Statements

Dienstag, 24. Oktober 2006, Vormittagssitzung

Dr. Martina Bunge, Mitglied der Bundestagsfraktion DIE LINKE. und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages: Sehr geehrter Herr Präsident Professor Hoppe! Meine sehr verehrten Damen und Herren Doctores! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken, der ich für die Fraktion DIE LINKE. gefolgt bin. Natürlich treibt mich auch als Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit das Geschehen in den letzten Monaten, Wochen und Tagen um. Ich lebe erst seit 16 Jahren in der Bundesrepublik, habe aber schon viele Gesundheitsreformen erlebt. Ich denke, die Zeit ist reif für eine wirkliche Reform. Aber das, was derzeit läuft, habe ich mir nicht träumen lassen. Die Versprechen waren groß, die Erwartungen hoch. Umso tiefer sind die Enttäuschungen und, wie ich sagen möchte, an vielen Stellen das Entsetzen darüber, was da vorgelegt wurde und wie die Reform läuft.

Es ist bezeichnend, dass keiner so recht diese Reform will, obwohl nach meinem Gespür sehr viele reformbereit und reformwillig sind.

(Beifall)

Die Herausforderungen, viel beschworen, die aus der Alterung der Gesellschaft, aus dem medizinischen Fortschritt resultieren, sind groß. Ich denke, das, was uns hier an Lösungen vorgelegt wird, ist kleinkariert und vor allen Dingen unsozial, auch wenn es gestern noch ein Pflaster bekommen hat.

(Beifall)

Geschaffen wird keine nachhaltige Finanzierung. Was das Herangehen betrifft, so denke ich, hier wird nicht eine große, sondern eine satte Koalition dokumentiert. Im Ergebnis sind die Patientinnen und Patienten total verunsichert ob der täglichen Hiobsbotschaften. Die Akteure im Gesundheitssystem und um das Gesundheitssystem herum sind erbost, weil sie außen vor gelassen werden.

Ich kann Ihnen berichten, auch viele der Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind genervt ob dieses Prozesses, der in kleinen Zirkeln läuft. Bis heute hat der Ausschuss für Gesundheit noch keinen Buchstaben, kein Komma und keinen Punkt zur eigentlichen Reform.

(Zuruf: Hört! Hört!)

Ich denke, nach den zehn Monaten, wo in kleinen Zirkeln diskutiert wird, soll nun ein Hauruckverfahren folgen.

Eine Kostprobe spielte sich in diesen Tagen ab. Sie kennen sicher den Entwurf des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes. Im Huckepackverfahren kamen letzten Dienstag Änderungsanträge zur Verschuldungssituation und zum Abbau der Schulden, also zur Entschuldung der gesetzlichen Krankenversicherung, hinzu. Am Freitag dieser Woche soll das Ganze verabschiedet werden. Dazwischen liegen sage und schreibe neun Tage. Wenn ich als Ausschussvorsitzende gemeinsam mit den Oppositionsfraktionen nicht die Notbremse gezogen hätte, hätten wir dazu nicht einmal am gestrigen Tag eine vernünftige Anhörung gehabt.

Sie werden vielleicht fragen, was Sie als Ärztinnen und Ärzte die Kassenentschuldung angeht. Es ist gestern deutlich geworden, dass diese Entschuldungsregelungen mit verfassungswidrigen Wettbewerbsverzerrungen einhergehen. 15 Prozent Beitrag sind noch Peanuts; es wird in den Entschuldungssituationen für Einzelne bis zu 20 Prozent laufen. Wenn es die Kassenart sattelt, sind es im Durchschnitt 17 Prozent. Das ist kein Wettbewerb mehr, gekoppelt mit der Insolvenzfähigkeit von Kassen - ein Wort, das wir in diesem Zusammenhang nicht kannten. Wenn es dazu kommt, wird es ein Ersetzen geben. Das Schlimmere daran ist: Sie als Leistungserbringer sind die Gläubiger in zweiter Reihe. Es ist nicht geregelt, was mit Ihren Ansprüchen wird. Ich denke, Sie sind die Leidtragenden, wenn das am Freitag in dieser Form verabschiedet wird.

