Dr. Windau, Referent:
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Dr. Auerswald hat
auf dem 107. Deutschen Ärztetag im Vorjahr das Thema Entbürokratisierung
vorgestellt und sich um eine Problemlösung verdient gemacht. Natürlich wissen
wir alle, wo wir stehen. Die gefühlte Empfindung ist: Die Bürokratie nimmt zu.
Ich denke, wir sind nicht nur Frau Dr. Auerswald gegenüber, sondern der Sache
und uns selber gegenüber verpflichtet, uns zumindest in Form eines
Sachstandsberichts mit dieser Thematik zu beschäftigen, auch perspektivisch.
Frau Dr. Auerswald hat in Bremen gesagt, dass Ärztinnen und
Ärzte bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation verbringen
müssen, ohne dass man die Arztbriefe hinzurechnet. Die Ursachen hierfür sind
komplex: Das für das System der gesetzlichen Krankenversicherung bewährte
Sachleistungsprinzip geht als solches mit einem vergleichsweise hohen Aufwand
an Begründungs- und Dokumentationspflichten einher. Die Regelung von Ausnahmetatbeständen,
die neue Vertragsvielfalt, das auf medizinischen Diagnosen- und
Prozedurenschlüsseln basierende neue DRG-Fallpauschalen-Entgeltsystem für
stationäre Leistungen und vor allen Dingen die zunehmende En-detail-Verliebtheit
des Gesetzgebers haben zu einer unerträglichen Zunahme von Verwaltungsaufwand
und Dokumentationspflichten geführt, unter der nicht nur die behandelnden Ärzte
leiden, sondern inzwischen auch die Krankenkassen stöhnen.
Darüber hinaus müssen wir weitere Dokumentationspflichten erfüllen:
für Qualitätssicherungsmaßnahmen nach dem Sozialgesetzbuch oder im Zusammenhang
mit anderen gesetzlichen Vorschriften wie dem Infektionsschutzgesetz oder dem
Transfusionsgesetz, für epidemiologische Register, für die Gesundheitsberichterstattung
oder für Forschungsvorhaben.
Alle diese verschiedenen Dokumentationsaufgaben sind im Kern
und für sich betrachtet sicherlich begründbar und wie im Falle der
Qualitätssicherung oder der Gesundheitsberichterstattung sogar unbedingt
unterstützenswert, führen aber wegen fehlender Koordination und Kooperation
zwischen den verschiedenen Bedarfsträgern für medizinische und pflegerische
Informationen zu einer Steigerung der ohnehin drückenden Dokumentationslast.
Unterschiedliche Dokumentationsanforderungen werden derzeit
nicht nur zwischen den Bedarfsträgern nicht abgestimmt, sondern selbst im Falle
zufällig identischer Inhalte muss die Dokumentation mit unterschiedlichen
Beschreibungen, Terminologien, Wertesystemen und Kodierungen erfolgen.
Nachhaltige Entbürokratisierungsmaßnahmen für das
Gesundheitswesen werden nicht beim Streichen oder Zusammenführen des einen oder
anderen Formulars stehen bleiben können. Der Hartmannbund hat im Foyer deutlich
dokumentiert, wie die Formularflut wächst. Es bedarf eines grundsätzlichen Umdenkens
in der Datenerhebung und -verwaltung im Gesundheitswesen in Richtung auf eine
stärkere Zielorientierung und Nutzenbewertung von Datenerfassungen und mehr
Koordination.
Stets muss das kritische Motto lauten: Was ist notwendig? Was
ist notwendig, aber zu aufwendig und zu kompliziert? Was ist überflüssig? Was
ist doppelt? Was gibt es schon?
Ein beredtes Zeugnis hierfür ist die unterschiedliche
Herangehensweise an die Dokumentation im Rahmen der Qualitätsverbesserung der
ambulanten Diabetikerversorgung am Beispiel des sächsischen Betreuungsmodells
und des Disease-Management-Programms Diabetes, wie wir es jetzt bundesweit
erleben. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Dokumentationsprozesses in
Sachsen waren festgelegten Zielkriterien des Versorgungsmodells, ein darauf
aufbauendes zeitnahes Evaluationskonzept sowie ein zielgerichtetes
Qualitätssicherungskonzept für die beteiligten Praxen.
Fokussiert auf diese Zielstellungen wurde ein
Dokumentationsbeleg mit nur 13 Merkmalen entwickelt, deren Erhebung
unkompliziert per EDV erfolgen konnte. Möglich wurde dieser kurze Datensatz
insbesondere durch die Einbeziehung von Abrechnungsdaten der KV Sachsen,
mittels deren Behandlungsabläufe wie durchgeführte Schulungen oder
Laboruntersuchungen evaluiert werden konnten. Perspektivisch sollten auch
Daten, die in den Krankenkassen vorliegen, wie beispielsweise stationäre
Aufenthalte, in die Auswertungen einbezogen werden.
