Eröffnungsveranstaltung

1. Tag: Dienstag, 23. Mai 2006 Vormittagssitzung

Prof. Dr. BöhmerProf. Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt: Verehrter Herr Präsident Professor Hoppe! Frau Ministerin Schmidt! Meine Herren Präsidenten der Landesärztekammern und der Verbände! Meine Damen und Herren Abgeordneten aller Parlamente! Herr Oberbürgermeister! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Sie meinerseits ganz herzlich zu Ihrem 109. Deutschen Ärztetag in Magdeburg begrüßen. Ich will gern zugeben: Als mich mein Kammerpräsident, Herr Friebel, vor einem Jahr darüber informierte, dass 2006 der Deutsche Ärztetag in Magdeburg stattfinden werde, war ich noch nicht in der Lage, ihm zuzusagen, sondern musste zugeben: erst einmal schauen, wie das Leben weitergeht; nächstes Jahr reden wir wieder da­rüber.

Nunmehr freue ich mich, dass ich Sie heute hier bei uns in Sachsen-Anhalt begrüßen kann. Herr Friebel hat schon darauf hingewiesen: In Magdeburg waren Sie noch nie; in dieser Region Sachsen-Anhalt waren Sie das letzte Mal vor 100 Jahren, nämlich im Jahre 1906 in Halle. Damals war an das Land Sachsen-Anhalt noch gar nicht zu denken. Wir sind das jüngste deutsche Bundesland, letztlich nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, zwischendurch wieder aufgelöst worden, erst seit der Wiedervereinigung ein eigenständiges Bundesland.

Aber wir sind keine geschichtslose Region; das haben Sie bereits vorgeführt bekommen. Wir sind diejenige Region in Deutschland, von der aus das deutsche Kaisertum begründet wurde, von der aus die Intentionen zur Bildung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausgegangen sind. Wir sind das Land der Reformation, wir sind das Land der Bauhaus-Architektur und wir sind ein Land mit langer industrieller Tradition in Mitteldeutschland.

Wir sind auch ein neues Bundesland, das nach einem schwierigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozess wieder dabei ist, die Grundlagen für eine eigene Existenz aufzubauen. Wir sind dabei nicht völlig erfolglos, aber auch nicht so erfolgreich, wie wir selber gern wären. Wir haben - wie alle anderen neuen Bundesländer auch - eine ganze Reihe von Schwierigkeiten.

Ich weiß - und habe es jetzt wieder von Ihnen gehört -, dass wir alle Schwierigkeiten haben und dass die meisten Probleme, die wir haben, in der Zwischenzeit gesamtdeutsche Probleme und nicht mehr spezielle Probleme nur der neuen Bundesländer sind.

Ich habe eben von Ihnen, verehrter Herr Friebel, den natürlich richtigen Satz gehört, dass man die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mit den Regeln, den Vorstellungen und den Gesetzen der Vergangenheit oder auch des vergangenen Jahrhunderts wird lösen können. Ich denke, darüber sind wir uns alle einig.

Trotzdem gibt es eine ganze Reihe von Problemen, die mir so unerhört bekannt vorkommen. Als vor 100 Jahren der, wie erwähnt, letzte Ärztetag in dieser Region, in Halle, stattfand, waren viele Probleme, die damals diskutiert wurden, mit denen, die Sie heute auf der Tagesordnung haben, zwar sicherlich nicht vergleichbar, aber sehr ähnlich waren sie schon. Schon damals, vor 100 Jahren, hat der Ärztetag über die Stellung der Ärzte zu den Versicherungskassen diskutiert und Forderungen erhoben sowie Beschlüsse gefasst zur Versicherungsgesetzgebung, auch den Beschluss zur Ablehnung einer damals vorgesehenen so genannten Mittelstandskasse, mit der verhindert werden sollte, dass Personen, die mehr als ein bestimmtes Minimum verdienen, sich nun auch noch in einer eigenen Kasse zusammenschließen.

