TOP I: Patientenversorgung in Deutschland - Rahmenbedingungen ärztlicher Berufsausübung

1. Tag: Dienstag, 23. Mai 2006 Nachmittagssitzung

Dr. Thiel, geladener Gast: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet heute zum 109. Deutschen Ärztetag, dass die Frage der ärztlichen Weiterbildungsordnung und Fragen zur Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen auf der Tagesordnung stehen. Es heißt wörtlich:

Doch die meisten Ärzte und erst recht die Öffentlichkeit wird das nicht interessieren.

So sehen wir das auch. Wir freuen uns, dass wir hier eingeladen wurden und aus den Universitätskliniken vor Ort berichten können, wie der Stand der Dinge ist. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat absolut Recht. Herr Böhmer hat offensichtlich in der gestrigen Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gesagt, dass unsere Forderungen nicht berechtigt sind.

Ist das in unserem Sinne? Können Sie das unterschreiben? Wir an den Universitätskliniken können das nicht unterschreiben. Die Universitätskliniken sind im Aufruhr, die Universitätskliniken brennen.

(Beifall)

Wir sind im Moment die Speerspitze dieser Bewegung. Wir tragen diese Bewegung. Der Rest Deutschlands muss sich anschließen, ob es sich um kommunale Häuser oder um niedergelassene Kollegen handelt.

2004 sind wir zusammen mit wenigen Personen zum ersten Mal nach Stuttgart gefahren, nachdem man uns das Weihnachtsgeld und das Urlaubsgeld gekürzt bzw. gestrichen hatte. 2005 folgten viele Streikaktionen, tageweise. Im Juli 2005 folgte eine wochenlange Streikaktion. Man hat Verhandlungen angefangen, die dann aber unnötig in die Länge gezogen wurden. Das war die Taktik des Aussitzens.

Wir sind unserer ethischen Verpflichtung stets nachgekommen. Wir haben eine umfangreiche Notfallversorgung angeboten. Nicht zuletzt deswegen - zumindest ist das meine Meinung - unterstützt uns die Bevölkerung, auch wenn wir sagen: Wir streiken während der Fußballweltmeisterschaft.

Nachdem diese Verhandlungen gescheitert waren, befinden wir uns in Freiburg in der zehnten Streikwoche ohne Pause. Die TdL sitzt uns tatsächlich im Nacken. Warum haben wir noch immer keinen Ärztetarifvertrag? Sind unsere Forderungen überzogen? Auf der anderen Seite unterstützen uns mehr als 80 Prozent der Öffentlichkeit.

Ein 32-jähriger Assistenzarzt im vierten Jahr der Weiterbildung, tätig an einer Exzellenzuniversität, tätig in Forschung und Lehre, mit eigenem Laborprojekt, bekommt im Monat 1 651 Euro - für 60 Stunden Arbeit, für Arbeit in der Forschung, ohne Möglichkeit des Hinzuverdienstes. Wir arbeiten arbeitszeitgesetzkonform; trotzdem gibt es Überstunden, die nicht erfasst und nicht bezahlt werden.

(Zurufe: Sauerei! Frechheit!)

Wir wollen Arbeitsbedingungen, unter denen wir tatsächlich Spitzenleistungen erbringen können.

Jetzt haben ver.di und TdL einen Tarifvertrag abgeschlossen, der uns 16 Prozent mehr bietet. Ist das ein Grund, uns zu freuen? Von wegen. Die meisten haben wahrscheinlich die Anlage 5 gelesen: Arbeitszeiterhöhung auf 42 Stunden. Es gibt die Klausel hinsichtlich der Zukunftssicherung, die besagt, dass die Klinik bei wirtschaftlicher Schieflage sofort um 10 Prozent kürzen kann. So sichert man die Zukunft der Ärzte in Deutschland! So geht man mit den Leistungsträgern um!

Die Ärzte an der Universitätsklinik Freiburg sind sauer, die Ärzte in ganz Süddeutschland sind sauer. Dort hinten stehen meine Kolleginnen und Kollegen aus Ulm, Tübingen und Heidelberg!

(Beifall)

Wir haben Unterstützung durch die bayerischen Universitäten erhalten. Wir begrüßen die Kolleginnen und Kollegen aus München, die ebenfalls dort hinten stehen!

