ENTSCHLIESSUNGSANTRAG IV – 01
ÄNDERUNGSANTRAG ZUM ENTSCHLIESSUNGSANTRAG IV – 01c
Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer
(Drucksache IV-01) unter Berücksichtigung des Antrages von Herrn Merchel
(Drucksache IV-01c) fasst der 108. Deutsche Ärztetag einstimmig folgende
Entschließung:
Armut macht krank: Arme
Menschen haben gegenüber Wohlhabenden eine durchschnittlich um bis zu 7 Jahre
geringere Lebenserwartung, zudem haben sie gegenüber den Wohlhabendsten in
nahezu jeder Lebenssituation ein mindestens doppelt so hohes Risiko, schwer zu
erkranken, vorzeitig zu versterben, einen Unfall zu erleiden oder von Gewalt betroffen
zu sein.
Einflussfaktoren für diesen
Zusammenhang sind insbesondere die Schichtzugehörigkeit und die damit
verbundene Einkommenslage, der Zugang zu Bildung, die Wohnsituation und – dies
ist in einer Zeit mit 5 Mio.
Arbeitslosen besonders wichtig – Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit.
Alle diese Faktoren haben
Auswirkungen auf die Gesundheit, das Gesundheitsverhalten und letztlich auch
auf Zugang und Nutzung der gesundheitlichen Versorgung. Ebenso kann Krankheit
den beruflichen Erfolg gefährden und die Einkommenssituation verschlechtern.
Krankheit kann so zu einem sozialen Abstieg beitragen oder einen sonst
möglichen sozialen Aufstieg verhindern.
Wer den Zugang zu Wissen,
Bildung, Arbeit, Geld, Wohnungsmöglichkeiten und Ansehen einbüßt, der verliert
Lebensqualität. Wer weniger Bildung hat, hat zumeist auch geringere Chancen am
Arbeitsmarkt, ist am Arbeitsplatz größeren gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt
und bekommt für die geleistete Arbeit weniger Lohn. Geringere finanzielle
Mittel wiederum bedingen meist eine schlechtere Wohnsituation, weniger
Möglichkeiten einer ausgleichenden Freizeitgestaltung, eine ungesündere
Ernährung und einen schlechteren Zahnstatus.
Arbeitslosigkeit und Armut
lassen Menschen früher altern, rascher krank werden, sie rauben die Initiative
zur eigenen Gesundheitsförderung, zerstören die Motivation zur Prävention,
mindern gesundheitliche Potenziale und fördern gesundheitsbelastende
Verhaltensweisen. Arbeitslosigkeit macht arm, und Armut und Arbeitslosigkeit machen
krank, und dies bis in die nachfolgende Generation hinein.
Aus ärztlicher Sicht bedrohen
und verschlechtern relative Einkommensarmut und Armut als Minderversorgung in
relevanten Lebensbereichen, nämlich an Arbeit, an Bildung, an Wohnungsmöglichkeiten,
an Kultur und Politik, an Beziehungen und emotionalen Bindungen, die Gesundheit
und erhöhen das Mortalitätsrisiko. Ärztinnen und Ärzte erleben dies insbesondere
bei Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen, Wohnungslosen, illegal in Deutschland
Lebenden, Migranten, allein erziehenden Frauen, kinderreichen Familien,
psychisch Kranken und Heimbewohnern.
Aufgrund des steigenden
Morbiditätsrisikos bei steigender Arbeitslosigkeit und Armut nimmt auch der
Bedarf an ärztlichen Leistungen zu, während die hierfür verfügbaren
finanziellen Ressourcen geringer werden, weil die Finanzierung der gesetzlichen
Krankenkassen nahezu ausschließlich an die Arbeitskosten gekoppelt ist. Hieraus
folgt eine schlechtere gesundheitliche Versorgung der betroffenen Bevölkerungsgruppen.
Eine Verschärfung dieser Tendenz zeichnet sich seit Inkrafttreten des GMG mit
seinen Zuzahlungsregelungen und dadurch bedingte erschwerte
Zugangsmöglichkeiten zur gesundheitlichen Versorgung ab.
Der zentrale Ansatz zur
Abwehr der gesundheitlichen Folgen von Armut und Arbeitslosigkeit ist die
Überwindung der gegenwärtigen Massenarbeitslosigkeit. Aus ärztlicher Sicht ist
der Hinweis wichtig, dass schlechte Arbeitsbedingungen ohne längerfristige
Beschäftigungsperspektive im Einzelfall mit noch größeren gesundheitlichen
Risiken verbunden sein können als Phasen der Arbeitslosigkeit. Unter gesundheitlichen
Aspekten kommt es deshalb sehr auf die Etablierung dauerhafter Arbeitsperspektiven
an.