(Beifall)

Meines Erachtens wären diese Schreckensszenarien nicht nötig, wenn man endlich mit einer Legende aufräumte, nämlich mit der Legende: Wir haben eine Kostenexplosion. Wir haben keine Kostenexplosion, wir haben eine Einnahmeerosion.

(Beifall)

Das legte Kollege Zöller schon dar. Bezieht man nämlich die Ausgaben im Gesundheitssystem auf das Bruttoinlandsprodukt - ich denke, das ist die richtige Leistungsbasis für einen Vergleich -, dann haben wir seit Jahren, ja seit zweieinhalb Jahrzehnten ein Verharren bei etwa 10 Prozent. Wo ist da die Explosion, frage ich.

(Beifall)

Diese Summe steht zur Verfügung, obwohl die Alterung der Gesellschaft nicht irgendwann beginnt und der medizinische Fortschritt nicht irgendwann kommt. Wir sind mittendrin. Das ist geschultert worden mit Rationierungen und Zuzahlungen. Beide Seiten haben das Ihrige dazu verordnet getan.

Ich denke, von dieser Prämisse müssen wir ausgehen. Das ist, Frau Ferner, eine andere Basis für den Interessenausgleich. Wenn man startet, wie es jetzt mit dem Fonds erfolgen soll, wenn man alles Mögliche herausnimmt, startet man mit einer noch niedrigeren Basis als jetzt. Dann Interessen auszugleichen, ist fast die Quadratur des Kreises.

Wir müssen endlich wegkommen von einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik, hin zu einer aufgabenorientierten Ausgabenpolitik.

(Beifall)

Ohne Rationierungsdruck, ohne Einspardruck, ohne weitere Regulierungen und vor allen Dingen mit Vertrauen halte ich eine offene Debatte darüber für möglich, dass wir im deutschen Gesundheitssystem nicht nur zu wenig, sondern an vielen Stellen auch zu viel oder auch falsch behandeln. Davor verschließe ich meine Augen nicht. Diese Debatte muss unter anderen Rahmenbedingungen geführt werden, als es jetzt geschieht.

(Beifall)

Es gibt Alternativen für eine stabile und gerechte Finanzgrundlage des Gesundheitssystems. Solidarität und Parität, Umlageverfahren, Sachleistungsprinzip und Kontrahierungszwang haben sich bewährt und finden auch bei der Bevölkerung breite Zustimmung. Ich denke, sie müssen verteidigt werden, sie müssen aber auch weiterentwickelt werden.

Die Gesundheit geht nicht nur alle an, sondern breite Zustimmung findet auch eine Versicherung von allen für alle, das heißt eine Verbreiterung der Versichertenbasis. Alle zahlen ohne Einschränkungen ein und alle Einkünfte werden versicherungspflichtig. In meiner Fraktion wird zudem geprüft, ob man nicht noch die Beiträge von den Arbeitskosten abkoppeln könnte, indem man diese an die Wertschöpfung bindet. Das ist meines Erachtens eine Umbasierung auf die wirkliche Leistungskraft der Unternehmen.

Herr Westerwelle, das ist nicht identisch mit Staatsmedizin, wenn ich das Geld in das System hole. Für das ist wichtig, was die grundlegenden Elemente sind. Ich bin im Gegenteil für mehr Selbstorganisation von unten mit Vertrauen. Das hat meines Erachtens nichts mit Staatsmedizin zu tun.

Zusätzliche Einnahmen stünden also für die Stärkung der Finanzbasis der Krankenkassen, für Leistungsverbesserungen und für Leistungsausweitungen zur Verfügung.

Das Gesundheitssystem ist einer der wenigen Bereiche in der sich verändernden Arbeitswelt - das, was geschieht, kann ja keiner übersehen -, die sich rasant entwickeln und Arbeitsplätze schaffen - fast ein Zauberwort in diesen Zeiten. Ich denke, mit der veränderten Finanzbasis wäre es möglich, auf den unerträglichen Abschlag von 1 Prozent für die Krankenhäuser zu verzichten und dort endlich vernünftige Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen für Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger zu schaffen.

