ENTSCHLIESSUNGSANTRAG – 02
Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer
(Drucksache I-02) fasst der 108. Deutsche Ärztetag einstimmig folgende
Entschließung:
Das
deutsche Gesundheitswesen, die deutsche gesetzliche Krankenversicherung und die
Berufsausübung der Ärzte bekommen in immer stärkeren Ausmaß die rechtlichen und
politischen Einflüsse des europäischen Rechts und der europäischen
Gesundheitspolitik zu spüren. Der 108. Deutsche Ärztetag sieht daher die Notwendigkeit,
die Entwicklung der europäischen Gesundheitspolitik konsequenter zu begleiten.
I. Vielfältige Initiativen
Drei Richtlinienprojekte aus
der jüngeren Vergangenheit haben auch die deutsche Ärzteschaft veranlasst,
Position zu beziehen:
-
der Vorschlag für eine
Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt,
-
die – in der zweiten Lesung
im Europäischen Parlament derzeit beratene – Richtlinie
über die Anerkennung der Berufsqualifikationen,
-
der Vorschlag für eine
Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung
(sog. Arbeitszeit-Richtlinie).
Die jeweils gebotene
nationale Transformation in das deutsche Recht wird in erheblichem Ausmaß auch
die Ärztekammern betreffen. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit sind
die Veränderungen, welche z. B. die Richtlinie über die klinische Prüfung
bei Arzneimitteln und die daraus folgende Novellierung des Arzneimittelgesetzes
(12. AMG-Novelle) gebracht und insoweit weitreichende Wirkungen für die
Ethik-Kommissionen der Ärztekammern eingeleitet haben. Ein weiteres Beispiel,
zu dem die Bundesärztekammer bereits eine Position eingenommen hat, stellt das
Gebot der Umsetzung der Richtlinie 2004/23/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die
Spende, Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Konservierung, Lagerung und
Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen dar.
Im Bereich der europäischen
Gesundheitspolitik werden durch Mitteilungen der Kommission eingeleitete
Initiativen mittelfristig ebenfalls Diskussionen über Änderungen in den
nationalen Gesundheitswesen auslösen. Zu erwähnen ist:
-
Mitteilung der Kommission
über die Modernisierung des Sozialschutzes für die Entwicklung einer
hochwertigen, zugänglichen und zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung und
Langzeitpflege: Unterstützung der einzelstaatlichen Strategien durch die offene
Koordinierungsmethode (KOM [2004] 304 vom 20.04.2004)
-
Mitteilung der Kommission zur
Reaktion auf den Reflexionsprozess über die Patientenmobilität und die Entwicklung
der gesundheitlichen Versorgung in der EU (KOM [2004] 301 vom 20.04.2004)
-
Mitteilung der Kommission
"Elektronische Gesundheitsdienste – eine bessere Gesundheitsfürsorge für
Europas Bürger: Aktionsplan für einen europäischen Raum der elektronischen
Gesundheitsdienste" (KOM [2004] 356 vom 30.04.2004)
-
Hochrangige Gruppe für
Gesundheitsdienste und medizinische Versorgung (mit Arbeitsgruppen: z. B.
grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, Referenzzentren, Health Technology
Assessment, E-Health und Information, Patientensicherheit)
Im Vordergrund der
Initiativen steht die Freizügigkeit von Patienten und die gesundheitliche Versorgung.
Ziele sind:
-
die bessere Information der
Patienten über die Möglichkeiten, sich in anderen Mitgliedstaaten gesundheitlich
versorgen zu lassen,
-
die Erleichterung der Nutzung
freier Kapazitäten in anderen Mitgliedstaaten durch die Leistungserbringer im
Gesundheitswesen,
-
der Aufbau EU-weiter Netze
von Sachverständigen im Gesundheitswesen und Spitzentechnologiezentren,
-
die koordinierte Evaluation
neuer Gesundheitstechnologien,
-
der systematische Austausch
bewährter Verfahren.
Um diese Zusammenarbeit
voranzutreiben, wird eine Gruppe auf hoher Ebene zu Gesundheitsdiensten und
medizinischer Pflege eingesetzt, der Vertreter der Mitgliedstaaten und der
Kommission angehören sollen.