Die Ärzteschaft damals wehrte sich gegen die Bildung einer Kasse der so genannten Besserverdienenden, weil sie meinte, dass sich dadurch immer mehr in den Schutz der Kassen begeben und das Honorar der Ärzteschaft deutlich schmälern würde.

In den damals gefassten Beschlüssen heißt es:

Jedes Bestreben nicht versicherungspflichtiger Personen jedoch, sich mit Hilfe von Versicherungsorganisationen verbilligte ärztliche Hilfe zu verschaffen, würde nur dahin führen, die ohnehin ungünstige wirtschaftliche Lage des Ärztestandes weiter zu verschlechtern.

Die Ärzteschaft hat sich schon vor 100 Jahren für die Zusammenlegung der vielen bestehenden Kassen eingesetzt - ein Prozess, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist.

(Beifall)

Wenn ich richtig informiert bin, hat sich die Zahl der Versicherungskassen von einstmals über 1 000 auf etwas über 300 verringert - und kaum jemand hat es gemerkt. Ich habe den Verdacht: Wenn sich die Zahl weiter verringern würde, würde dies bestenfalls zu einer Vereinfachung der Abrechnungsverfahren führen und sonst kaum auffallen.

(Beifall)

Auf dem Ärztetag in Halle wurde vor 100 Jahren beschlossen, dass die Beiträge nach Prozenten des wirklichen Arbeitsverdienstes zu erheben seien und nicht mit irgendwelchen Pauschalen, weil das Aufkommen des Versicherungsgeldes erhöht werden müsste, damit die ärztlichen Leistungen besser bezahlt werden könnten. Der damalige Präsident hat ausgeführt:

Wohl hat unser Stand zur Zeit, angewiesen auf die eigene Kraft, schwer zu ringen für die Sicherung der materiellen Lage seiner Mitglieder, die gewährleistet sein muss, wenn der Arzt die ihm durch die Forderung der Zeit und der Gesetzgebung gestellten Aufgaben auf sozialem Gebiet erfüllen soll.

Ich glaube, verehrter Herr Präsident Hoppe, Sie könnten das heute fast genauso formulieren.

Das heißt, wir haben eine ganze Reihe von Themen, die sich im Zeitablauf immer wieder stellen, natürlich unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen,
aber in ihrem Kern unterscheiden sie sich doch nicht so sehr. Ich entnehme dem Bericht aus der "Münchener Medizinischen Wochenschrift":

Die sehr reiche Tagesordnung zeigte insofern gegenüber denen der letzten vorangegangenen Ärztetage eine angenehme Veränderung, als nicht ausschließlich Krankenkassenfragen selbst behandelt wurden.

Man hat damals auch - das ist nachlesbar - über die Unterweisung und Erziehung der Schuljugend zur Gesundheitspflege gesprochen, weil man der Meinung war: Man kann nicht alles einem Versicherungssystem überlassen, sondern wir müssen mehr Eigenverantwortung der Patienten schon in der Schule mit der Schulgesundheitspflege aufbauen.

Ich habe den Verdacht: Auch das, was damals möglicherweise neu war, ist noch heute ein Problem, über das wir uns nicht abschließend geeinigt haben.

Nun mag es an mir liegen, dass ich häufig in Gespräche verwickelt werde, wenn Ärzte über die Politik sprechen und Politiker über die Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn ich vielleicht nicht besonders empfindlich bin: Manches, was ich da höre, tut sogar ein bisschen weh und ist nicht immer sehr einfühlsam. Da höre ich etwas von Politikern, die von der Sache, über die sie reden, keine Ahnung haben,

(Beifall)

die nur an der Sicherung der eigenen Pfründe interessiert seien und Entscheidungen über Sachen treffen, von denen sie nichts verstehen. Wenn die Politiker über die Leistungserbringer im Gesundheitswesen reden, höre ich, das sei ein Haifischbecken, lauter Lobbyisten, die nur an den eigenen Pfründen interessiert seien und für die sozialen Zusammenhänge in einer Gesellschaft kein Verständnis hätten.

