TOP VIII: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer

4. Tag: Freitag, 6. Mai 2005

Dr. Windau, Referent:
Copyright el-zorro.de, 2005. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Dr. Auerswald hat auf dem 107. Deutschen Ärztetag im Vorjahr das Thema Entbürokratisierung vorgestellt und sich um eine Problemlösung verdient gemacht. Natürlich wissen wir alle, wo wir stehen. Die gefühlte Empfindung ist: Die Bürokratie nimmt zu. Ich denke, wir sind nicht nur Frau Dr. Auerswald gegenüber, sondern der Sache und uns selber gegenüber verpflichtet, uns zumindest in Form eines Sachstandsberichts mit dieser Thematik zu beschäftigen, auch perspektivisch.

Frau Dr. Auerswald hat in Bremen gesagt, dass Ärztinnen und Ärzte bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation verbringen müssen, ohne dass man die Arztbriefe hinzurechnet. Die Ursachen hierfür sind komplex: Das für das System der gesetzlichen Krankenversicherung bewährte Sachleistungsprinzip geht als solches mit einem vergleichsweise hohen Aufwand an Begründungs- und Dokumentationspflichten einher. Die Regelung von Ausnahmetatbeständen, die neue Vertragsvielfalt, das auf medizinischen Diagnosen- und Prozedurenschlüsseln basierende neue DRG-Fallpauschalen-Entgeltsystem für stationäre Leistungen und vor allen Dingen die zunehmende En-detail-Verliebtheit des Gesetzgebers haben zu einer unerträglichen Zunahme von Verwaltungsaufwand und Dokumentationspflichten geführt, unter der nicht nur die behandelnden Ärzte leiden, sondern inzwischen auch die Krankenkassen stöhnen.

Darüber hinaus müssen wir weitere Dokumentationspflichten erfüllen: für Qualitätssicherungsmaßnahmen nach dem Sozialgesetzbuch oder im Zusammenhang mit anderen gesetzlichen Vorschriften wie dem Infektionsschutzgesetz oder dem Transfusionsgesetz, für epidemiologische Register, für die Gesundheitsberichterstattung oder für Forschungsvorhaben.

Alle diese verschiedenen Dokumentationsaufgaben sind im Kern und für sich betrachtet sicherlich begründbar und wie im Falle der Qualitätssicherung oder der Gesundheitsberichterstattung sogar unbedingt unterstützenswert, führen aber wegen fehlender Koordination und Kooperation zwischen den verschiedenen Bedarfsträgern für medizinische und pflegerische Informationen zu einer Steigerung der ohnehin drückenden Dokumentationslast.

Unterschiedliche Dokumentationsanforderungen werden derzeit nicht nur zwischen den Bedarfsträgern nicht abgestimmt, sondern selbst im Falle zufällig identischer Inhalte muss die Dokumentation mit unterschiedlichen Beschreibungen, Terminologien, Wertesystemen und Kodierungen erfolgen.

Nachhaltige Entbürokratisierungsmaßnahmen für das Gesundheitswesen werden nicht beim Streichen oder Zusammenführen des einen oder anderen Formulars stehen bleiben können. Der Hartmannbund hat im Foyer deutlich dokumentiert, wie die Formularflut wächst. Es bedarf eines grundsätzlichen Umdenkens in der Datenerhebung und -verwaltung im Gesundheitswesen in Richtung auf eine stärkere Zielorientierung und Nutzenbewertung von Datenerfassungen und mehr Koordination.

Stets muss das kritische Motto lauten: Was ist notwendig? Was ist notwendig, aber zu aufwendig und zu kompliziert? Was ist überflüssig? Was ist doppelt? Was gibt es schon?

Ein beredtes Zeugnis hierfür ist die unterschiedliche Herangehensweise an die Dokumentation im Rahmen der Qualitätsverbesserung der ambulanten Diabetikerversorgung am Beispiel des sächsischen Betreuungsmodells und des Disease-Management-Programms Diabetes, wie wir es jetzt bundesweit erleben. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Dokumentationsprozesses in Sachsen waren festgelegten Zielkriterien des Versorgungsmodells, ein darauf aufbauendes zeitnahes Evaluationskonzept sowie ein zielgerichtetes Qualitätssicherungskonzept für die beteiligten Praxen.

Fokussiert auf diese Zielstellungen wurde ein Dokumentationsbeleg mit nur 13 Merkmalen entwickelt, deren Erhebung unkompliziert per EDV erfolgen konnte. Möglich wurde dieser kurze Datensatz insbesondere durch die Einbeziehung von Abrechnungsdaten der KV Sachsen, mittels deren Behandlungsabläufe wie durchgeführte Schulungen oder Laboruntersuchungen evaluiert werden konnten. Perspektivisch sollten auch Daten, die in den Krankenkassen vorliegen, wie beispielsweise stationäre Aufenthalte, in die Auswertungen einbezogen werden.

