über dieses Thema systematisch und sachlich, transparent und fair auszutauschen und aktiv zu werden. Auf mehreren Veranstaltungen und in Workshops, in Sitzungen im Bundesministerium, in der Ärztekammer Nordrhein und in der Ärztekammer Berlin hat sich der Wunsch herauskristallisiert, dieses Thema gemeinsam und konkret anzugehen.

Auch die Vorstände von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Bundesärztekammer haben im Oktober letzten Jahres beschlossen, dass zur kontinuierlichen Förderung der Patientensicherheit und zur Weiterentwicklung einer Fehlerkultur die Vorstände beider Einrichtungen die Etablierung von Beinahe-Fehler-Berichtssystemen und die Bildung eines Netzwerks für Fehlervermeidungsstrategien und Risikomanagement zwecks Bündelung der bereits auf der Ebene der ärztlichen Selbstverwaltung und der medizinischen Fachgesellschaft entwickelten Initiativen befürworten.

Wie sieht das konkret aus? Nehmen Sie die ärztliche Selbstverwaltung als Ausgangspunkt. Wir bilden keine Wagenburg. Wir stehen zu dem, was wir tun, auch wenn es zum Teil unerfreulich ist. Wir arbeiten selbstverständlich mit allen Institutionen zusammen, die mit diesem Thema zu tun haben. Gemeinsamkeit macht stark und schafft darüber hinaus wichtige Verbündete.

Die Abstimmung mit diesen Einrichtungen erfolgt durch eine Organisation auf gleicher Augenhöhe, als so genannte Netzwerkorganisation zwischen Selbstverwaltung, wissenschaftlichen Fachgruppen und Berufsverbänden, dem Pflegerat, den Krankenkassen, der Krankenhausgesellschaft, den Patientenorganisationen und anderen Institutionen.

Offenheit und Transparenz schaffen Vertrauen. Vertrauen brauchen wir, Vertrauen brauchen unsere Patienten. Wir müssen den Kulturwandel fördern, nämlich die Abkehr von der Suche nach Schuldigen und die Hinwendung zur Suche nach den Ursachen. Nicht die Frage „Wer war schuld?“, sondern „Was war schuld?“ ist künftig die Leitfrage bei Fehlern oder unerwünschten Ereignissen. Sie hilft Ursachen zu erkennen und abzustellen. Dies entspricht auch unserer ärztlichen Professionalität und unserem Selbstverständnis als freier Beruf.

Durch die Definition von Praxisstandards, beispielsweise durch Leitlinien, durch Qualitätsmanagementverfahren und Verfahren des Risikomanagements und der Definition von Qualitätsindikatoren werden Fixpunkte geschaffen, die helfen, gesteckte Ziele konkret zu erreichen.

Wir haben Verfahren und Instrumente, um das Wissen entsprechend unter die Leute zu bringen. Hier nenne ich die Arbeit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Risiken und Nebenwirkungen in der Arzneimitteltherapie werden über die Arzneimittelkommission gesammelt und sachgerecht bearbeitet und weitergeleitet. Auf Ihren Plätzen liegt die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift der Ärztekammer Berlin zum Thema Arzneimittelsicherheit; vielleicht haben Sie Zeit, einen Blick hineinzuwerfen.

Eine Fortbildung in Sachen Fehler- und Risikomanagement wurde von den Landesärztekammern Bayern und Berlin bereits mit Erfolg durchgeführt. Die Übernahme in das eigene Fortbildungsangebot sei empfohlen.

Auf dem zweiten Platz stehen die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. Auch das ist für uns absoluter Alltag. Es gibt insoweit ein kleines Novum, als wir über diese Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen die Fälle nicht mehr nur „abarbeiten“, sondern diese Fehler aufarbeiten. Das ist eine ganz wichtige Ressource an Wissen und Erkenntnissen, wenn wir über diese Arbeit herausfinden, warum etwas passiert ist. Wenn sich in unterschiedlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Ärzten und unterschiedlichen Patienten bei gleichen Eingriffen Fehler wiederholen, müssen wir die Ursachen abstellen. Es liegt nicht am Krankenhaus und nicht am Arzt, sondern diese Entwicklung hat eine andere Ursache. Dann sind Ursachenerforschung und Verhältnisprävention das Gebot der Stunde.