Beides klingt unbarmherzig. Bei dem zweiten Aspekt haben Sie auffälligerweise nicht applaudiert; dafür hätte ich Applaus bekommen, wenn ich vor Politikern gesprochen hätte.

Beides beweist doch nur, dass wir wahrscheinlich auch in den nächsten 100 Jahren die Probleme nicht gelöst haben werden, wenn wir uns nicht etwas mehr Zeit lassen als bisher, uns erst einmal gegenseitig zuzuhören, uns auch gegenseitig deutlich zu machen, wo die jeweils eigenen Grenzen liegen - nicht nur die eigenen Wünsche, Ziele und Forderungen - und was möglich ist, was wir voneinander zu Recht verlangen können und wo wir um ein gewisses Verständnis werben müssen, wenn wir gemeinsame Lösungen suchen. Ich sage deutlich: Darum bitte ich ausdrücklich.

(Beifall)

Wie soll denn von Nichtmedizinern verstanden werden, dass das Arbeitsvolumen noch schneller gewachsen ist als die Zahl der Ärzte? Da wird deutlich gesagt: Die Bevölkerungszahlen sinken, aber es gibt absolut und relativ steigende Ärztezahlen. Immer öfter wird behauptet, sie schaffen die Arbeit nicht, weil sie immer mehr geworden ist. Das muss man sich gegenseitig doch erst einmal erklären! Das soll kein Vorwurf sein; nicht einmal die Gesundheitsökonomen haben es bisher geschafft, den Politikern richtig zu erklären, warum das so ist.

(Beifall)

Nur kann ich nicht von jedem Politiker, der entscheiden soll, erwarten, dass er erst einmal ein Jahr am Krankenhaus oder in der Praxis arbeitet. Das wird auch in Zukunft nicht zu schaffen sein.

(Zurufe)

Ich würde auch nicht von jedem Mediziner erwarten, dass er erst einmal ein Abgeordnetenmandat übernimmt, um sich in die politischen Probleme einzuarbeiten. Auch das können wir nicht schaffen.

(Beifall)

Aber wir müssen wenigstens die Zeit dafür haben, uns gegenseitig die Probleme so zu erklären, dass sie nicht immer nur mit unnötigen Forderungen und Vorwürfen verbunden sind.

Wenn mir gesagt wird, es sei völlig unverständlich, dass die Politik nicht umgesetzt habe, was schon vor zehn Jahren auf einem Ärztetag beschlossen wurde, sage ich: Es kann ja sein, dass die Politiker verständnislos und taub sind, nicht bereit, zuzuhören, dass sie es nicht verstehen wollen; es kann aber auch sein, es geht nicht, weil es Rahmenbedingungen gibt, die respektiert werden müssen, und deshalb die Lösungen nicht eins zu eins übernommen werden können.

Ich höre immer wieder, es gebe Effizienzreserven im System, die nur erschlossen werden müssten. Das höre ich von vielen Seiten. Aber, meine Damen und Herren, dann müssten wir uns auch einmal darüber unterhalten: Wo sind denn diese Effizienzreserven?

(Beifall)

Was würde es denn bedeuten, wenn wir sie erschließen würden? Bei wem würden wir sie denn finden? Das sind doch Dinge, über die wir mit Formulierungen fast parolenhaft hinwegdiskutieren, ohne uns deutlich zu machen, wovon wir im Einzelnen reden, und was es bedeuten würde, wenn.

Das heißt, wir haben einen riesigen Gesprächsbedarf. Wir müssen auch darüber reden, ob wir ein System mit mehr Entscheidungsfreiheit wollen - das höre ich häufig; jeder weiß, dass das mit mehr Risiko für den Einzelnen verbunden ist - oder ob wir ein System mit mehr Sicherheit wollen, von dem jeder weiß, dass es mit mehr Reglementierung verbunden ist. Darüber werden wir uns irgendwann einmal entscheiden müssen, wenn wir Grundsatzentscheidungen für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens treffen.