Mit den Mitteln der
Gesundheitspolitik lassen sich diese gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen
nicht bewältigen. Hier ist vor allem die Wirtschafts-, Steuer-, Sozial-,
Finanz-, Tarif- und Arbeitsmarktpolitik gefordert. Dennoch lassen sich eine
Reihe von gesundheitspolitischen Maßnahmen nennen, mit deren Hilfe versucht
werden kann, die Situation partiell zu verbessern.
Um die gesundheitlichen
Defizite unterprivilegierter Patientinnen und Patienten ausgleichen zu können,
benennt der Deutsche Ärztetag folgende Maßnahmen:
1.
Da zunehmende Armut und
Arbeitslosigkeit einen erhöhten Bedarf an ärztlicher Versorgung zur Folge hat,
müssen in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit dem Gesundheitssystem mehr statt
weniger Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Eine ausschließliche
Koppelung seiner Finanzierung an das Arbeitseinkommen wird dieser Logik nicht gerecht,
so dass zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten erschlossen werden müssen.
2.
Das Problem "Armut und
Gesundheit" muss Eingang in medizinische Forschung, Lehre, Weiter- und
Fortbildung finden.
3.
Die von der Bundesärztekammer
initiierte und geförderte Versorgungsforschung muss sich dieses Themas
annehmen. Die Ständige Koordinationsgruppe "Versorgungsforschung" des
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer sollte entsprechende
Fragestellungen erarbeiten.
4.
Die Diskussion um neue
Versorgungs- und Kooperationsformen und entsprechende Modellprojekte sollte
nicht allein der Verbesserung einzelner Krankheitsbilder, sondern der
Verbesserung der Gesundheitsversorgung unterprivilegierter
Regionen/Lebenswelten Aufmerksamkeit widmen.
5.
Der ärztliche Bereich muss
zukünftig gemeindeorientiert im Rahmen von Vernetzungsstrukturen arbeiten.
Unter Koordinierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes sollten diese
Arztgruppen gemeinsam mit Pflegediensten und Sozialarbeit sowie anderen Gesundheitsberufen
Defizite der gesundheitlichen Versorgung in besonders betroffenen Regionen
identifizieren und gemeinsam im Sinne einer gemeindeorientierten Handlungsweise
eine entsprechende Versorgung herbeiführen. Z. B. müssen organisiert werden:
Präsenzzeiten von Ärztinnen und Ärzten in Schule und Kindergarten,
sozial-psychiatrische Verbünde, aufsuchende Versorgung Unterprivilegierter
(Obdachloser, Alleinerziehender, alter und psychisch kranker Menschen).
6.
Die Krankenkassen, die
Projekte zur Förderung der Gesundheit unterprivilegierter Patientengruppen
unterstützen oder ins Leben rufen (z. B. Netzwerke zwischen Hausärzten,
Pflegediensten, Sozialarbeit, Familienhebammen und Ehrenamtlichen), erhalten
Gelder aus dem Risikostrukturausgleich.
7.
Krankenkassen und Gemeinden
zahlen Honorarzuschläge und Unterstützungszahlungen bei Niederlassung von
Ärzten in unterprivilegierten Regionen.
8.
Wie z. B. in
Großbritannien leisten Krankenkassen Bonuszahlungen außerhalb der Gesamtvergütung
an Ärzte, die sozial benachteiligte Patientinnen und Patienten an Präventionsmaßnahmen
heranführen. Aufsuchende Betreuung durch Ärzte bei einer unterprivilegierten
Patientenklientel, die von sich aus in zu geringem Maße ärztliche Versorgung in
Anspruch nimmt, wird mit weiteren Bonuszahlungen außerhalb der Gesamtvergütung
an primärärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte honoriert.
9.
Sozialpsychiatrische Dienste
werden auf- und ausgebaut, ambulante psychiatrische Pflege wird nach dem
Abschluss des bundesweiten Modellversuches von den Krankenkassen als
Regelleistung übernommen.
10.
Die Gesundheitspolitik
streicht sämtliche Zuzahlungen und die Praxisgebühr für Wohnungslose
und Heimpatienten. Zuzahlungen von Kindern für Medikamente sind
erst ab dem 18. Lebensjahr (anstelle ab dem 12. Lebensjahr) zu leisten.
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