Statements

Dienstag, 24. Oktober 2006, Vormittagssitzung

Renate Künast, Vorsitzende der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Herr Hoppe! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal muss ich sagen: Es ist schade, dass Herr Zöller von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schon gegangen ist. Ich habe die Vermutung, er unternimmt gerade den Versuch, am Gesamtkunstwerk Gesundheitsreform noch ein paar handwerkliche Veränderungen vorzunehmen. Ich kann ihm aber gerne hinterherschicken: Herr Zöller, lassen Sie es, aus dieser Gesundheitsreform wird nie, was dieses Land braucht. Es macht einfach keinen Sinn. Gehen Sie lieber zurück auf null!

(Beifall)

Herr Zöller hat hier ein bisschen versucht, so zu tun, als säßen die Fraktionen des Deutschen Bundestages an dieser Stelle in einem Boot. Nein, wir sitzen da nicht in einem Boot, meine Damen und Herren. Die Probleme dieser Gesundheitsreform, die Probleme der Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland hat diese Koalition noch von eigener Hand verschärft. Neben der allgemeinen Ausgabensteigerung hat diese Koalition über 4 Milliarden Euro an Zuschüssen aus dem Haushalt an die Krankenkassen gestrichen, um einen ausgeglichenen Haushalt nach Brüssel melden zu können. Sie hat diese 4 Milliarden Euro bisher noch an keiner Stelle ersetzt. Das ist ein hausgemachtes Problem.

(Beifall)

Hinzu kommt auch noch die Erhöhung der Mehrwertsteuer. In diesem Zusammenhang haben wir ja alle neu rechnen gelernt: Aus einer Ablehnung der Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte wurde eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte.

Diese beiden Maßnahmen der sogenannten Großen Koalition haben die Probleme der Gesundheitsversorgung noch verschlimmert. Das Ärgerliche an diesem bürokratischen Monster, das uns angeboten wird, ist, dass die Koalition nicht einmal die finanziellen Belastungen und Kürzungen, die sie angerichtet hat, planvoll für die Regierungszeit, die sie angeblich noch hat, ersetzt. Nein, dafür sind sie zu feige und knicken vor den Ministerpräsidenten ein. Wie anders sollen wir es denn verstehen, meine Damen und Herren, dass uns an dieser Stelle gesagt wird, man werde hinsichtlich der steuerlichen Zuschüsse nach 2009 schon noch eine Lösung finden? Die beste Lösung wäre, dass sie mit ihrer Regierungszeit vor 2009 aufhören.

(Beifall)

Es ist ein fauler Trick, wenn erklärt wird, man habe für die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder eine Lösung gefunden und ab 2010 werde es eine neue Regelung geben. Die Idee ist ja noch, dass diese Koalition bis September 2009 regiert. Wer sollte denn als Nachfolgeregierung bis zum 1. Januar 2010 einen Bundeshaushalt durchkriegen, in dem das Desaster, das man angerichtet hat, beseitigt wird? Ich kann nur sagen: Erlösen Sie uns im Zweifelsfalle einfach vorher, damit man das Desaster rechtzeitig beseitigen kann.

(Beifall)

All das, was hier angeboten wurde, ist in jeder Hinsicht Tarnen und Täuschen. Ich weiß, dass viele von denen, die hier sitzen, und wir Grünen nicht unbedingt dasselbe Ziel bei der Gesundheitsreform haben, zumindest heute noch nicht. Unsere Idee ist eine Bürgerversicherung. Mit Verlaub, Herr Kollege Westerwelle, für meine Begriffe ist das nicht eine staatliche Gesundheitsversorgung oder ein Staatssystem, sondern eine hohe Form der Solidarität.