Wir alle wissen: Wir haben in Deutschland vielleicht nicht das beste Gesundheitswesen der Welt, aber mit Sicherheit eines der besten Gesundheitssysteme dieser Welt.

(Beifall)

Das bestreitet niemand. Aber mit wem auch immer aus diesem Gesundheitswesen ich rede - alle klagen und alle sagen, dass es so nicht weitergehen kann und dass sich nun endlich einmal etwas ändern muss. Wir müssen schon darüber reden, wohin die Reise gehen soll und was sich ändern soll.

Wir müssen auch darüber sprechen, welche Problemlösungsmöglichkeiten innerhalb der so sehr vernetzten, verwobenen gesellschaftlichen Strukturen denn überhaupt für die politischen Entscheidungsträger offen sind. Sie können ja auch nicht nach eigenem Gusto und Wunschdenken, abgehoben von den anderen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens, entscheiden. Wir dürfen und müssen auch darüber reden, wo denn die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten liegen, auch für diejenigen, die Politik und Gesetzgebung zu verantworten haben. Da habe ich den Eindruck: Wir reden sehr viel übereinander, meistens verbunden mit Vorwürfen, aber nutzen nicht die Zeit und die Geduld und manchmal auch die Nachsicht, uns die Zusammenhänge aus der eigenen Sicht zu erläutern.

Ich weiß auch, selbst wenn ich seit 15 Jahren nicht mehr ärztlich tätig bin, dass sich die Arbeit in einem Umfang verändert hat, verbürokratisiert worden ist, mit bürokratischem Verwaltungsaufwand überlastet worden ist, wie wir uns das früher gar nicht hätten vorstellen können. Darüber muss man auch einmal reden dürfen.

Die Haftpflichtabsicherung ist zu einem Problem geworden, wie das vor 20 oder 30 Jahren nicht notwendig war. Sie setzt einen Dokumentationsaufwand voraus, der unendlich Arbeit macht und lästig ist. Aber man muss sich fragen: Wie bekommen wir das hin? Was ist notwendig und was ist möglicherweise verzichtbar?

Zu dem, was ich im Zusammenhang mit Qualitätsmanagement höre, will ich mich gar nicht wertend äußern. Ich habe noch Ärztegenerationen kennen gelernt, die so etwas als persönliche Beleidigung empfunden hätten. Auch das hat es gegeben.

(Beifall)

Ich weiß natürlich, dass sich vieles auf dieser Welt verändert hat und dass wir mit der Zeit gehen müssen. Man muss darüber reden: Was ist wirklich notwendig? Was ist verzichtbar? Wo kann man rationalisieren? Was kann man anderen Berufsgruppen übertragen?

Dazu gehören auch die unendlichen Kassennachfragen, ob denn der letzte Behandlungstag wirklich notwendig gewesen sei usw.

(Beifall)

Das ist in einer Art und Weise ausgeartet, wie ich es persönlich glücklicherweise nie erlebt habe. Aber ich lasse mir das schon deutlich machen. Ich habe dann Verständnis dafür, dass da Unmut, Frust und Verärgerung aufkommen. Aber damit ist das Problem ja auch noch nicht gelöst. Wir müssen darüber reden, wie wir gemeinsam vernünftige Lösungen finden.

Viele andere Probleme sind ähnlicher Art und werden nicht lösbar sein, wenn wir uns nicht gemeinsam zusammensetzen und gemeinsam nach Lösungen suchen.

Einige Grundprinzipien sind mir bis heute auch noch nicht umgesetzt und realisiert. Es ist seit Beginn der Versicherungskassen Konsens, dass das Morbiditätsrisiko von den Versicherungskassen getragen werden muss und nicht von den Leistungserbringern.