Auch das Dokumentationsmanagement wurde der Prämisse
einfachster Verfahren untergeordnet, um eine breitestmögliche Akzeptanz zu
erreichen. Die zugrunde gelegten Prüfregeln waren einfach, überschaubar und
selbsterklärend, sodass auf aufwendige Fehlerkorrekturläufe verzichtet werden
konnte. Dies entlastete nicht nur die Praxen, sondern führte auch zu vergleichsweise
geringen Kosten für das Datenmanagement. Die Einreichung der Dokumentation
erfolgte parallel zum Abrechnungsprozess. Teure Portokosten konnten so
vermieden werden.
Meine Damen und Herren, wir hatten nach anfänglichen
Schwierigkeiten die Situation, dass ein hohes Maß an Patienten und an Ärzten
aktiv an diesem sächsischen Betreuungsmodell teilgenommen haben. Es erfolgten
zeitnah Rückmeldungen, praxisbezogen, wenn auch in anonymisierter Form, aber
für die Praxis jeweils nachvollziehbar, über die Ergebnisse.
Es wäre übertrieben, wenn man meinte, es habe allen
Kolleginnen und Kollegen Spaß gemacht. Aber es war sinnvoll, kurz und prägnant,
für jeden nachvollziehbar. Der praktikablen und erfolgreichen Verfahrensweise
in Sachsen steht die von vielen angeprangerte Bürokratie im Zusammenhang mit
dem DMP gegenüber. Gestützt auf eine Rechtsverordnung, deren primäres Ziel der
Risikoausgleich ist, wurde ein medizinischer Dokumentationsbeleg geschaffen,
der einerseits eine Rechtssicherheit für die Geldströme zwischen den Krankenkassen
bilden muss, für den aber die medizinisch inhaltlichen Zielstellungen nur
völlig unzureichend existierten. So enthält die Risikostrukturausgleichsverordnung
in vielen Belangen sehr detaillierte Vorgaben für die Durchführung der DMP,
lässt den Vertragspartnern aber hinsichtlich der zu erreichenden Zielkriterien
erheblichen Spielraum. Ein schlüssiges Evaluationskonzept liegt bis heute nicht
vor. Qualitätssicherungskonzepte für die beteiligten Praxen wurden bzw. werden
auf Basis des vorhandenen Bogens erarbeitet, mit dem Ergebnis, dass die Praxen
kaum Nutzen aus den Angaben ziehen oder, was viel häufiger der Fall ist, bis
heute noch nicht eine einzige Auswertung erhalten haben.
Ich kann mich an ein Gespräch von Herrn Professor Schulze, den
Inaugurator der sächsischen Diabetesvereinbarung, erinnern, das dieser am 15.
September vergangenen Jahres mit Herrn Professor Sawicki geführt hat. Wir haben
ganz klar darauf hingewiesen: Wo ist das Evaluationsprozedere niedergelegt? Wie
wird es durchgeführt? Wie erfolgt es zeitnah? Das war, wie gesagt, am
15. September 2004. Wir haben bis jetzt noch nichts erlebt – ich nehme an,
Sie auch nicht –, was in praxi dazu geführt hätte, dass der Rücklauf, sofern er
überhaupt erfolgt, zu etwas Sinnvollem und Verwertbarem führt.
(Beifall)
Unter diesen sehr fragwürdigen Prämissen wurde ein
Dokumentationsbeleg nach dem Motto „Sammeln wir alles, was nötig sein könnte!“
geschaffen. Auch wenn dieser infolge massiver Proteste inzwischen etwas
reduziert wurde, muss weiterhin ein umfangreicher Datensatz erhoben werden.
Grund hierfür ist auch, dass vorhandene Daten der Kassenärztlichen
Vereinigungen und Krankenkassen nicht zur Entlastung genutzt werden.
In dem Bestreben, zeitnah möglichst vollständige Datensätze zu
erhalten, wurde ein ebenso kompliziertes wie aufwendiges und somit teures
Datenmanagement festgelegt, welches nicht nur in den Praxen erhebliche
Ressourcen bindet, sondern, wie wir allerorten hören können, nicht einmal von
den professionellen Datenstellen beherrscht wird.
Nicht zielführend sind auch die restriktiven Prüfregeln, die
zwar zu einem massenhaften Rücksenden von Bögen an die Ärzte und infolge nicht
zeitgerechter Verarbeitung auch zum völlig unverschuldeten Ausscheiden von
Patienten aus dem DMP geführt haben, die aber lediglich eine formale
Vollständigkeit der Belege herstellen und keinen Einfluss auf die inhaltliche
Richtigkeit haben. So muss zwar ein Gewicht angegeben sein, aber dass dieses in
drei Monaten von 150 auf 50 kg gesunken ist, wird nicht angezweifelt. Die
Erkenntnis greift um sich, dass es so nicht weitergehen kann.