(Widerspruch)

- Wir müssen ja nicht überall einer Meinung sein. Ich glaube, es wäre richtig, in Zeiten sehr unterschiedlicher Erwerbslebensläufe und sehr unterschiedlicher Einkommensarten - eben nicht nur des Erwerbseinkommens - den Weg der Bürgerversicherung zu gehen. Diesen Weg halten wir für richtig und werden ihn auch noch für lange Zeit für richtig halten, auch wenn er heute nicht zur Diskussion steht. Ich kehre zu dem zurück, was in der Vorlage steht und was das Kabinett morgen möglicherweise beschließen wird. Sie haben uns eines vorgeführt, gerade die CDU: Sie haben uns über die Möglichkeiten einer Gesundheitsreform alle in die Irre geführt und sie haben uns in nächtelangen Shows vorgeführt, dass sie es handwerklich einfach nicht können.

(Beifall)

Mit Verlaub, auch gerade an Herrn Zöller, der seinen Redebeitrag damit begonnen hat, er habe heute Nacht mal wieder bis 3 Uhr verhandelt: Hätten Sie es bleiben lassen!

(Beifall)

Man wundert sich ja, wo die noch überall ungeklärte Dinge entdecken. Falls Herr Zöller jetzt auf die Idee kommt, bis morgen um 9.30 Uhr, wenn die Kabinettssitzung beginnt, weiter zu verhandeln, kann ich nur sagen: Dadurch wird es auch nicht besser. Die Lösung liegt darin, diesen Punkt einfach von der Tagesordnung der Kabinettssitzung zu streichen.

(Beifall)

Jeder Handwerksbetrieb, der so oft zur Nachbesserung hätte anreisen müssen, hätte mittlerweile Insolvenz angemeldet.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, es war für mich ein Stück weit verwunderlich - das muss ich Ihnen sagen -, wie die Haltung der deutschen Ärzteschaft am Anfang war. Innerhalb weniger Monate hat sich die Haltung grundlegend geändert. Bei den Reformeckpunkten dieser Bundesregierung gab es noch scheinbar grundsätzliche Übereinstimmung. Mittlerweile hat sich der Wind um 180 Grad gedreht und auch die Ärzteschaft nimmt diese sogenannte Reform mittlerweile als einziges Fiasko wahr. Ich glaube, das hat auch viel mit Enttäuschung zu tun, weil die Bundesregierung Ihnen gegenüber wortbrüchig geworden ist.

(Beifall)

Eines sage ich Ihnen klar: Die vollmundigen Versprechungen dieser Regierung oder auch der Opposition vor dem letzten Bundestagswahlkampf waren meines Erachtens sowieso nicht zu glauben. Es wird heute faktisch bei einer Budgetierung bleiben. Feste Preise gibt es nur für zwischen KV und Kassen vereinbarte Leistungsmengen, darüber hinaus weitaus niedrigere Leistungsvergütungen. Die festen Preise können vielleicht einen Zugewinn an Transparenz bedeuten; zu höheren Arzthonoraren werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht führen.

Ich habe keine Kritik daran - da habe ich vielleicht eine andere Position als Sie -, dass es überhaupt noch eine Ausgabenbegrenzung gibt. Ich glaube, wir müssen mehrere Dinge unter einen Deckel bringen. Zum einen müssen Ärztinnen und Ärzte für ihre Arbeit fair bezahlt werden. Sie sollen eben nicht mit ihren Honoraren dafür einstehen müssen - das ist der andere Punkt -, dass sie so sozial sind, viele alte, viele kranke Patientinnen und Patienten zu behandeln. Deshalb muss man da eine Ausgabensteuerung haben, meine Damen und Herren. Deshalb halte ich eine Art von Solidarsystem weiterhin für richtig.

Wir können auf Regeln bei der Ausgaben- und Kostenbegrenzung nicht ganz verzichten, weil wir ansonsten das System an die Wand fahren würden. Ich glaube nicht, dass ein komplett offener Wettbewerb an dieser Stelle die Probleme lösen würde.

Ich kritisiere allerdings die Art und Weise, wie sich die Bundesregierung Ihnen gegenüber verhalten hat. Sie hat Sie nämlich schlichtweg getäuscht und hatte nicht die Courage zu einer Auseinandersetzung auf gleicher Augenhöhe. Frau Ferner, es ist schön, wenn Sie es für nachher ankündigen, aber eine richtige Anhörung in einer Demokratie und ein Gespräch auf Augenhöhe bedeuten, dass man sich miteinander trifft, bevor man ins Kabinett geht.

