Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Sartorius, Referent:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine große Ehre, hier ein paar
Worte über das Programm gegen Stigma und Diskriminierung zu sagen. Ich benutze
den Begriff des Stigmas für falsche Annahmen über Personengruppen, Individuen
oder Dinge, die durch ein bestimmtes Merkmal gekennzeichnet sind. Solche
Annahmen sind zumeist negativ und äußern sich in Einstellungen und im
Verhalten. Unkenntnis kann zum Stigma beitragen, aber die Vermittlung von
Wissen verstärkt auch häufig negatives Verhalten.
Viele Krankheiten sind stigmatisiert, nicht nur psychische
Krankheiten. Ich nenne hier beispielhaft die Tuberkulose und
Geschlechtskrankheiten. Das Stigma psychischer Krankheiten unterscheidet sich
von dem anderer Erkrankungen aufgrund seiner Ausbreitungstendenz, aufgrund
seiner zeitlichen Konstanz und weil psychische Störungen oft nicht als
Krankheiten wahrgenommen werden, sondern eher als antisoziales Verhalten.
Die Ausbreitung des Stigmas psychischer Erkrankungen ist
leider nicht auf den Kranken beschränkt, sondern auch die Familie oder andere
Betreuungspersonen sind umfasst. Dasselbe gilt für alle an der Therapie
Beteiligten, für die Behandlungsinstitutionen und für die Behandlungsmethoden.
Ich erinnere hier an die Reaktionen auf die Agranulozytose, die nach
Clozapin-Anwendung auftreten kann, und die Agranulozytose nach
Chloramphenicol-Anwendung. Während die Clozapin-Agranulozytose dazu führte,
dass eine ganze Reihe verschiedener Maßnahmen durchgeführt wurden, war das bei
der Chloramphenicol-Agranulozytose nicht der Fall. Die Aufregung bei den Ärzten
und auch der Presse, die meinte, hier habe wieder einmal ein Psychotropum
schlimme Nebenwirkungen, war auch wesentlich von einem Stigma getragen.
Es ist auch spezifisch für das Stigma psychischer
Erkrankungen, dass es Generationen überdauert. Nicht nur der Kranke, sondern
auch seine Kinder, seine Großenkel, jedermann, der mit der Krankheit verbunden
ist, ist ebenfalls stigmatisiert. Das ist auch der Grund dafür, warum die
Familien die Krankheit zu verstecken versuchen und nicht zugeben, dass es in
ihrer Familie eine derartige Krankheit gibt.
Die Pathogenese des Stigmas, die wir entwickelt haben, beginnt
mit einem Merkmal, das sichtbar ist. Es kann sich um ein Verhalten des Kranken
handeln, das ungewöhnlich ist, oder extrapyramidale Effekte, die bei einigen
Antipsychotika auftreten.
Das Merkmal wird mit verschiedenen Inhalten aus den Medien,
aus der Erinnerung, aus Geschichten "geladen". Diese Attribution führt zum
Entstehen der Stigmatisierung. Das Entstehen der Stigmatisierung wiederum führt
zu einer schweren Diskriminierung auf verschiedenen Gebieten. So entsteht eine
Benachteiligung.
Diese Benachteiligung wiederum führt zu einem Verlust des
Selbstwertgefühls. Man spricht hier von einer so genannten Selbststigmatisierung.
Der Kranke leitet seinen sozialen Rückzug ein. Schließlich lässt eine
Zustandsverschlechterung das Merkmal noch deutlicher hervortreten.
Dieser Circulus vitiosus ist von großer Wichtigkeit, denn er
bedeutet für uns, dass eine Unterbrechung des Circulus vitiosus an irgendeinem
Ort wichtig sein könnte. Wenn es nicht möglich ist, die Merkmale zu beseitigen,
ist es vielleicht manchmal möglich, sich zu überlegen, wie die Attribution
vermindert werden kann. Wenn wir das Stigma nicht beseitigen können, könnten
wir vielleicht versuchen, die Diskriminierung, die damit zusammenhängt, zu
beseitigen.
Ich komme zu den Faktoren, die zur Stigmatisierung beitragen.
Da ist zunächst einmal die Krankheit selbst zu nennen. Sehr viele dieser
Kranken wollen oder können nicht arbeiten und werden deswegen als faul, als
hartnäckig usw. bezeichnet. Eine ganze Reihe anderer Symptome der psychischen
Krankheit führen dazu, dass man Angst vor dem Kranken hat oder dass man den
Kranken als asozial bezeichnet.
In früheren Zeiten, als eine große Zahl dieser Kranken in
nicht urbanisierten Ländern lebten, war die Stigmatisierung nicht so stark. Mit
der Urbanisierung, mit der Verkleinerung der Familie und einer größeren Anzahl
von Menschen, die im selben Gebiet leben, hat sich die Stigmatisierung
verstärkt.
Die Komplexität der Arbeitswelt verlangt, dass man viel mehr
als früher tut, um einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu behalten. Deshalb
haben viele der psychisch Kranken keine Möglichkeit, einen Arbeitsplatz zu
finden oder auf ihm zu verbleiben.