Wenn Sie im November bei Nebel mit dem Auto fahren und ein Schild sehen, das darauf hinweist, dass eine scharfe Kurve nach links kommt, sind Sie froh, dass Sie wissen, dass eine gefährliche Kurve kommt und der Fuß vom Gas zu nehmen ist. In der Medizin gibt es so etwas noch nicht. Es ist eine zentrale Aufgabe, solche Dinge herauszuarbeiten und den Arzt und den Patienten rechtzeitig zu warnen, dass es gefährlich werden könnte.

Wir haben über das Ärztliche Zentrum für Qualität in einer Gemeinschaftsarbeit mit Österreich und der Schweiz ein Buch und Glossar „Patientensicherheit“ geschaffen. Sie können es am Stand des Ärztlichen Zentrums für Qualität im Foyer einsehen. Frau Cox gibt Ihnen gern Auskunft. Das ÄZQ hat das „Forum Patientensicherheit“ ins Internet gestellt. Dort finden Sie wichtige Informationen.

Im Curriculum Qualitätsmanagement werden entsprechende Module eingebaut.

Die Fortbildung im Risiko- und Fehlermanagement wurde bereits erwähnt. Die Zertifizierung von Klinik und Praxen wird ergänzt um das Thema Patientensicherheit. Wir können dort sehr konkret werden mit sehr praktischen Produkten. Auch die KTQ hat im Foyer einen Stand. Herr Bothorn kann Ihnen entsprechende Auskünfte geben.

Fehlerlernsysteme finden Sie als besonderen Punkt auch im Vorstandsantrag. Es ist wichtig, dass wir die Chance haben, darüber zu berichten, was passiert ist bzw. was beinahe passiert wäre. Wir erhalten über die Fehlerlernsysteme die Möglichkeit, diese Informationen einzuspeisen und das entsprechende Wissen anderen zur Verfügung zu stellen. Sie finden das im Internet unter www.cirsmedical.ch/kbv und www.jeder-fehler-zaehlt.de.

Die Nachfrage ist sehr groß. Für viele von uns scheint ein Damm gebrochen zu sein. Endlich kann man seine auch unschönen Erfahrungen loswerden und sinnstiftend einbringen.

Nicht verschweigen darf man die Hemmnisse im Umgang mit diesem Thema. Lassen Sie mich dazu vier Punkte konkret und kurz ansprechen. Das erste Hemmnis kommt aus der Psychologie. Es ist das Prinzip der selektiven Wahrnehmung. Sowohl der Arzt als auch der Patient haben einen Null-Fehler-Anspruch. Kein Patient geht zum Arzt in der Annahme, dass bei ihm etwas schief geht. Kein Arzt beginnt eine Therapie in der Absicht oder in der grundlegenden Annahme, dass er jetzt einen Fehler produziert. Wir arbeiten nach bestem Wissen und Gewissen, auch wenn sich sowohl Arzt als auch Patient heimlich eingestehen, dass nicht immer alles hundertprozentig funktionieren kann. Ein Null-Fehler-Anspruch, durch welche Umstände auch immer verstärkt, führt jedoch dazu, dass man auf einem Auge blind zu werden droht und unerwünschte Ereignisse einfach ausblendet, nach dem Muster, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Die Psychologie der Arzt-Patient-Beziehung ist nicht immer hilfreich. Unangenehmes wird genauso ausgeblendet, wie man einen verletzten Arm ebenfalls instinktiv ruhigstellt. Probleme müssen aber vollständig aufgearbeitet werden, auch wenn es unangenehm ist.

Das zweite Hemmnis ist das Haftungsrisiko. Nicht selten verbieten Haftpflichtversicherungen jede Form der Stellungnahme bei fehlerhaften Abläufen. Der Arzt, der sich selbst einer Schuld an einem Fehler bezichtigt, verliert den Haftungsschutz und damit eine der wichtigsten Grundlagen für seine berufliche
Existenz. Bis allerdings Vertreter der jeweiligen Versicherungen ein klärendes Gespräch mit Patient oder Angehörigen geführt haben, ist in der Regel so viel Boden verbrannt worden, dass eine friedliche Beilegung des Konflikts nicht mehr möglich ist.