Die Mitteilung zur Anwendung
der offenen Methode der Koordinierung in den Bereichen Gesundheitsversorgung,
Langzeitpflege und des Sozialschutzes schlägt gemeinsame Ziele für die
Entwicklung und Modernisierung des Angebots und die Finanzierung der
Gesundheitsversorgung vor, die es den einzelnen Mitgliedstaaten erlauben soll,
ihre einzelstaatliche Strategie festzulegen und die Erfahrungen und
"bewährten Verfahren" der anderen zu nutzen. Mit der offenen Methode
der Koordinierung sollen einzelstaatliche Bemühungen um die Reform und
Weiterentwicklung in diesen Bereichen vorangetrieben werden, wobei die Notwendigkeit
"qualitativ hochstehender, flächendeckender, gesundheitlicher Versorgung,
die nachhaltig finanzierbar ist", im Mittelpunkt stehen soll.
Ein sogenannter
"Aktionsplan zur Gesundheitspolitik" (E-Health) ist verabschiedet
worden, der sich damit beschäftigt, welche entscheidende Rolle die neuen Technologien
und die neue Art der Leistungserbringung im Gesundheitswesen bei der Verbesserung
des Zugangs zur Versorgung sowie ihrer Qualität und Wirksamkeit spielen.
Es zeigt sich, dass das
künftig – im Verfassungsvertrag – für die Gesundheitspolitik auch explizit
rechtlich verankerte Instrument der Methode der offenen Koordinierung und der
Vermittlung von Leitlinien schon jetzt mit Leben erfüllt werden soll.
Alle Initiativen werfen eine
Reihe von Fragen auf, die vorerst nicht gelöst sind, aber die Beobachtung
weiterer Ergebnisse gebieten.
II. Erhalt der
freien Berufsausübung und der Selbstverwaltung
Der Deutsche Ärztetag erkennt
an, dass in der zukünftigen Europäischen Union die Freizügigkeit der Ärzte, die
Freizügigkeit medizinischer Dienstleistungen sowie die Patientenmobilität von
hoher Bedeutung sind. Dennoch ist angesichts der traditionellen und kulturell
bedingten hohen Unterschiedlichkeit der Gesundheitswesen der Versuch einer
Harmonisierung oder einer verstärkten Konvergenz abzulehnen. Dementsprechend
ist es auch erforderlich, dass Richtlinien, wie die zu den Dienstleistungen im
Binnenmarkt ebenso wie die über die Anerkennung der Berufsqualifikationen, für
den Fall der grenzüberschreitenden ärztlichen Berufsausübung darauf Rücksicht
nehmen, dass Ärzte, die als Dienstleistungserbringer von ihrem Herkunftsstaat
aus in den Aufnahmestaat tätig werden, sich den Regeln des Aufnahmestaats zu
unterwerfen haben, und zwar in vollem Umfang – und nicht wie im Gemeinsamen
Standpunkt des Rates zur Anerkennungsrichtlinie vorgesehen – nur beschränkt auf
Regeln, die im Zusammenhang mit der Berufsbezeichnung stehen. Ebenso lehnt der
Deutsche Ärztetag die Anwendung des sogenannten Herkunftslandsprinzips ab, bei
dem bei grenzüberschreitendem Dienstleistungsverkehr das Recht des
Herkunftsstaats auch bei der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen
grundsätzlich Anwendung finden sollte. Die vorgesehenen Beschränkungen dieses
Prinzips in dem Vorschlag über die Richtlinie über Dienstleistungen im
Binnenmarkt wären nicht ausreichend, um eine entsprechende patientensichere
Gewährleistung hoher Qualität im Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistungen erbracht
werden sollen, zu sichern.
Der Deutsche Ärztetag stellt
dementsprechend fest, dass Ärzte aus allen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union unter Anerkennung ihrer Diplome in Deutschland tätig werden können,
allerdings unter Beachtung der maßgeblichen Regeln des deutschen Rechts über
die ärztliche Berufsausübung.