Ein wichtiger Grund für die Stigmatisierung ist auch das
Verhalten des medizinischen Personals. In unserem Weltprogramm zeigte sich bei
den kanadischen Kranken, dass es für sie das Schwierigste war, wie sie in der
Allgemeinmedizin und in Krankenhäusern behandelt wurden. Wenn sie mit einer
schweren somatischen Krankheit kamen, wurde oft gesagt: Das ist ein psychisch
Kranker, den wollen wir lieber zu den anderen psychisch Kranken ins Krankenhaus
schicken. Darüber hinaus mussten diese Patienten beispielsweise länger warten,
sie wurden mit Begriffen wie Schizophreniker belegt.
Auch die Medien haben wissentlich zur Stigmatisierung
beigetragen. In vielen Ländern haben es eine große Anzahl von Medien inzwischen
eingesehen, dass sie hier umdenken müssen. Beispielsweise haben in Irland und
auf den Philippinen Journalisten versucht, einen Kodex zu entwickeln, wie sie
über psychisch Kranke berichten wollen. Das ist aber noch immer nicht überall
akzeptiert.
Auch das gestörte Selbstwertgefühl der Patienten und ihrer
Angehörigen trägt zur Stigmatisierung bei. Der Kranke sagt von vornherein: Ich
weiß, dass ich diese Stelle nicht bekomme, weil ich eben eine Schizophrenie
hatte.
Ein weiterer Faktor sind die demografischen Entwicklungen. Die
Verkleinerung der Familie sowie die wachsende Anzahl von derartigen Kranken in
einem bestimmten Gebiet tragen wesentlich zur Stigmatisierung bei. Die bekannte
Toleranzkurve weist aus, dass die Toleranz beispielsweise älteren Menschen gegenüber
hervorragend ist, wenn deren Zahl sehr klein ist. Bei steigender Anzahl
vermindert sich die Toleranz wesentlich. Bei etwa 10 Prozent ist die Toleranz
am geringsten. Steigt die Zahl weiter, vergrößert sich die Toleranz wieder.
Wir befinden uns gegenwärtig in einer Situation, dass eine
große Anzahl von psychisch Kranken in ihre Gemeinde zurückkehren. In dem
Umfang, wie sich ihre Zahl erhöht, steigt die Toleranz gegenüber den Kranken.
Es gibt einige wichtige Folgen der Stigmatisierung im
Gesundheitswesen. Die medikamentöse Behandlung wird immer als zu teuer
angesehen. Wenn ein Medikament zur Behandlung einer Psychose 10 Dollar pro Tag
kostet, erklärt man: Das ist viel zu teuer. Gleichzeitig kostet aber die
Nausea-Bekämpfung bei Krebskranken 180 Dollar pro Tag. Darüber wird aber sehr
viel weniger gesprochen. In Afrika wurde die Versorgung mit Chlorpromazin, die
nur 11 Dollar pro Jahr kostet, als zu teuer angesehen.
Diese Einstellung rührt daher, dass man den psychisch Kranken
als unwert betrachtet; der psychisch Kranke ist nichts wert. Deshalb ist auch
ein sehr billiges Medikament noch viel zu teuer. Wenn Einstein Kopfweh hätte,
könnte man sich nicht vorstellen, dass eine Tablette, die 1 000 Euro
kostet, als zu teuer angesehen würde, weil die Person Einstein als sehr
wertvoll betrachtet wird. Beim psychisch Kranken ist das leider nicht der Fall.
Da die Krankheit versteckt wird, wird ihre Prävalenz sehr oft
unterschätzt. Die Behandlung erfolgt oft im Verborgenen oder auch überhaupt
nicht. Die Patienten nehmen medizinische Dienste nur zögerlich in Anspruch. Auf
einem Kongress in Maastricht berichteten von etwa 600 anwesenden Personen mit
Halluzinationen lediglich 200, dass sie deshalb je einen Arzt besucht haben.
400 hatten es aus Angst vor der Behandlung nicht getan.
Da die Patienten die medizinischen Dienste so wenig in
Anspruch nehmen, wird der Behandlungsbedarf wesentlich unterschätzt. Auch das
ist eine direkte Folge der Stigmatisierung.
In vielen Ländern ist es sogar unmöglich, darüber zu sprechen,
für psychiatrisch-psychotherapeutische Einrichtungen mehr Geld zu bekommen. Es
ist viel einfacher, eine Riesensumme für Investitionen bei der Herzchirurgie zu
erhalten, als Gelder zur Beseitigung der entsetzlichen Situationen zu bekommen,
die in psychiatrischen Krankenhäusern oft bestehen. In vielen Ländern, beispielsweise
in den Vereinigten Staaten, kämpft man schon seit Jahren um die Gleichstellung
der psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlung mit der somatischen
Behandlung. In einigen Ländern ist diese Gleichstellung bereits vollzogen, aber
in vielen Ländern noch nicht.