(Beifall)

Wir sind sauer. Wir haben jeden Morgen von 9 bis 10 Uhr eine Vollversammlung. Dort besprechen wir die aktuelle Situation. Im Moment sind alle unsere Kolleginnen und Kollegen der Meinung, dass allen Kolleginnen und Kollegen, die diesen Tarifvertrag akzeptieren, den Bürokraten für uns abgeschlossen haben, der Arsch richtig auf Grundeis gehen soll!

(Beifall)

Wir verstehen die Welt nicht mehr. Wir sind leistungsbereit, wir wollen nicht bezahlt werden, ohne dass wir dafür international konkurrenzfähige Spitzenleistungen erbringen. Man muss uns aber Arbeitsbedingungen ermöglichen, unter denen wir diese Leistungen erbringen können. Im Moment haben wir keine Zukunft mehr. Oberarztstellen sind völlig unattraktiv geworden. Mit W-Verträgen können wir uns keine Zukunft vorstellen. Die Niederlassung wird unattraktiver. Letztendlich sind wir flexibel. Wir werden ins Ausland abwandern.

Was sagt Herr Struck dazu? Er meint:

Erst einmal muss der Speck im System konsequent abgebaut werden.

Ich weiß nicht, wo bei 1 600 Euro noch der Speck sein soll.

Wir gehen ein hohes persönliches Risiko ein. Wir haben Gehaltseinbußen von bis zu 1 000 Euro im Monat. Vom "Speck" bleiben noch 600 Euro übrig. Das ist knapp. Trotzdem halten wir solidarisch diesen Streik durch.

(Beifall)

An anderer Stelle kann man durchaus sehen, wo man einsparen könnte. Wenn die Einsparmaßnahmen nicht ausreichen, müssen wir uns überlegen, wie das Betttuch, das nicht mehr für uns alle ausreicht, vergrößert werden kann. Das kann nicht dadurch geschehen, dass jeder an einer anderen Ecke zieht, sondern wir müssen gemeinsam zusammenstehen. Wir sitzen in einem gemeinsamen Boot. Es hat an den Universitätskliniken lange gedauert, bis das ins Bewusstsein gedrungen ist. Inzwischen sitzen die Universitätsärzte mit im Boot; zu Beginn sah das anders aus. Damals saßen wir nicht nur nicht in einem gemeinsamen Boot, sondern wir ruderten auch noch in unterschiedliche Richtungen.

Mein Appell geht an die Kollegen aus den kommunalen Krankenhäusern und an die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, mit uns an einem Strang zu ziehen. Wir müssen das Ganze reißen. Wir können das nur zusammen reißen. Wir machen die Medizin nur zukunftsfähig, wenn wir zusammenstehen.

(Beifall)

Der Leitspruch der Streikbewegung in Freiburg lautet: Wir für uns, nicht gegen andere. Die Streikbewegung richtet sich nicht gegen die Krankenschwestern, richtet sich nicht gegen die Patienten, sondern ist für uns. Wir müssen unsere Ziele klar machen, wir müssen verdeutlichen, dass sie berechtigt sind.

Wir haben viele Zuschriften von Kollegen aus kommunalen Häusern erhalten, die uns unterstützen möchten. Sie selber können im Moment nicht streiken. Deshalb hat der Marburger Bund freundlicherweise ein Streikkonto eingerichtet. Wer diesen Streik unterstützen möchte, ist aufgerufen, sich die Kontonummer und die Bankleitzahl, die Sie hier auf der Leinwand sehen, aufzuschreiben und etwas zu überweisen. Wir stehen diesen Streik allerdings auch ohne dieses Spendenkonto durch. Es wäre aber ein Signal der Kollegen vor Ort, die medizinische Versorgung in Deutschland zukunftsfähig zu machen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Herr Thiel, für Ihren Vortrag, für Ihre klaren Worte und für Ihre berechtigten Forderungen, die Sie uns dargestellt haben. Vielen Dank auch für den Besuch Ihrer Kolleginnen und Kollegen hier bei uns. Das ist ein Zeichen der Solidarität, die wir zurückgeben können. Wir werden uns in diesem Sinne verhalten und die ärztliche Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland mit dem, was Sie gesagt haben, bekannt machen. Es wird auch das Konto noch bekannt gegeben, sodass wir vielleicht doch eine Hilfe aus der gesamten Ärzteschaft beisteuern können.

Nochmals herzlichen Dank.

Der nächste Redner ist Herr Professor Griebenow aus Nordrhein.

© 2006, Bundesärztekammer.