(Beifall)

Aber - ich weiß, dass Sie jetzt nicht applaudieren werden - es muss dann auch Konsens sein, dass das Risiko der Mengenausweitung ad libitum nur von den Leistungserbringern gesteuert und getragen werden muss und nicht von den Versicherungskassen. Auch darüber müssen wir reden, wenn wir das System steuerbar bekommen wollen.

(Beifall)

Sie wissen, dass das Probleme sind, die auch unter uns noch erheblich umstritten sind. Trotzdem werden wir gemeinsam Lösungen suchen müssen - und das alles unter Rahmenbedingungen, die man nicht einmal den Politikern vorwerfen kann, die aber diese Rahmenbedingungen setzen und damit auch die Entscheidungsfreiheit einengen.

Dazu gehört auch der demografische Wandel. Es ist vielleicht etwas überzogen formuliert und ich bitte, es mir nachzusehen: Kaum eine Entwicklung aus der Medizin hat die Zivilisationsgeschichte so sehr verändert wie die Steuerbarkeit der Familienbildung im letzten Teil des 20. Jahrhunderts. Das hat zu einem demografischen Wandel geführt, sodass die demografische Schichtung der Bevölkerungsstrukturen, auf der unser Versicherungssystem zu Bismarcks Zeiten einmal aufgebaut wurde, nie wieder so sein wird, wie sie einmal war. Wir werden für die neuen Verhältnisse und auch für die neuen demografischen Strukturen angepasste Regeln finden müssen.

Ich will gar nicht von dem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wachsenden medizinischen Fortschritt reden, den wir alle begrüßen, für den wir dankbar sind. Die daraus resultierenden Probleme muss "die Politik" - diesen Begriff halte ich für genauso unglücklich wie "das Gesundheitswesen" oder "das Gesundheitssystem", aber das tun wir uns gegenseitig an -, müssen die politischen Entscheidungsträger vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Zeiten der Globalisierung mit einer noch immer hohen Arbeitslosigkeit organisieren. Dies engt die Entscheidungsfreiräume ein und macht es einfach nicht möglich, dass alles so gesteuert werden kann, wie man es aus der eigenen Sicht für wünschenswert hält.

Hinzu kommt folgende Tatsache, die ich ganz fröhlich ansprechen will, weil ich gewohnt bin, dass man mir alles vorwirft, wenn ich jetzt anspreche, was die anderen so laut nicht sagen: Die Tatsache, dass wir in Deutschland - nicht nur in Deutschland - ein hohes Maß an sozialer Sicherheit haben, hat zu einem Absinken der Eigenverantwortung geführt. Das ist zu einer Lebensgewohnheit geworden, die wir durchbrechen müssen, wenn wir das System überhaupt steuerbar machen.

(Beifall)

Ich weiß, dass viele von Ihnen gern zum Wintersport fahren. Ich möchte das wirklich niemandem vermasseln. Aber wenn ich mir erzählen lasse - diese Zahl habe ich von Kollegen gesagt bekommen -, dass etwa 60 000 Knochenbrüche pro Jahr bei Freizeitsportlern behandelt werden müssen, die vielleicht mal eine Woche im Jahr zum Wintersport fahren, und dass dies das gesamte System des Gesundheitswesens mit etwa 3 Milliarden Euro belastet, dann frage ich: Ist es unbedingt zwingend, dass wir dies alles bei der Versichertengemeinschaft abladen? Oder denkt man einmal darüber nach, welche Lösungsmöglichkeiten wir sonst noch finden könnten?

(Beifall)

Ein Kollege hat eben auf seine Figur gezeigt; ich sage nicht, wer es war. Inzwischen wissen wir doch alle, dass das Übergewicht ein hohes Morbiditätsrisiko darstellt. Mir fällt nichts ein, wie man es regeln könnte, diese Personengruppe an ihrem höheren Risiko zu beteiligen. Mir fällt auch nicht ein, wie man es machen sollte, diejenigen, die trotz ausdrücklicher Warnung weiter Zigaretten rauchen, an ihrem erhöhten Risiko zu beteiligen.

