Elke Ferner, stellvertretende Vorsitzende der
SPD-Bundestagsfraktion: Vielen Dank, Herr Professor Hoppe. - Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Ich darf mich zunächst einmal für die Einladung
bedanken. Ich weiß, dass wir an einigen Punkten - manche meinen: an vielen
Punkten - nicht unbedingt einer Auffassung sind. Ich bin dennoch gern gekommen,
um Ihnen noch einmal aus unserer Sicht zu erklären, warum wir eine Reform für
notwendig halten.
Ich glaube, dass wir nicht den Fehler machen sollten, in der
Diskussion über einzelne Regelungen der Gesundheitsreform ein System infrage zu
stellen, das nach meiner Auffassung das solidarischste aller
Sozialversicherungssysteme ist,
(Zurufe)
nämlich dass die jungen
Menschen für die älteren Menschen einstehen, dass die Gesunden für die Kranken
einstehen und dass die mit den stärkeren Schultern für die mit den schwächeren
Schultern einstehen. Ich hoffe, dass wir dieses System noch lange Zeit behalten
können. Ich bin nämlich der festen Überzeugung, dass es nichts Besseres gibt,
als dass Menschen für Menschen einstehen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir wissen, dass
es Handlungsbedarf gibt. Welchen Handlungsbedarf es gibt, wird von vielen
Gruppen im System unterschiedlich gesehen. Die Politik hat die Aufgabe, einen
Interessenausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen, die es gibt,
herbeizuführen: zwischen den Versicherten, den Krankenversicherungen, den
Leistungserbringerinnen und Leistungserbringern im Gesundheitswesen einerseits
und denen, die mit zu dem Beitragsaufkommen beitragen, nämlich den Arbeitgebern
andererseits.
Man wird es nicht schaffen können, dass alle Gruppen zu 100
Prozent zufrieden sein werden, genauso - das sage ich ebenso wie mein Kollege
Zöller - wie wir uns innerhalb der Koalition, weil wir von sehr
unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen und sehr unterschiedlichen
Zielvorstellungen ausgegangen sind, in einem Kompromiss jeweils nur zur Hälfte
wiederfinden und nicht zu 50 Prozent.
(Lachen)
- Zu 100 Prozent. Es freut mich ja, dass Sie sich über einen
Versprecher so freuen können. Ich hoffe, dass Ihnen solche Versprecher erspart
bleiben.
Wir möchten, dass auch in Zukunft alle am medizinischen
Fortschritt teilhaben können, dass alle die medizinisch notwendigen Leistungen
erhalten. Ein ganz wichtiges Ziel der Reform ist, dass alle Menschen
krankenversichert sind, einen Krankenversicherungsschutz haben. Sie wissen
wahrscheinlich besser als wir, dass es in unserem Lande eine zunehmende Zahl
von Menschen ohne Krankenversicherung gibt. Ich werde im Zusammenhang mit dem
Basistarif darauf noch einmal zu sprechen kommen.
Wir wollen mehr Wahlmöglichkeiten für die Versicherten und
auch mehr Wettbewerb zwischen den Kassen, und zwar nicht den Wettbewerb um die
Versicherten, die am wenigsten krank sind, die also am gesündesten sind, oder
um diejenigen Versicherten mit den meisten Einkommen, sondern wir wollen einen
Wettbewerb zwischen den Kassen um die beste medizinische Versorgung. Deshalb
wollen wir einen deutlich zielgenaueren morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich,
weil er die Voraussetzung dafür ist, dass wir beim Ärztehonorar das
Morbiditätsrisiko von den Ärzten auf die Kassen verlagern. Das geht nicht, wenn
die Kassen mit mehr Kranken und Mitgliedern mit geringerem Einkommen keinen
gerechten Ausgleich bekommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist die erste Reform
ohne Leistungskürzungen.
(Zurufe)
Wir haben zusätzliche Leistungen in den Leistungskatalog
aufgenommen, beispielsweise die Eltern-Kind-Kuren. Das waren bisher
Ermessensleistungen. Ich denke, das sollten Sie wissen.
Ich nenne die von der Ständigen Impfkommission empfohlenen
Impfungen.
Dass wir uns insbesondere um die Medizin für ältere Menschen
kümmern, zeigt sich daran, Herr Dr. Hoppe, dass wir die geriatrische Reha wie
auch die Palliativversorgung mit in den Leistungskatalog aufgenommen haben,
weil wir natürlich sehen, dass hier großer Handlungsbedarf besteht.