Der Deutsche Ärztetag hat
Vorbehalte gegenüber dem Umfang der Anwendbarkeit der sogenannten "Offenen
Methode der Koordinierung im Gesundheitsbereich", auch wenn dies nunmehr
im Verfassungsvertrag als eine grundsätzliche Politik im Bereich der Politik
der Europäischen Gemeinschaften für die öffentliche Gesundheit vorgesehen ist
(Art. III-278 Abs. 2). Die Gesundheitswesen sind unterschiedlich
ausgestaltet. Ob sie – was vorgesehen ist – anhand von Indikatoren gemessen,
verglichen und bewertet werden können, erscheint fraglich. Vor allem kommt es
darauf an, dass die Indikatoren zielgenau sind und auf der Grundlage verlässlicher
Daten eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse gesundheitlicher Versorgung in den
Mitgliedstaaten ermöglichen. Dasselbe gilt für die in der europäischen Politik
diskutierten Ranking-Systeme von Schlüsselindikatoren mit dem Ziel des
"Naming, Shaming and Framing".
Es hat sich auch in der
europäischen Politik die Erkenntnis breit gemacht, dass eine hochwertige
Gesundheitsversorgung ein Innovations- und Wachstumsmotor auch für die
Wirtschaft darstellt. Der Deutsche Ärztetag fordert, dass auch die nationale
Politik in Deutschland sich dieser Zielsetzung verschreibt und nicht durch
bürokratische Reglementierung ein solches Entwicklungspotential verbaut.
Wachstum und Innovation erschöpfen sich nicht in der Einführung der
elektronischen Gesundheitskarte, sondern bedürfen der Sicherung freiheitlicher
Rahmenbedingungen für die Ausübung der Tätigkeit der Heilberufe und der übrigen
im Gesundheitswesen Beteiligten, um Entwicklungspotentiale im Interesse der
Patientenversorgung zu schaffen.
Dazu gehört auch die Anerkennung
der Selbstverwaltung in Deutschland. Hier hängt viel vom Verständnis des
europäischen Wettbewerbsrechts und seinen Einflüssen auf die Erhaltung der
Autonomie der Ärztekammern ab. Gegenüber früher eingenommenen Positionen der
Kommission, welche die Existenz von Berufsordnungen als wettbewerbshindernde
Regelwerke einschätzten, hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
verlässliche Grundlagen für die Rechtsanwendung geschaffen, die es ermöglichen,
dass Ärztekammern ihre Autonomie, die ihnen in Deutschland von Gesetzes wegen
verliehen ist, als eine im Allgemeininteresse wahrzunehmende Aufgabe zur
vernünftigen Ordnung des Freien Berufs des Arztes verstehen und auch handhaben
können.
III. Binnenmarkt und
Patientenmobilität
Im Bereich der medizinischen
Dienstleistungen ist nach wie vor – unbeschadet der
gemeinschaftsverfassungsrechtlichen Grundlagen im neuen Artikel über die Öffentliche
Gesundheit – das Binnenmarktrecht für die entscheidende Grundlage zur mittelbaren
und verbindlichen Ausgestaltung der Gesundheitsdienste, seien sie integraler
Bestandteil von Versorgungssystemen, seien sie – wie auch in der Bundesrepublik
Deutschland – Annex-Beziehungen zu den Sozialleistungs-, insbesondere
Krankenversicherungsträgern. Das Binnenmarktrecht bleibt die entscheidende Ausgangsgrundlage
für die Freizügigkeit der medizinischen Dienste und auch der Patienten, auch in
ihrer Gestalt als Versicherte. Gleichsam als Resümee der zwischenzeitlichen
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs soll in dem Entwurf der
Dienstleistungs-Richtlinie eine Bestimmung aufgenommen werden (Art. 23),
welche die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen
auch für die Versicherten und Gesundheitssystembegünstigten der Mitgliedstaaten
nach dem Prinzip der Kostenerstattung festschreibt, zugleich aber die bekannte
Ausnahme der Krankenhausversorgung wahrt. Dies begrüßt der Deutsche Ärztetag.