Dass wir schon einmal gesagt haben, das Aufkommen aus der Tabaksteuer müsse dem Gesundheitssystem zur Reparatur derjenigen Schäden zur Verfügung gestellt werden, die durch den Tabakgenuss verursacht werden, halte ich auch heute noch für ausgesprochen richtig.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, ich höre auch immer den Satz: Wir brauchen mehr Wettbewerb im System zur Selbststeuerung und zur Verbesserung der Effizienz. Es mag ja an meiner begrenzten Auffassungsgabe liegen, dass sich mir dies bis heute noch nicht richtig erschlossen hat. Ich will ganz deutlich sagen: Das Gesundheitswesen ist ein System, in dem sich das Angebot die Nachfrage selbst schafft. Das ist nicht vergleichbar mit dem üblichen Warenaustausch in anderen Bereichen der Wirtschaft. Deshalb halte ich es für schlicht falsch, so zu tun, als ob man die allgemeinen Steuerungsregeln einer freien Wirtschaft zur Effizienzverbesserung im Gesundheitswesen einsetzen könnte. Dann werden wir Probleme bekommen.

(Beifall)

Ich will mich ja nicht mit jemandem anlegen, aber ein Beispiel, an dem man das beobachten kann, ist der Arzneimittelmarkt. Wir haben in Deutschland etwa 2 300 zugelassene Substanzen, die in mehr als 52 000 Darreichungsformen angeboten werden. Wir haben in diesem Bereich eine sehr liberale Gesetzgebung. Wir haben bestimmt Wettbewerb. Aber besser, billiger und effektiver ist es dadurch nicht geworden.

(Beifall)

Das sind die Probleme, die man - das sage ich ohne Bitterkeit - auch nicht bei den Leistungserbringern in Form einer Bonus- oder Malus-Regelung abladen kann. Das müssen wir auf andere Weise lösen.

(Beifall)

Aber eine Bonus- oder Malus-Regelung - was auch immer - zur Unterstützung der Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit sollte uns einfallen, wenn wir das Problem in Zukunft steuerbar bekommen wollen.

(Beifall)

Ich bin der Meinung, dass da Entscheidungen notwendig sind, die ohne ärztlichen Sachverstand nicht getroffen werden können.

(Beifall)

Von dem englischen Romancier Huxley, den Sie alle kennen, wenigstens aus seinem kleinen Roman "Schöne neue Welt", soll der Satz stammen:

Die medizinische Forschung hat so enorme Fortschritte gemacht, dass es überhaupt keine gesunden Menschen mehr gibt.

Das scheint so zu sein. Wenn das so ist, dann müssen wir anfangen, grundlegend die Begriffe verbindlich füreinander zu definieren. Man wird Grenzen festlegen müssen, wo denn tatsächlich der behandlungsbedürftige Zustand beginnt und was an Behandlung wir uns gegenseitig solidarisch absichern und gegenseitig zusagen, und welche Leistungen durch die sich immer ausdehnenden therapeutisch-ärztlichen Möglichkeiten wir nicht mehr solidarisch absichern müssen. Ich beneide niemanden, der diese Grenzen ziehen muss. Ich käme dabei selbst in große Verlegenheit; das weiß ich.

Aber ich weiß auch, dass wir diese Entscheidung werden treffen müssen. Ich weiß auch - jetzt wird es noch schlimmer -, dass wir diese Entscheidung nicht den Juristen und nicht den Ökonomen überlassen dürfen.

(Beifall)

Weil das so ist, stehen Sie, meine Damen und Herren, vor wirklich schwierigen und nicht einfachen Aufgaben. Für deren Diskussion, die Sie sich vorgenommen haben, wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Ich hoffe, dass wir am Ende in der Lage sind, uns gegenseitig zu helfen, Lösungen für die Zukunft zu finden.

Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall)

© 2006, Bundesärztekammer.