(Zurufe)
- Wir können ja gerne diskutieren. Ich hatte auch die Geduld,
Ihnen zuzuhören. Ich denke, wir sollten gegenseitig die entsprechende Geduld
aufbringen.
Ein wichtiger Punkt ist die Frage: Wie können wir das
Gesundheitssystem auf Dauer nachhaltig finanzieren? Ich muss ganz offen sagen:
Da hätten wir uns als SPD etwas anderes vorstellen können als das, was
vereinbart worden ist. Wir hatten den Vorschlag gemacht, 14 bis
24 Milliarden Euro in mehreren Schritten über zusätzliche Steuern in das
System zu bringen. Dass das nicht in einem einzigen Schritt möglich ist, dürfte
jedem einleuchten. Das ist mit dem Koalitionspartner leider nicht möglich
gewesen. Einerseits wollten wir damit sicherstellen, dass die
Kostensteigerungen, die aus dem medizinischen Fortschritt erwachsen,
aufgefangen werden können und nicht einseitig zulasten der Versicherten gehen.
Andererseits wollten wir auch Potenziale haben, um Beitragssätze senken zu
können. Das steht noch aus. Ich sage ganz deutlich auch für meine Fraktion:
Daran werden wir festhalten.
Ich möchte allerdings auch Folgendes sagen: Ich kann Ihren
Wunsch verstehen, nachdem die Euro-Gebührenordnung im Gesetzentwurf steht, dass
- ich überspitze es jetzt einmal - der Himmel nach oben offen sein soll. Wer
Ihnen das verspricht, wird dieses Versprechen nicht halten können. Zur
Redlichkeit gehört auch, dass man, wenn es, wie ich dem Begleittext zum
außerordentlichen Ärztetag entnehmen konnte, um eine Größenordnung von 10
Milliarden Euro geht, sagt, woher das Geld kommen soll. 10 Milliarden Euro
entsprechen einem Beitragssatzpunkt in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Das gehört dann auch mit dazu.
(Zuruf)
- Zur Tabaksteuer möchte ich auch noch etwas sagen. Wir
Sozialpolitiker sind - das hat Herr Kollege Zöller eben gesagt - nicht in
Jubelschreie verfallen, als im Prinzip in den letzten Stunden der Verhandlung
des Koalitionsvertrages der Tabaksteuerzuschuss schrittweise auf null
zurückgeführt werden sollte. Die Mehreinnahmen aus dem Tabaksteueraufkommen
betrugen - das sind die Ist-Zahlen 2004 - 1 Milliarde Euro. Ich war in den
letzten drei Jahren Mitglied des Haushaltsausschusses. Die Kolleginnen und
Kollegen sowohl von der Union als auch von der FDP und auch von den Grünen
waren im Haushaltsausschuss immer schnell dabei, diesen Zuschuss infrage zu
stellen - auch einige aus meiner Fraktion; das will ich gar nicht verhehlen.
Ich halte es für falsch, dass dieser Zuschuss gestrichen
worden ist. Allerdings haben wir alle auch eine Verantwortung für den
Gesamthaushalt. Ich hoffe, dass es uns vielleicht doch gelingen kann, wenn die
Steuerschätzung Anfang November entsprechend ausfällt und es dann doch
tragfähig ist, einen größeren Anteil an Steuermitteln für die kommenden Jahre
zu mobilisieren, als bisher vereinbart worden ist.
Ich möchte Ihnen ausdrücklich anbieten, neben den
Ausschussanhörungen, die ja auch noch stattfinden werden, einen konstruktiven
Dialog zu führen. Ich musste leider kurzfristig einen Termin mit Herrn Köhler
absagen. Das war noch in der heißen Verhandlungsphase. Herr Köhler, ich
verspreche Ihnen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wir werden das nachholen.
Aber ich bitte auch darum, dass man mit redlichen Argumenten
arbeitet. Das, was zum Teil eben von Herrn Dr. Hoppe gesagt worden ist -
Staatsmedizin, die Regierung entscheidet alles -, das habe ich in dem
Gesetzentwurf bisher nicht gefunden.
(Widerspruch)
Es bleibt bei der Selbstverwaltung. Der Gemeinsame
Bundesausschuss wird nach wie vor darüber entscheiden, was medizinisch auf dem
Stand dessen ist, was notwendig ist, nicht die Politik. Wir können das nicht,
(Beifall)
und wir wollen das auch nicht. Das sage ich ganz ausdrücklich.