(Beifall)

Wissen Sie, ich habe einmal regiert und habe die feste Absicht, wieder zu regieren. Deshalb weiß ich, wie es ist, wenn man einmal etwas am Kabinettstisch verabschiedet hat. Dann können Sie nämlich nicht an zehn oder 20 Stellen wieder Änderungen vornehmen, weil dann gesagt würde, das wäre ein Gesichtsverlust. Ein Teil des Unheils bei dieser sogenannten Gesundheitsreform, beispielsweise wenn es um die Steuermittel geht, ist doch dadurch angerichtet worden, dass Frau Merkel dadurch Murks angerichtet hat, dass sie vor den Ministerpräsidenten in die Knie gegangen ist und nicht alle Probleme lösen will. Der nächste Punkt wird sein, dass man, wenn es durch das Kabinett gezogen worden ist, sagt, jetzt dürfe man sich auch keinen Gesichtsverlust beispielsweise gegenüber der Ärzteschaft oder gegenüber den Patientinnen und Patienten erlauben.

Wir wissen, wie das geht, meine Damen und Herren. Wir wissen auch, dass Gesprächsverweigerung mittlerweile zum festen gesundheitspolitischen Repertoire dieser Regierung gehört.

(Beifall)

Sie praktizieren eine Art Closed-shop-Politik. Diese Closed-shop-Politik wird am Ende damit garniert, dass sie sagen, man mache ja nicht für die diversen Lobbyisten Politik. Meine Damen und Herren, wenn man mit allen Betroffenen und Akteuren der Gesundheitspolitik reden würde, müsste man überhaupt nicht zu diesem komischen Argument des Lobbyismus greifen.

(Beifall)

Weil man nicht ernsthaft in drei oder vier Tagen ein komplettes dickes Gesetzeswerk durcharbeiten kann, weil man in diesem Zeitraum nicht einmal Modellrechnungen anstellen kann, ist es im Ergebnis richtig, dass es für die ministeriumsinterne Anhörung quasi einen Boykott der Verbände gegeben hat.

(Beifall)

Man kann sich nämlich selber auch unter Wert verkaufen und unter dem Niveau, das man in einer guten Anhörung mit zeitlich adäquater Vorbereitung anbieten könnte.

Dass es diese Abschottung von externem Sachverstand gegeben hat, merkt man diesem Gesetz fast überall an. Das gilt insbesondere für die künftige Finanzierung des ganzen Systems. Das ist es ja, was uns so unruhig macht, weil wir wissen, dass diese Bestimmungen schon denklogisch und buchhalterisch gar nicht zwei Jahre halten können.

Was war denn angekündigt? Sie haben eine nachhaltige und gerechte Finanzierung des Gesundheitswesens, einen intensiveren Wettbewerb und eine dauerhafte Absenkung der Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent angekündigt. An diesen selbst formulierten Zielen ist diese Bundesregierung sehr elegant, aber komplett gescheitert, meine Damen und Herren. Weder wird die Finanzierung der Krankenversicherung nachhaltiger noch wird die Beitragssatzentwicklung stabilisiert noch wird der Kassenwettbewerb stärker auf Qualität oder Wirtschaftlichkeit ausgerichtet. Wir wissen doch, dass bereits im nächsten Jahr bei der Mehrwertsteuer, bei der Reduzierung des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen der Druck noch größer wird. Wir wissen, dass die Krankenversicherungsbeiträge deutlich steigen werden. Damit nicht genug: Auch für die Folgejahre wird es sicherlich höhere Beiträge geben, weil eben diese Reform keine nachhaltigen Finanzentscheidungen trifft.

Es wird sich also bei der auf die Erwerbsarbeit zentrierten Finanzierung der GKV nichts Wesentliches ändern. Vermögenseinkommen werden nicht in die Finanzierung einbezogen.

