TOP II: Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen: Gegen Stigmatisierung - Für Stärkung der ärztlichen Psychotherapie

2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Schulte-MarkwortProf. Dr. Schulte-Markwort, als geladener Gast: Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Bühren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kleinen kommen immer zum Schluss. Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mir noch so kurz vor der Mittagspause Ihr Ohr und auch ein bisschen Ihr Herz öffnen. Ich möchte Ihnen aus kinder- und jugendpsychiatrischer und kinder- und jugendpsychotherapeutischer ärztlicher Sicht darlegen, warum die Situation im Bereich der Kinder und Jugendlichen dramatischer ist als im Bereich der Erwachsenen. Wir wären froh, wenn wir im Bereich der Kinder und Jugendlichen schon so weit wären wie die Erwachsenenpsychiatrie, die Erwachsenenpsychotherapie und die Erwachsenenpsychosomatik.

Wenn man in der Schule untersucht, wie viele Kinder und Jugendliche unter Symptomen und Beschwerden leiden, kommt man auf eine Zahl von 24 Prozent. Heute Morgen wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Lebensmittelpunkt unserer Patienten in der Regel die Schule ist.

Natürlich sind diese 24 Prozent nicht alle behandlungsbedürftig, aber sie sind abklärungsbedürftig. Das sind die Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung, die eine Arbeitsgruppe aus meiner Abteilung im Jahre 2001 an 2 000 Kindern im Alter zwischen vier und 18 Jahren in Deutschland durchgeführt hat. Eine Menge der Angaben dieser 24 Prozent wie Leistungsprobleme, Konzentrationsprobleme, aber auch Schulangst oder Ausgrenzungsprobleme sind interpretationsbedürftig. Es geht hier beileibe nicht um Befindlichkeitsstörungen, wie uns gegenüber manchmal der Verdacht geäußert wird.

Wenn man die Ergebnisse von diesen knapp 2 000 Kindern repräsentativ für Deutschland hochrechnet, bedeutet dies, dass 10 Prozent psychisch auffällig sind, fast 14 Prozent psychosomatische Beschwerden angeben und dass es einen Überschneidungsbereich zwischen diesen beiden Gruppen von 8 Prozent gibt. Das Risiko - die odds ratio -, dass ein Kind, wenn es sich in einem der hier gezeigten großen Kreise befindet, sich auch in dem mittleren Kreis befindet, ist um das 4,3fache gesteigert. Das heißt, wir haben es mit einer großen Anzahl von Kindern und Jugendlichen zu tun, die wir alle versorgen müssen.

Im Unterschied zu dieser dramatischen Prävalenz, die in den letzten 20 Jahren nicht zugenommen hat, aber weiter auf dramatisch hohem Niveau bleibt, werden nur 4,6 Prozent überhaupt von einem Arzt oder Psychologen behandelt, die meisten von einem Kinderpsychologen, gefolgt vom Kinderarzt, dem Allgemeinarzt und dann erst dem Kinder- und Jugendpsychiater.

Das bedeutet, dass den 647 niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern 5 Millionen Menschen unter 18 Jahren gegenüberstehen, die diagnostiziert und behandelt werden müssten. Die 2 500 Psychologischen Psychotherapeuten im Kinderbereich und die 1 500 Kinderanalytiker, die es gibt, die ohne Frage bei entsprechender Indikation gute psychotherapeutische Arbeit leisten, können dies häufig nicht, weil die psychiatrische und die somatische Differentialdiagnose, die oft eine Voraussetzung für eine Psychotherapie ist, von den Kinder- und Jugendpsychiatern gestellt werden muss, die mit den 700 000 Behandlungen, die sie jedes Jahr ableisten, ein Vielfaches dessen leisten, was die beiden anderen Berufsgruppen leisten. Aber das reicht im Vergleich zu den 5 Millionen überhaupt nicht.