Es wird weiterhin die Selbstverwaltung geben.
Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen - es ist kein
Spitzenverband des Bundesgesundheitsministeriums, sondern der Krankenkassen -
wird in Zukunft weniger Aufgaben haben, die gemeinsam und einheitlich
wahrgenommen werden müssen. Der Rest der Aufgaben, die bisher von den
Spitzenverbänden der Krankenkassen wahrgenommen worden sind, wird den Kassen
direkt übertragen. Es gibt also mehr Aufgaben, die direkt bei den Kassen
angesiedelt sein werden, als das, was vorher bei den sieben Spitzenverbänden
angesiedelt gewesen ist.
Einen Punkt möchte ich noch ansprechen, nämlich die Frage des
PKV-Basistarifs. Ich habe heute Morgen in den Tickermeldungen eine Äußerung von
Herrn Dr. Köhler gelesen; vielleicht geht er darauf noch ein. Er sagte, dass
durch die Neuregelung bei der privaten Krankenversicherung 2,1 Milliarden Euro
an Privathonoraren verloren gingen. Ich habe heute Morgen noch einmal
nachgeschaut: Im Jahr 2004 haben die privaten Krankenversicherungen
16,5 Milliarden Euro für Versicherungsleistungen ausgegeben. Wenn ich
richtig gerechnet habe, machen die von Ihnen genannten 2,1 Milliarden Euro
12,1 Prozent aus. Das würde bedeuten, dass über 1 Million Versicherte in
den Basistarif der PKV wechseln müssten. Das halte ich für etwas gewagt. Ich prophezeie
Ihnen, dass dieser Basistarif nicht so sehr attraktiv sein wird.
(Zurufe)
- Ich wäre etwas vorsichtig, die gesetzliche
Krankenversicherung als unattraktiv zu bezeichnen. Noch immer sind über 70
Millionen Menschen bei den gesetzlichen Krankenversicherungen versichert.
(Zurufe)
Wahrscheinlich könnten die wenigsten Praxen ausschließlich von
privatärztlichen Honoraren leben.
Ich glaube, man sollte sich wirklich mit fairen Argumenten
begegnen, auch gern mit harten Bandagen - überhaupt kein Problem. Ich habe nur
eine Bitte: Das sollten wir dort austragen, wohin es gehört, nämlich zwischen
der Politik auf der einen Seite und den Ärztinnen und Ärzten sowie deren
Verbänden auf der anderen Seite, aber nicht über die Patienten und
Patientinnen, über die Wartezimmer.
(Zurufe)
- Sie können das ja gern machen. Sie können aber auch
versichert sein, dass wir als Wahlkreisabgeordnete Schreiben von Patienten
bekommen, in denen sie sich beklagen. Ich unterstelle jetzt nicht, dass die
Ärztinnen und Ärzte, die hier sind, oder die Ärztinnen und Ärzte in ihrer
Mehrheit sich so verhalten wie in den Fällen, die auch auf meinem Schreibtisch
liegen.
Ich glaube, man sollte nicht diejenigen in Mithaftung nehmen,
die für die Entscheidungen, die in Berlin getroffen werden, und die für die
Argumente, die wir miteinander auszutauschen haben, wirklich nichts können. Ich
hoffe auf einen konstruktiven, gern auch kritischen Dialog. Ich biete ihn auch
ausdrücklich an und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident
der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages: Vielen Dank, Frau
Abgeordnete Ferner, für Ihre Ausführungen. Was die Angelegenheit mit der
Staatsmedizin angeht, bin ich gern bereit, vielleicht in einer kleineren Runde
genau zu analysieren und zu erklären, warum wir zu diesem Ausdruck gekommen
sind, denn wir haben ihn ja nicht aus der Luft gegriffen. Wir haben starke
Signale dafür, dass sich das Ministerium demnächst vorbehält, wichtige
Entscheidungen selbst zu fällen, und nur die Operationalisierung der früheren
Selbstverwaltung überlassen will. Das ist ja eine gestaltende Selbstverwaltung
gewesen, keine befehlsausführende Selbstverwaltung. Die verteidigen wir. Wir
möchten sie wiederhaben, wie man sagen kann, weil sie zum großen Teil ja schon
verloren gegangen ist.
(Beifall - Zuruf: Frau Ferner merkt das nicht!)
Jetzt hat das Wort Herr Dr. Guido Westerwelle, der Vorsitzende
der FDP-Bundestagsfraktion. Bitte schön, Herr Dr. Westerwelle.
(Beifall)
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