An dieser Stelle habe ich mir notiert: Sie werden nicht klatschen. Das macht aber nichts. Der steuerfinanzierte Anteil der GKV wird sich im Laufe der Legislaturperiode sogar vermindern, meine Damen und Herren. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass man, wenn diese Regierung bis 2009 im Amt ist, gar nicht in der Lage wäre, diese Frage bis 2010 rechtzeitig zu regeln. Die einzige Lösung besteht darin, dass sie vorher zu regieren aufhören, was man sich nur wünschen kann, meine Damen und Herren.

Es wird sich allerdings eines ändern, nämlich die Art und Weise der Beitragsfestsetzung. Es ist ja schon gesagt worden: Es wird später eine staatliche Beitragsfestsetzung sein. Das heißt, die Bundesregierung hat jetzt das Werkzeug in der Hand, die Beitragssatzanhebung administrativ zu verhindern. Aber wir wissen: Die Finanzmittel dieses Monsters Gesundheitsfonds, so er denn überhaupt kommen wird, was ich noch nicht sehe, werden nicht ausreichen, dieses Gesundheitswesen dauerhaft zu finanzieren. Deshalb wird eines passieren: Es wird - das initiieren Sie als Bundesregierung - zu einer weiteren Privatisierung des Krankheitsrisikos kommen, meine Damen und Herren. Wir als Grüne sagen: Das ist in einem modernen Sozialstaat des 21. Jahrhunderts nicht zu verantworten.

(Beifall)

Das würde nämlich, um einmal ein Bild zu gebrauchen, am Ende bedeuten, dass Sie am besten Ihren Kindern sagen: Setze dich mit einer Tüte Chips vor den Fernseher, werde dick und rund, bekomme Diabetes vom Typ II, das ist nämlich noch bei der Krankenkasse versichert, aber wenn du rausgehst, um Fußball zu spielen oder Fahrrad zu fahren oder zu skaten, und dir dabei ein Bein brichst, dann ist das ein Privatunfall, wofür wir eine Zusatzversicherung abschließen müssten. Das können Sie doch am Ende gar nicht wollen.

(Beifall)

Wir sehen ja schon an den Debatten über die Versicherung auf dem Weg zur Arbeitsstelle, dass der ganze Bereich der Sport- und Privatunfälle am Ende derjenige Bereich sein wird, der als erster herausgegriffen werden kann. Die Rechnungen existieren; es geht um zweistellige Milliardenbeträge.

Man könnte diesen Reformanlauf abhaken und sagen: Arbeiten wir lieber da­ran, dass sich die Mehrheitsverhältnisse ändern. Das dauert aber immer einen Augenblick, meine Damen und Herren. Ich weiß eines: Diese Reform wirft eine Vielzahl von ungeklärten Fragen auf, bei den Zusatzbeiträgen, beim Risikostrukturausgleich. Wir wissen, dass wiederholt Beitragssatzanhebungen vor uns stehen, dass die Vorbereitung für den Gesundheitsfonds in den Kinderschuhen steckt, dass dieser Fonds, selbst wenn er Wirklichkeit würde, die Probleme nicht lösen könnte. Er würde uns über Jahre hinaus beschäftigen.

Deshalb kann man zu dieser Reform nur sagen: Sie kostet uns Zeit und Arbeitsenergie, die wir eigentlich für eine richtige Gesundheitsreform brauchen, meine Damen und Herren. Deshalb kann die einzige Lösung an dieser Stelle nur sein, auch wenn wir nicht in allen Punkten einer Meinung sind: Dieses hier ist handwerklich schlecht, es löst die Probleme nicht. Wir sind uns in Folgendem einig, meine Damen und Herren: Diese sogenannte Gesundheitsreform darf im Deutschen Bundestag keine Mehrheit finden und daran arbeiten wir.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages: Vielen Dank. - Ich danke allen Rednern aus den Fraktionsspitzen, dass sie zu uns gesprochen haben und die Signale auch anders herum wahrgenommen haben. Herr Zöller musste uns bereits verlassen. Herr Dr. Westerwelle hat ebenfalls um Verständnis dafür gebeten, dass er uns nun verlassen muss. Wir bedanken uns dafür, dass Sie da waren.

(Beifall)

Nun hat das Wort Herr Dr. Köhler, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Bitte schön, Herr Dr. Köhler.

© Bundesärztekammer 2006