Nun zum politischen Umfeld: Die deutsche Ärzteschaft begrüßt
es, dass die Initiative des Deutschen Ärztetages von 2004 in Bremen zur
Entbürokratisierung der Medizin von der Gesundheitsministerkonferenz
aufgegriffen wurde. Die Gesundheitsministerkonferenz hält es inzwischen für
dringend erforderlich, das medizinische Personal und natürlich auch die Ärzte
von nicht zwingend notwendigen Dokumentationspflichten zu entlasten, um die vorhandenen
personellen und finanziellen Ressourcen besser für die medizinische Versorgung
der Patientinnen und Patienten nutzen zu können. Auf Anfrage hatte vor einem
Jahr die Sächsische Landesärztekammer einen umfangreichen Katalog mit
Formularen und Vorschlägen an das Sächsische Staatsministerium für Soziales
übergeben. Doch seitdem gab es keine Bewegung in der Sache, jedenfalls gab es
keine greifbaren Resultate.
Nun erwägt die Gesundheitsministerkonferenz die Verabschiedung
eines Artikelgesetzes zur Verbesserung der medizinischen Versorgung durch
Deregulierung. Noch ein Gesetz, noch mehr Bürokratie? Ein etwaiges neues Gesetz
darf keinen neuen Verwaltungsaufwand produzieren,
(Beifall)
sondern muss übergreifend in alle Rechtskreise und
Regelungsbereiche, die die medizinische Versorgung berühren, mit folgenden
Zielsetzungen hineinwirken:
–
Verzicht des Gesetzgebers auf Detailregelungen
–
Vermeidung von Doppel-/Parallelstrukturen durch Rückgriff der
gemeinsamen Selbstverwaltung im GKV-System auf bereits auf Basis der
Heilberufs- und Kammergesetze vorhandene oder vorangetriebene Richtlinien
(Weiterbildungsordnung, Fortbildungsordnung, Qualitätssicherungsrichtlinien) so
weit wie möglich
–
Förderung einer einrichtungs- und sektorübergreifenden Dokumentationsmethodik
und gemeinsamen Dokumentationssprache
–
Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen für die sektorübergreifende
Nutzung von Originaldaten in geeigneter und selbstverständlich anonymisierter
Form
–
Schaffung von finanziellen Anreizsystemen für die Harmonisierung
und Straffung der Informationsflüsse. Manchmal hat man den Eindruck, dass es
zugeht wie beim Turmbau zu Babel: Keiner versteht den anderen. Ich verstehe
vieles, was in diesen Bögen gefragt wird, nicht mehr. Manchmal frage ich meinen
Kollegen, aber dem geht es genauso.
Was können wir selbst an Bürokratie abbauen? Auf der Basis des
Beschlusses des 107. Deutschen Ärztetages 2004 in Bremen entwickelt die
Bundesärztekammer derzeit ein Konzept zur sektorübergreifenden Harmonisierung
von medizinischen Dokumentationsanforderungen, das gegebenenfalls in eine Dokumentationsleitlinie
münden wird, und prüft die Machbarkeit eines diesbezüglichen regionalen IT-gestützten
Pilotprojekts zur Vereinfachung der Erfüllung von Dokumentationsanforderungen.
Neben den Aktivitäten gegenüber dem Gesetzgeber muss die
Selbstverwaltung natürlich in den Spiegel schauen und sich fragen: Was können
wir selbst an Bürokratie abbauen? Welche Daten lassen sich doppelt nutzen und
müssen nicht ständig wieder erhoben werden? Wie können wir die Verwaltung zur
Entlastung unserer Mitglieder effektiver und servicefreundlicher gestalten? Das
ist ein Auftrag, den wir uns selbst geben müssen, um glaubhaft zu sein.
Meine Damen und Herren, als ich mich mit diesem Vortrag
befasste, sagte ein Kollege aus unserem Kammerbezirk zu mir: Das hat ja
Don-Quichotte-ähnliche Züge. Ich hoffe, dass dem nicht so ist und dass die
Aussage „allein mir fehlt der Glaube“ nicht zutrifft, sondern dass wir es
gemeinsam als Selbstverwaltung schaffen, die Bürokratie im Zuge der notwendigen
Rationalisierung im Hinblick auf unsere Kapazitäten so weit in den Griff zu
bekommen, dass unser Beruf wieder vernünftiger ausführbar wird und ein bisschen
mehr Freude macht.
Ich darf mich in diesem Zusammenhang insbesondere bei Frau Dr.
Klakow-Franck von der Bundesärztekammer herzlich bedanken.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen
Dank, Herr Windau. Geben Sie bitte den Dank auch an Herrn Schulze weiter, der
bei der Vorbereitung kräftig mitgewirkt hat. Den anderen haben Sie schon gedankt;
diesem Dank schließen wir uns an.
Nunmehr begrüße ich die Ehrenpräsidentin dieses Deutschen
Ärztetages, Frau Dr. Kielhorn-Haas, auch heute wieder unter uns, ebenso wie
unseren Ehrenpräsidenten, Herrn Professor Vilmar. Herzlich willkommen und
vielen Dank dafür, dass Sie so viel Interesse zeigen.
(Beifall)
Wir kommen jetzt zur Diskussion. Zu Wort gemeldet hat sich
Frau Haus aus Nordrhein. Bitte schön.
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