Aus der Patientenmobilität
folgt das Problem der Qualität. In der Wahrnehmung des Deutschen Ärztetages ist
dies ein entscheidender Aspekt zukünftiger europäischer Aktivitäten. Soweit es
die Strukturqualität medizinischer Dienstleistungen (Qualifikation der
Berufsangehörigen) angeht, bieten die Richtlinien über die Anerkennung der
Diplome ein geeignetes Instrument. Die derzeit im Gesetzgebungsprozess
befindlichen Reformvorschläge der Richtlinie des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikation entsprechen nicht den
Erwartungen der deutschen Ärzteschaft. Insbesondere fehlt es an einer institutionell
abgesicherten verbindlichen und maßgeblichen Mitwirkung der Ärzteschaft im
normativen Entwicklungsprozess entsprechender Qualifikationsvergleiche und
-anerkennungen.
Auch die Entwicklung von
"Behandlungs"-Standards als Orientierungen für Prozessqualität ist
Aufgabe der ärztlichen Organisationen, die hier einen entsprechenden Beitrag
leisten können. Dies bedarf der Unterstützung durch die gemeinschaftsrechtlichen
Institutionen. Die Erwägungsgründe des neuen Aktionsprogramms im Bereich der
öffentlichen Gesundheit (2003 – 2008) [Beschluss-Nr. 1786/2002/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.09.2002, ABl. EG
Nr. L 271 vom 09.10.2002, S. 1 ff.] weisen ausdrücklich darauf
hin, dass eine uneingeschränkte Zusammenarbeit auch mit Einrichtungen,
Verbänden, Organisationen und Gremien des Gesundheitswesens erforderlich ist,
um die Ziele des Aktionsprogramms zu verwirklichen.
Der Deutsche Ärztetag weist
darauf hin, dass in Deutschland seitens der ärztlichen Organisationen
erhebliche Vorbehalte dagegen bestehen, wenn entsprechende Qualitätsmaßstäbe
von Staats wegen oktroyiert würden.
IV. Arbeitszeit-Richtlinie: Eindeutige Festlegung der Definition von Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit
Im Hinblick auf die
beabsichtigte Änderung der Richtlinie zur Arbeitszeit (93/104) hat die
Bundesärztekammer gemäß einer mit großer Mehrheit gefassten Entschließung des
107. Deutschen Ärztetages die Europäische Kommission aufgefordert, die vom
Europäischen Gerichtshof festgeschriebene Definition des Bereitschaftsdienstes
als Arbeitszeit eindeutig und uneingeschränkt zu bestätigen. In ihrer
Mitteilung zur Revision der Arbeitszeitrichtlinie wies die Kommission darauf
hin, dass die Richtlinie zukünftig besser die derzeitigen Trends widerspiegeln
soll, welche in der Gesetzgebung auf nationaler Ebene sichtbar sind. Das Urteil
des Europäischen Gerichtshofs vom 09.09.2003 hat in Deutschland dazu geführt,
dass in dem daraufhin novellierten Arbeitszeitgesetz ab dem 01.01.2004 die
gesamte Zeit eines Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit anerkannt wird. Durch
diese gesetzliche Festlegung wird nicht nur der dringend notwendige
Arbeitsschutz der Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus, sondern hierdurch auch
die Sicherheit der Patienten verbessert.
Die Bundesärztekammer fordert
daher nachdrücklich den europäischen Gesetzgeber auf, diese endlich erreichte
Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Arbeitszeit nicht durch eine
beabsichtigte Neudefinition der Bereitschaftsdienste mit einer möglichen
Differenzierung in eine aktive und inaktive Zeit zu konterkarieren. Dies lehnt
die deutsche Ärzteschaft entschieden ab.
V. Dauerhafte
Positionierung der Bundesärztekammer
Der 108. Deutsche
Ärztetag bittet den Vorstand der Bundesärztekammer, eine ständige Arbeitsgruppe
unter Mitwirkung von Vertretern der Landesärztekammern einzurichten, welche die
schon eingeleiteten und künftigen Initiativen der europäischen
Gesundheitspolitik begleitet und dazu rechtzeitig Positionen entwickelt, welche
in die Politik sowohl in Deutschland als auch in Europa einfließen können.
Der 108. Deutsche Ärztetag
bittet den Vorstand der Bundesärztekammer außerdem, das Thema Europäische
Gesundheitspolitik als Beratungsschwerpunkt möglichst auf dem nächsten
Deutschen Ärztetag vorzusehen.
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