ENTSCHLIESSUNGSANTRAG I
– 01
Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer
(Drucksache I-01) fasst der 108. Deutsche Ärztetag einstimmig folgende
Entschließung:
Der 108. Deutsche
Ärztetag stellt ein Jahr nach Inkrafttreten des GMG fest: Die Gesundheitsreform
trägt nicht dazu bei, die finanzielle Situation der Gesetzlichen Krankenversicherung
langfristig zu sichern und die Versorgungssituation der Menschen zu verbessern.
Alle hochentwickelten, dem
Solidarprinzip verpflichteten Gesundheitssysteme sehen sich trotz
unterschiedlicher nationaler Ausprägungen derzeit mit demselben Dilemma
konfrontiert: Wie kann angesichts begrenzter Ressourcen – in Deutschland – auch
in Folge wegbrechender Einnahmen eine qualitativ möglichst hochwertige
Krankenversorgung mit chancengleichem Zugang und Teilhabe am medizinischen
Fortschritt für die gesamte Bevölkerung auf Dauer sichergestellt werden?
Der deutsche Gesetzgeber hat
mit dem GMG eine Strukturreform auf den Weg gebracht, die gleichzeitig an
mehreren Stellen ansetzt:
-
Regulierung der
Versorgungsdichte durch Wettbewerb,
-
Regulierung des
Leistungsangebots durch Nutzenbewertung und
-
Regulierung der Nachfrage
nach GKV-Leistungen durch Patientenbeteiligung.
Allen drei
Steuerungsprinzipien ist gemeinsam, dass sie Optimierungspotentiale für die
Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens entfalten könnten.
Nach einem Jahr GMG werden
jedoch Fehlentwicklungen erkennbar, die die Versorgung der Patientinnen und
Patienten zu gefährden drohen.
Preiswettbewerb stellt die
Qualität der Krankenversorgung in Frage
Die Art der Einführung des
DRG-Fallpauschalen-Entgeltsystems, die konkurrierenden Versorgungsverträge auf
Basis des GMG, die Kopplung der Disease-Management-Programme an den
Risikostrukturausgleich haben einen wirtschaftlichen Überlebenskampf von jedem
gegen jeden ausgelöst. Statt eines politisch angepriesenen
“Qualitätswettbewerbs“ entstehen immer häufiger Versorgungsengpässe.
Mindestmengenregelungen forcieren im übrigen die Konzentrationsprozesse im
stationären Bereich; Krankenhäuser schließen und Wartelisten werden länger.
Dies alles geht zu Lasten der Patientenversorgung.
Nutzenbewertung ohne
Orientierung an ethischen Werten schadet den Patientinnen und Patienten
Das neu gegründete Institut
für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin hat vom Gesetzgeber den
Auftrag erhalten, die Qualität der Leistungserbringung in der Medizin und den
Nutzen von Arzneimitteln zu bewerten. Fehlender studienbasierter Nutzenbeleg
kann künftig allgemein als k.o.-Kriterium für die Finanzierung medizinischer
Leistungen im GKV-System gelten. Dabei sind die zentralen Fragen zur
Nutzenorientierung in der Krankenversorgung bisher nicht ausreichend
beantwortet, teilweise noch gar nicht gestellt: Wie definiert sich der
therapeutische Zusatznutzen einer Leistung in einem finanziell gedeckelten
System? Sollen z. B. Therapieoptionen, welche die krankheitsspezifische
Lebensqualität von Tumorpatienten steigern, nicht mehr möglich sein? Misst sich
etwa der gesellschaftliche Wert der Palliativversorgung vornehmlich an Einsparzielen?
Diese Fragen müssen
gesellschaftlich diskutiert werden, um etwaige Rationierung transparent zu machen.
Schutzbedürftige
Patientinnen und Patienten bleiben als "Kunden" auf der Strecke
Nach den Vorstellungen der
gesundheitspolitisch Verantwortlichen sollen die Versicherten zu ihren eigenen
Lotsen im Gesundheitssystem werden. Die Barrieren zur Inanspruchnahme von
GKV-Leistungen werden höher: Durch die Einführung der Praxisgebühr, durch
Ausweitung von Zuzahlungen, durch Leistungsausschlüsse, durch Wartelisten. Die
Versicherten sollen die solidarisch finanzierte Grundversorgung so selten wie
möglich in Anspruch nehmen.
Schematische
Eigenbeteiligungen der Patienten bedeuten zusätzliche, unzumutbare Belastungen,
gerade für die sozial Schwächeren. Das beeinträchtigt die Chancengleichheit
beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Wir dürfen nicht vergessen, auch in
Deutschland vergrößert sich der Abstand zwischen Arm und Reich.
Deshalb fordert der
108. Deutsche Ärztetag:
§
Patientenzentrierung darf
kein Lippenbekenntnis sein!