Auch das Dokumentationsmanagement wurde der Prämisse einfachster Verfahren untergeordnet, um eine breitestmögliche Akzeptanz zu erreichen. Die zugrunde gelegten Prüfregeln waren einfach, überschaubar und selbsterklärend, sodass auf aufwendige Fehlerkorrekturläufe verzichtet werden konnte. Dies entlastete nicht nur die Praxen, sondern führte auch zu vergleichsweise geringen Kosten für das Datenmanagement. Die Einreichung der Dokumentation erfolgte parallel zum Abrechnungsprozess. Teure Portokosten konnten so vermieden werden.

Meine Damen und Herren, wir hatten nach anfänglichen Schwierigkeiten die Situation, dass ein hohes Maß an Patienten und an Ärzten aktiv an diesem sächsischen Betreuungsmodell teilgenommen haben. Es erfolgten zeitnah Rückmeldungen, praxisbezogen, wenn auch in anonymisierter Form, aber für die Praxis jeweils nachvollziehbar, über die Ergebnisse.

Es wäre übertrieben, wenn man meinte, es habe allen Kolleginnen und Kollegen Spaß gemacht. Aber es war sinnvoll, kurz und prägnant, für jeden nachvollziehbar. Der praktikablen und erfolgreichen Verfahrensweise in Sachsen steht die von vielen angeprangerte Bürokratie im Zusammenhang mit dem DMP gegenüber. Gestützt auf eine Rechtsverordnung, deren primäres Ziel der Risikoausgleich ist, wurde ein medizinischer Dokumentationsbeleg geschaffen, der einerseits eine Rechtssicherheit für die Geldströme zwischen den Krankenkassen bilden muss, für den aber die medizinisch inhaltlichen Zielstellungen nur völlig unzureichend existierten. So enthält die Risikostrukturausgleichsverordnung in vielen Belangen sehr detaillierte Vorgaben für die Durchführung der DMP, lässt den Vertragspartnern aber hinsichtlich der zu erreichenden Zielkriterien erheblichen Spielraum. Ein schlüssiges Evaluationskonzept liegt bis heute nicht vor. Qualitätssicherungskonzepte für die beteiligten Praxen wurden bzw. werden auf Basis des vorhandenen Bogens erarbeitet, mit dem Ergebnis, dass die Praxen kaum Nutzen aus den Angaben ziehen oder, was viel häufiger der Fall ist, bis heute noch nicht eine einzige Auswertung erhalten haben.

Ich kann mich an ein Gespräch von Herrn Professor Schulze, den Inaugurator der sächsischen Diabetesvereinbarung, erinnern, das dieser am 15. September vergangenen Jahres mit Herrn Professor Sawicki geführt hat. Wir haben ganz klar darauf hingewiesen: Wo ist das Evaluationsprozedere niedergelegt? Wie wird es durchgeführt? Wie erfolgt es zeitnah? Das war, wie gesagt, am 15. September 2004. Wir haben bis jetzt noch nichts erlebt – ich nehme an, Sie auch nicht –, was in praxi dazu geführt hätte, dass der Rücklauf, sofern er
überhaupt erfolgt, zu etwas Sinnvollem und Verwertbarem führt.

(Beifall)

Unter diesen sehr fragwürdigen Prämissen wurde ein Dokumentationsbeleg nach dem Motto „Sammeln wir alles, was nötig sein könnte!“ geschaffen. Auch wenn dieser infolge massiver Proteste inzwischen etwas reduziert wurde, muss weiterhin ein umfangreicher Datensatz erhoben werden. Grund hierfür ist auch, dass vorhandene Daten der Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen nicht zur Entlastung genutzt werden.

In dem Bestreben, zeitnah möglichst vollständige Datensätze zu erhalten, wurde ein ebenso kompliziertes wie aufwendiges und somit teures Datenmanagement festgelegt, welches nicht nur in den Praxen erhebliche Ressourcen bindet, sondern, wie wir allerorten hören können, nicht einmal von den professionellen Datenstellen beherrscht wird.

Nicht zielführend sind auch die restriktiven Prüfregeln, die zwar zu einem massenhaften Rücksenden von Bögen an die Ärzte und infolge nicht zeitgerechter Verarbeitung auch zum völlig unverschuldeten Ausscheiden von Patienten aus dem DMP geführt haben, die aber lediglich eine formale Vollständigkeit der Belege herstellen und keinen Einfluss auf die inhaltliche Richtigkeit haben. So muss zwar ein Gewicht angegeben sein, aber dass dieses in drei Monaten von 150 auf 50 kg gesunken ist, wird nicht angezweifelt. Die Erkenntnis greift um sich, dass es so nicht weitergehen kann.