(Beifall)

Mit einer veränderten Finanzierungsbasis wäre es möglich, die Praxen bis zum Quartalsende honoriert zu öffnen und den Notdienst vernünftig zu bezahlen. Mit einer veränderten Finanzierungsbasis wäre es auch möglich, die Arzthonorare im Osten generell an diejenigen im Westen anzugleichen.

(Beifall)

Ich denke, hier haben wir eine der wesentlichen Ursachen für den drohenden Ärztemangel, für die drohende Unterversorgung in den neuen Bundesländern wie natürlich auch in einigen Flächengebieten der Altländer. Dies liegt mir besonders am Herzen als jemandem, der aus einem Bundesland kommt, wo wir sehr schwer nicht nur mit dem Ärztemangel zu kämpfen haben, sondern wo es auch an die Substanz geht, wo es ein Versorgungsproblem für die Patientinnen und Patienten gibt. Damit muss man sehr souverän umgehen.

Deshalb fordere ich ebenso wie vor vier Wochen im Bundestag auch an dieser Stelle die Bundesregierung auf: Packen Sie Ihre missglückte Reform ein!

(Beifall)

Sichern Sie für 2007 mit einem Vorschaltgesetz den Status quo, indem man die Tabaksteuer in der GKV belässt, indem man auf die Absenkung der Beiträge für die Arbeitslosen verzichtet und indem man endlich auf medizinische Leistungen und Medizinprodukte die ermäßigte Mehrwertsteuer von 7 Prozent erhebt.

(Beifall)

Dann können wir in einen gesellschaftlichen Diskurs um einen gesellschaftlichen Konsens für eine wirkliche Zukunft des Gesundheitssystems, für eine umfassende Betreuung der Bevölkerung eintreten.

Auch wenn Sie und ich, auch wenn Sie und meine Fraktion nicht in allen Fragen übereinstimmen: Als Oppositionspolitikerin teile ich den Anlass Ihrer heutigen Veranstaltung, denn ohne öffentlichen Druck bewegt sich nichts.

(Beifall)

Deshalb danke ich für diese Begegnung. Ich denke, sie hilft auch meiner Arbeit, unserer Arbeit als Opposition, speziell meiner Arbeit als Ausschussvorsitzende im Bundestag.

Dennoch muss ich leider gleich gehen; das kündige ich hier an. Das ist keine Geringschätzung dieser Veranstaltung. Am Dienstagnachmittag tagen die Obleute zur Vorbereitung der Sitzungswoche. Wenn wir schon nicht verhindern können, dass die Bundesregierung morgen diesen Gesetzentwurf vielleicht auf den Weg schickt, sodass er uns Freitag im Bundestag erreicht, dann möchte ich wenigstens die Arbeit im Ausschuss so vorbereiten, dass alle ihren gebührenden Platz für eine Beteiligung finden, auch wenn ich Realistin genug bin, um zu erkennen, dass die Veränderungschancen nur noch sehr, sehr gering sind. Es soll aber wenigstens eine vernünftige Facharbeit in geordneten Bahnen stattfinden. Dazu braucht man Zeit. Das möchte ich heute Mittag organisieren, damit wir weiter ins Gespräch kommen.

Ich denke, meine Aufgabe besteht auch darin, den Abgeordneten aller Fraktionen eine fachliche Diskussion zu ermöglichen, sodass, wenn sie wider besseres Wissen für die Vorlagen stimmen, ihr Gewissen schwer belastet ist.

(Lebhafter Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages: Vielen Dank, Frau Abgeordnete und Kollegin Bunge, für Ihren Beitrag. Wir wünschen Ihnen alles Gute bei der Verhandlungsführung im Gesundheitsausschuss. Ich denke, wir werden uns dort wiedersehen, wenn die Anhörungen stattfinden.

Nun freuen wir uns auf Frau Renate Künast, die Vorsitzende der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die uns jetzt den Standpunkt ihrer Fraktion darlegen wird. Bitte sehr, Frau Künast.

© Bundesärztekammer 2006