Die psychisch Kranken werden, wenn sie eine somatische
Krankheit haben, schlecht behandelt. In Zentralasien ist es so: Wenn Sie eine
psychische Krankheit haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in absehbarer
Zeit nach der Erstdiagnose tot sind, 50 Prozent. Das heißt, einer von zwei
Kranken stirbt, und zwar nicht an der psychischen Krankheit, sondern eine ganze
Reihe von physischen Krankheiten, die existieren, werden gar nicht behandelt,
da es sich ja um einen psychisch Kranken handelt und deswegen die Behandlung
einer komorbiden somatischen Krankheit unwichtig erscheint.
Ich komme zu den Maßnahmen gegen eine Stigmatisierung. Hier
nenne ich die Verhaltensänderung des medizinischen Personals. Es geht
beispielsweise um die Wortwahl und um die Art, wie wir dem Kranken
gegenübertreten. Genauso wichtig ist die Differenzierung psychischer
Erkrankungen. Malaria und Schnupfen werden ja auch nicht in gleicher Weise
behandelt. Eine Differenzierung psychischer Erkrankungen beispielsweise bei der
Ausbildung oder im Rahmen der Gesetzgebung ist erforderlich.
Von großer Wichtigkeit ist auch die Frage, wie wir die Kranken
und die Angehörigen besser in die Behandlungsprozesse involvieren können. Dies
jedoch verlangt eine Einstellungs- und Verhaltensänderung sowie die
entsprechende Informationsvermittlung. Das ist aber nur selten der Fall. Oft
vergisst man bei der Behandlung, dass man nur einen kleinen Teil des Lebens mit
dem Patienten zusammen ist und dass dieser den größten Teil seines Lebens mit
seiner Familie und der Gemeinde zusammen ist.
Es wären auch eine ganze Reihe von gesetzlichen Maßnahmen
möglich. Wir haben eine Reihe derartiger Maßnahmen definiert. So wäre es
beispielsweise sehr wichtig, dass diese in den einzelnen Ländern durchgeführt werden.
In vielen Ländern gibt es ein "Stigma-Alarmsystem", das
beispielsweise in Australien sehr gut funktioniert. Man müsste sich überlegen,
wie ein solches System weiter verbessert werden könnte.
Die WPA hat 1996 ein Antistigmaprogramm entwickelt. Rund 20
Länder wirken bei diesem Programm mit. Es ist sehr interessant, dass es
unabhängig davon, ob die Länder reich oder arm, entwickelt oder weniger
entwickelt waren, möglich war, etwas gegen das Stigma zu tun. In vielen
Ländern, die dabei mitgemacht haben, wird inzwischen der Kampf gegen das Stigma
und gegen die Diskriminierung nicht mehr als eine Kampagne angesehen, sondern
als ein Teil des normalen Gesundheitswesens finanziert und durchgeführt.
Wir haben im Rahmen unseres Programms festgestellt, dass es falsch
war, zunächst von theoretischen Standpunkten aus zu beginnen. Wir haben
deswegen versucht, die Kranken und die Familien einzubeziehen und mit ihnen
darüber zu sprechen, in welcher Art man am besten helfen könnte, die
Diskriminierung bzw. die Benachteiligung durch das Stigma zu beseitigen.
Wir haben ferner festgestellt, dass eine kurzfristige Kampagne
von zwei bis drei Jahren zu nichts führt. Die einzige Folge ist, dass sich nach
zwei Jahren sowohl die Kranken als auch die Familien schlechter fühlen als
zuvor.
Wir haben weiter festgestellt, dass es unmöglich ist, allein
vorzugehen, nur von der Psychiatrie aus. Die Einbeziehung der gesamten
Ärzteschaft ist enorm wichtig. Man muss auch andere Gebiete der Gesellschaft
einbeziehen, wenn ein Programm nützlich sein soll.
Meine Damen und Herren, ich bin, wie gesagt, sehr erfreut,
dass der Ärztetag über die Problematik des Stigmas diskutiert. Wir müssen heute
die Verminderung und die Beseitigung von Stigma als möglich ansehen. Wir können
auch sagen, dass die Reduktion von Stigma nicht nur die Lebensqualität der
Betroffenen und ihrer Angehörigen verbessert, sondern auch die
Berufszufriedenheit des medizinischen Personals. Die Bekämpfung von Stigma ist
ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer humanen, toleranten und
zivilisierten Gesellschaft. Der Grad der Zivilisation wird daran gemessen, was
eine Gesellschaft für diejenigen tut, die am wenigsten für sich selbst tun
können.
Der Erfolg in der Bekämpfung von Stigma und Diskriminierung
steht und fällt mit unserer Bereitschaft, diesen Kampf zur eigenen Sache zu
machen und darin nicht nachzulassen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Professor Sartorius, für Ihre Ausführungen, die uns in dieses Thema
eingeführt und uns klar gemacht haben, um welche Dimensionen es dabei geht.
Wir werden jetzt zwei kurze Korreferate hören, und zwar zum
einen von Herrn Professor Dr. Gaebel, gewählter Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, und von Herrn
Professor Dr. Dr. Remschmidt, Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. Er ist
stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesärztekammer.
Das Wort hat zunächst Herr Professor Gaebel aus Düsseldorf,
der uns die Sicht der Psychiatrie in Deutschland darstellen wird. Bitte schön,
Herr Professor Gaebel.
|