So, wie der Patient im
Mittelpunkt der ärztlichen Berufsausübung steht, müssen die Sicherstellung
guter Versorgungsqualität und die Teilhabe aller Versicherten am medizinischen
Fortschritt das Ziel gesundheitspolitischer Entscheidungen sein. Von den
gesundheitspolitisch Verantwortlichen muss wahrgenommen werden, dass die
Gesamtheit der medizinischen Versorgung einer Bevölkerung letztendlich aus vielen,
jeweils einzelnen Arzt-Patienten-Beziehungen besteht; die Individualität der
Arzt-Patienten-Beziehung muss respektiert werden. Die Einführung neuer Versorgungsstrukturen
wie Disease-Management-Programme oder neuer Versorgungsverträge muss sich am
Mehrwert für die Patientinnen und Patienten ausrichten und nicht an der
Einkaufspolitik einer unter Wettbewerbsdruck stehenden Krankenkasse. Die
Koppelung der DMPs an den Risikostrukturausgleich ist ein gigantischer
Fehlanreiz für Risikoselektion am tatsächlichen Versorgungsbedarf vorbei und
gehört deshalb abgeschafft. Patientenzentrierung ernst nehmen heißt auch, dass
Qualitätssicherungsstandards, wie sie für die vertragsärztlichen oder die
stationären Leistungen selbstverständlich sind, im Rahmen integrierter
Versorgungsverträge nicht unterlaufen werden.
§
Fragen der Nutzenbewertung
und der Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit müssen sich an Zielen und Werten
orientieren und nicht nur an Daten!
Die Bewertung des
therapeutischen Nutzens einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode
lediglich auf Grund randomisierter klinischer Studien vornehmen zu wollen, wird
dem wirklichen Versorgungsalltag nicht gerecht. Fragen zum Nutzen und zur
medizinischen Notwendigkeit neuer medizinischer Leistungen und zur
Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung können nicht eindimensional
durch Evidenzanalysen gelöst werden. Auch Patientenerfahrungen und -präferenzen
müssen ernst genommen werden. Die klinische Expertise der Ärztinnen und Ärzte
muss eingebunden werden. Alles andere wäre ein grobes Missverständnis von
evidenzbasierter Gesundheitsversorgung. Auch gesundheitsökonomische
Modellanalysen brauchen Zielvorgaben, die sich nach gesellschaftlichen Werten
richten.
§
Die Umstrukturierung der Versorgungslandschaft muss
bedarfsorientiert und ressourcenschonend erfolgen!
Politischer Druck und Forderung nach schnell vorzeigbaren
Ergebnissen behindern die erforderlichen Lernprozesse bei der Umsetzung neuer
Versorgungsstrukturen und Steuerungselemente und schaden deswegen Patientinnen
und Patienten. Steuerungsinstrumente wie DMPs und Mindestmengenregelungen
müssen systematisch evaluiert und am therapeutischen Nutzen für die
Patientinnen und Patienten gemessen werden. Sie dürfen nicht Eigendynamik
entwickeln und zum Selbstzweck entarten. Die Weiterentwicklung neuer Versorgungsstrukturen
muss auf die Versorgungsrelevanz für Patienten hin orientiert sein.
Fehlallokationen durch Überaktionismus verschwenden unnötig Ressourcen. Die
Ärzteschaft setzt sich deshalb für eine Förderung von Versorgungsforschung und
für Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen ein.
§
Wir brauchen eine starke
autonome Selbstverwaltung im Gesundheitswesen!
Der vom Gesetzgeber
vorgeschriebene Regulierungsprozess im Gesundheitswesen zwingt Selbstverwaltung
und die Angehörigen der Gesundheitsberufe in eine überbordende Bürokratie
und schafft Unzufriedenheit bei allen Betroffenen, treibt Ärztinnen
und Ärzte aus ihrem eigentlichen Beruf und verschleudert die Beiträge
der GKV-Versicherten. Die gemeinsame Selbstverwaltung von Patienten,
Leistungsträgern und Kostenträgern muss eine den Versorgungsbedürfnissen
entsprechende flexible gestaltende Funktion besitzen unter Rechtsaufsicht
der Exekutive. In diesem Zusammenhang tragen Ärztekammern und Kassenärztliche
Vereinigungen als Körperschaften öffentlichen Rechts Verantwortung
für die Daseinsvorsorge. Sie üben Ordnungsfunktion im Hinblick auf
ihre ärztlichen Mitglieder aus. Gleichzeitig stehen sie durch ihre
Zuständigkeit im Bereich der ärztlichen Weiter- und Fortbildung
sowie ihre zahlreichen Initiativen im Bereich von Qualitätssicherung
und Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen für gute Versorgungsqualität
und Patientensicherheit ein. Zur Bewältigung der anstehenden Reformaufgaben
in unserem Gesundheitswesen ist die Einbindung dieser Kompetenz
der ärztlichen Selbstverwaltung unverzichtbar.
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