Nun zum politischen Umfeld: Die deutsche Ärzteschaft begrüßt es, dass die Initiative des Deutschen Ärztetages von 2004 in Bremen zur Entbürokratisierung der Medizin von der Gesundheitsministerkonferenz aufgegriffen wurde. Die Gesundheitsministerkonferenz hält es inzwischen für dringend erforderlich, das medizinische Personal und natürlich auch die Ärzte von nicht zwingend notwendigen Dokumentationspflichten zu entlasten, um die vorhandenen personellen und finanziellen Ressourcen besser für die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten nutzen zu können. Auf Anfrage hatte vor einem Jahr die Sächsische Landesärztekammer einen umfangreichen Katalog mit Formularen und Vorschlägen an das Sächsische Staatsministerium für Soziales übergeben. Doch seitdem gab es keine Bewegung in der Sache, jedenfalls gab es keine greifbaren Resultate.

Nun erwägt die Gesundheitsministerkonferenz die Verabschiedung eines Artikelgesetzes zur Verbesserung der medizinischen Versorgung durch Deregulierung. Noch ein Gesetz, noch mehr Bürokratie? Ein etwaiges neues Gesetz darf keinen neuen Verwaltungsaufwand produzieren,

(Beifall)

sondern muss übergreifend in alle Rechtskreise und Regelungsbereiche, die die medizinische Versorgung berühren, mit folgenden Zielsetzungen hineinwirken:

        Verzicht des Gesetzgebers auf Detailregelungen

        Vermeidung von Doppel-/Parallelstrukturen durch Rückgriff der gemeinsamen Selbstverwaltung im GKV-System auf bereits auf Basis der Heilberufs- und Kammergesetze vorhandene oder vorangetriebene Richtlinien (Weiterbildungsordnung, Fortbildungsordnung, Qualitätssicherungsrichtlinien) so weit wie möglich

        Förderung einer einrichtungs- und sektorübergreifenden Dokumentationsmethodik und gemeinsamen Dokumentationssprache

        Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen für die sektorübergreifende Nutzung von Originaldaten in geeigneter und selbstverständlich anonymisierter Form

        Schaffung von finanziellen Anreizsystemen für die Harmonisierung und Straffung der Informationsflüsse. Manchmal hat man den Eindruck, dass es zugeht wie beim Turmbau zu Babel: Keiner versteht den anderen. Ich verstehe vieles, was in diesen Bögen gefragt wird, nicht mehr. Manchmal frage ich meinen Kollegen, aber dem geht es genauso.

Was können wir selbst an Bürokratie abbauen? Auf der Basis des Beschlusses des 107. Deutschen Ärztetages 2004 in Bremen entwickelt die Bundesärztekammer derzeit ein Konzept zur sektorübergreifenden Harmonisierung von medizinischen Dokumentationsanforderungen, das gegebenenfalls in eine Dokumentationsleitlinie münden wird, und prüft die Machbarkeit eines diesbezüglichen regionalen IT-gestützten Pilotprojekts zur Vereinfachung der Erfüllung von Dokumentationsanforderungen.

Neben den Aktivitäten gegenüber dem Gesetzgeber muss die Selbstverwaltung natürlich in den Spiegel schauen und sich fragen: Was können wir selbst an Bürokratie abbauen? Welche Daten lassen sich doppelt nutzen und müssen nicht ständig wieder erhoben werden? Wie können wir die Verwaltung zur Entlastung unserer Mitglieder effektiver und servicefreundlicher gestalten? Das ist ein Auftrag, den wir uns selbst geben müssen, um glaubhaft zu sein.

Meine Damen und Herren, als ich mich mit diesem Vortrag befasste, sagte ein Kollege aus unserem Kammerbezirk zu mir: Das hat ja Don-Quichotte-ähnliche Züge. Ich hoffe, dass dem nicht so ist und dass die Aussage „allein mir fehlt der Glaube“ nicht zutrifft, sondern dass wir es gemeinsam als Selbstverwaltung schaffen, die Bürokratie im Zuge der notwendigen Rationalisierung im Hinblick auf unsere Kapazitäten so weit in den Griff zu bekommen, dass unser Beruf wieder vernünftiger ausführbar wird und ein bisschen mehr Freude macht.

Ich darf mich in diesem Zusammenhang insbesondere bei Frau Dr. Klakow-Franck von der Bundesärztekammer herzlich bedanken.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe:
Schönen Dank, Herr Windau. Geben Sie bitte den Dank auch an Herrn Schulze weiter, der bei der Vorbereitung kräftig mitgewirkt hat. Den anderen haben Sie schon gedankt; diesem Dank schließen wir uns an.

Nunmehr begrüße ich die Ehrenpräsidentin dieses Deutschen Ärztetages, Frau Dr. Kielhorn-Haas, auch heute wieder unter uns, ebenso wie unseren Ehrenpräsidenten, Herrn Professor Vilmar. Herzlich willkommen und vielen Dank dafür, dass Sie so viel Interesse zeigen.

(Beifall)

Wir kommen jetzt zur Diskussion. Zu Wort gemeldet hat sich Frau Haus aus Nordrhein. Bitte schön.

 

© 2005, Bundesärztekammer.