Das dritte Hemmnis ist das altbekannte Sündenbockprinzip: Wenn etwas schief geht, sucht man in der Regel den einen Schuldigen, der spektakulär und öffentlichkeitswirksam vorgeführt und abgeurteilt wird. Die tatsächlichen Ursachen für den Fehler bleiben nach dieser mehr oder weniger rituellen Handlung unreflektiert. Im englischen Sprachgebrauch taucht der Arzt in diesem Zusammenhang als das „zweite Opfer“ auf. Wem bereits ein Fehler in seiner beruflichen Tätigkeit passiert ist, kennt dies. Ein schwerwiegender Kunstfehler ist ein Super-Gau – auch für den Arzt.

Das vierte und letzte Hemmnis ist der politische Missbrauch. Ein kritischer Journalist stellte mir vor einer Woche die Frage, warum nicht schon längst in deutschen Krankenhäusern Fehlerlernsysteme eingeführt worden seien. Die Antwort darauf ist relativ einfach. Ein Krankenhaus, das sich einem verschärften Wettbewerb und der drohenden Schließung gegenübersieht, läuft Gefahr, dass jede öffentlichkeitswirksame Einführung eines Fehlerlernsystems so interpretiert wird, dass in diesem Krankenhaus möglicherweise besonders viele Fehler vorliegen. Eine solche – falsche – Annahme hätte unabsehbare Konsequenzen. Dasselbe gilt für die freie Praxis.

Eine Atmosphäre des Misstrauens fördert keine richtigen und sinnvollen Weiterentwicklungen unseres Gesundheitswesens, schon gar nicht bei einem so heiklen Thema. Dieses Misstrauen ist mittlerweile weitestgehend beseitigt. Die Vorgespräche haben gezeigt, dass das Thema derzeit Gott sei Dank weder eskaliert noch aus dem Ruder läuft. Die Politik hält sich da bislang zurück.

Welche Ziele können wir mit diesem Thema verbinden? Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehen Sie mir bitte nach, dass einige dieser Ziele durchaus noch auf der Wunschliste zu finden sind und bestimmt nicht im ersten Anlauf erreicht werden können.

Dass eine erhöhte Patientensicherheit zu einer besseren Medizin führt, braucht nicht erläutert zu werden; das erklärt sich von selbst. Das Vertrauen in unsere Ärzteschaft und ihr Ansehen steigen, wenn wir mit diesem Thema sachlich umgehen. Fragen Sie doch einmal Ihre Patienten, ob sie glauben, dass immer alles hundertprozentig gut läuft. Man wird antworten: Nein, Herr Doktor, ich weiß natürlich, dass auch einmal etwas schief gehen kann.

Wir werden auch in folgendem Punkt Erfolg haben können: bei den geringeren Kosten. Geringere Kosten entstehen durch geringeren Aufwand in der Schadensbeseitigung. Dies betrifft nicht nur Reoperationen oder die Anwendung von Antibiotika bei Infektionen, sondern auch den großen Bereich der Berufsunfähigkeit und der Rehabilitation.

Wir erleben natürlich auch weniger Leid. Das klingt fast schon lakonisch. Wer einmal miterlebt hat, wie viel Leid produziert wird, wenn Schäden oder unerwünschte Ereignisse in der Behandlung auftreten, und zwar Leid bei Patient und Arzt, weiß, dass diese emotionale Seite nicht zu unterschätzen ist. Im Idealfall entsteht eine Win-win-win-Situation. Es profitieren alle: der Arzt durch eine bessere Medizin, der Patient durch eine sicherere Medizin und die Versichertengemeinschaft durch niedrigere Kosten. Das alles entsteht durch gemeinsame Aktionen und das gemeinsame Verfolgen eines gemeinsamen Ziels.

Jetzt kommt die Wunschliste. Ich erhoffe mir durch die systematische Aufarbeitung von Risiken und Fehlern in der Patientenversorgung mehr Wahrheit und eine bessere Zusammenarbeit.

Ich erhoffe mir auch eine größere Einsicht, wie unsere Patientenversorgung besser organisiert werden kann. Das Motto der humanen Arbeitsbedingungen für eine humane Patientenversorgung sollte auch Politik und Öffentlichkeit überzeugen.