Das heißt, die kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Vollversorgung in Deutschland ist nicht gewährleistet. Das ist dramatisch. Jeder Hausarzt, jeder Kinderarzt von Ihnen, der ein Kind unterbringen möchte, weiß, wie schwierig das häufig ist. Die ärztliche Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter ist unterrepräsentiert und auch in Gefahr. Dagegen haben aber - das haben wir heute bereits gehört - 50 Prozent aller psychischen Störungen ihren Ursprung in der Kindheit. Wenn wir schon früh suffizient diagnostizieren und behandeln, verhindern wir diese Chronifizierung, sodass wir auch präventive Arbeit im eigentlichen Sinne leisten können.

Ich möchte Sie herzlich bitten, den Antrag des Vorstands zu unterstützen.

Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mir noch zugehört haben.

(Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Herr Professor Schulte-Markwort, wir haben Ihnen ebenso wie auch den anderen Vortragenden Ohr und Herz geöffnet.

Nach diesen vier Referaten, die uns alle auch am Herzen berührt haben, möchten wir in die Mittagspause eintreten. Sie sind hoffentlich damit einverstanden, dass wir anschließend weiterdiskutieren. Es liegen 25 Anträge vor. Ich bitte Sie, pünktlich um 14 Uhr wieder hier zu sein, damit wir in die Diskussion eintreten können.

Ich möchte Sie noch auf etwas Organisatorisches hinweisen. Es werden oft längere Anträge gestellt. Wir möchten Sie bitten, das Delegiertenzentrum zu nutzen; dort stehen PCs und Drucker bereit. Sie müssen also längere Anträge nicht handschriftlich gefertigt einreichen, sondern bereits ausgedruckte Texte. Das würde die Arbeit sehr erleichtern. Ich bitte Sie, dies zu berücksichtigen. Man kann die Texte sogar elektronisch auf den Weg bringen. Im Delegiertenzentrum ist offensichtlich alles vom Feinsten. Ich bitte Sie, dieses zu nutzen.

Ich danke noch einmal allen Vortragenden und unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr.


2. Tag: Mittwoch, 24. Mai 2006
Nachmittagssitzung

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen unsere Beratungen fort. Die Gäste von heute Morgen sind nicht mehr alle anwesend. Diejenigen, die anwesend sind, haben darum gebeten, an der Diskussion teilnehmen zu dürfen. Das sei ihnen erlaubt.

Bevor wir mit der Diskussion beginnen, möchte ich Ihnen noch drei Dinge mitteilen. Herr Dr. Peter Hoppe-Seyler aus Baden-Württemberg hat heute Geburtstag. Wir gratulieren ihm alle ganz herzlich und wünschen, dass ihm dieser Tag mit uns in angenehmer Erinnerung bleiben wird.

(Beifall)

Falls noch ein Geburtstagskind im Raum sein sollte, sagen Sie bitte Bescheid. Selbstverständlich wird jeder beglückwünscht.

Beglückwünschen möchten wir auch Herrn Sanitätsrat Dr. Engelhard, der heute zum 25. Mal an einem Deutschen Ärztetag teilnimmt. Wir möchten das gebührend erwähnen. Schön, dass Sie da sind.

(Beifall)

Uns allen ist es ein Bedürfnis, folgendes Lob auszusprechen: Das "Deutsche Ärzteblatt" von dieser Woche liegt Ihnen bereits druckfrisch vor. Es enthält Berichte und Fotos von gestern. Es ist eine enorme Leistung, dass Redaktion und Druckerei es geschafft haben, dieses Heft bis heute fertig zu stellen. Ich bitte Sie, das gebührend zu würdigen. Ein herzliches Dankeschön an diejenigen, die das vollbracht haben. Ich glaube, das ist ein Applaus wert.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, wir kehren jetzt zur Behandlung des Tagesordnungspunkts II zurück. Wir haben die Referate gehört und kommen nun zu den Wortmeldungen. Ich darf als ersten Redner Herrn Dr. Menzel aus Berlin ans Mikrofon bitten.

© 2006, Bundesärztekammer.