Ich wünsche mir auch ein Ende des Schwarzer-Peter-Spiels. Ich möchte mich nicht ständig mit dem Nasenring „Die Ärzte sind alle schlecht, sie machen ständig Fehler“ herumführen lassen und keine harten Gegenargumente haben.

Ein besseres Miteinander und eine bessere objektive Grundlage unserer Arbeit erhöhen die Freude am Arztsein.

Last, but not least erhoffe ich mir als Kammervertreter dabei ein höheres Ansehen der Kammern als Moderatoren und Protagonisten dieses Themas.

Was der Deutsche Ärztetag feststellen möge, liegt Ihnen bereits vor, nämlich die Feststellungen zum Thema Patientensicherheit, zum Thema Fehlervermeidungsstrategien und gegen plakative Schuldzuweisungen und Skandalisierungen.

Die Forderungen beziehen sich auf die Entwicklung und Implementierung von Fehlervermeidungsstrategien in der medizinischen Versorgung, auf die Unterstützung von Forschungsvorhaben, auf die Flankierung der Initiativen zur Patientensicherheit und auf die Zusammenführung und Koordination bestehender Aktivitäten zur Intensivierung des interdisziplinären Erfahrungsaustauschs.

Es würde mich freuen, wenn Sie das Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. ebenfalls mit einem positiven Votum bescheiden könnten.

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all denjenigen bedanken, die sich bereits in so genannter grauer Vorzeit, nämlich bereits in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren mit diesem Thema befasst haben. Axel Ekkernkamp – die meisten von Ihnen kennen ihn – hat sich bereits vor knapp 20 Jahren in diesem Sinne betätigt und einen Vorstoß unternommen. Manchmal muss man warten, bis die Zeit reif ist.

Mit einem Ausblick über unsere zukünftige Vergangenheit bedanke ich mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf das Referat von Herrn Professor Schrappe nach der Mittagspause und auf Ihre hoffentlich erfolgende Zustimmung zum Vorstandsantrag.

Vielen Dank.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Vielen Dank, Herr Dr. Jonitz, für dieses Referat und die Einführung in das Thema. Ich begrüße Herrn Professor Schrappe sehr herzlich im Namen des Deutschen Ärztetages. Wir freuen uns, Herr Schrappe, dass Sie uns zur Verfügung stehen.

(Beifall)

Ich darf Ihnen Frau Dr. Regina Klakow-Franck vorstellen, die Dezernentin des Dezernats III, die diese Thematik hauptamtlich in der Geschäftsführung der Bundesärztekammer bearbeitet.

(Beifall)

Sie ist Kollegin und hat von Herrn Stobrawa die Leitung dieses Dezernats übernommen.

Wir treten nunmehr in die Mittagspause ein. Wir setzen die Sitzung um 14 Uhr fort. Dann hören wir zunächst das Referat von Herrn Professor Schrappe.

3. Tag: Donnerstag, 5. Mai 2005, Nachmittagssitzung


Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen unsere Beratungen fort. Die Tagesordnung ist noch lang und es sind noch spannende Dinge abzuhandeln. Wir sollten die Zeit nutzen und, wenn es irgend geht, die Sitzung um 18 Uhr beenden, damit Sie rechtzeitig und erfrischt zu unserem geselligen Abend fahren können.

Ich stelle Ihnen Herrn Professor Matthias Schrappe vor. Er ist Internist. Er war lange Jahre als Internist an der Universitätsklinik in Köln tätig. Er hat sich dann sehr auf Dinge spezialisiert, die mit der Leitlinienentwicklung und organisatorischen Fragen, die eng an die Medizin angeknüpft sind, zu tun haben. Weil er erfolgreich war, hat ihn das Universitätsklinikum Marburg quasi abgeworben. Herr Professor Schrappe ist Ärztlicher Direktor der Klinik der Philipps-Universität Marburg. Wir sagen Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl zum Vorsitzenden des Aktionsbündnisses Patientensicherheit am 11. April.

(Beifall)

Ich darf Sie jetzt zu Ihrem Referat zum Thema Ärztliches Fehlermanagement/Patientensicherheit bitten.

 

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