Dr. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des
Marburger Bundes: Herr Präsident Jörg Hoppe! Herr Vorsitzender Köhler!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind
im Moment in einer ganz besonderen, in einer einmaligen und von mir in dieser
Weise noch nie erlebten politischen Situation: Da gibt es eine Regierung, die
gegen den Rat aller Fachleute, gegen den Rat allen Sachverstands in einer
Großen Koalition ein Gesetzesvorhaben einfach durchsetzt. Das ist ein Handeln
wider den Verstand.
(Beifall)
Je größer die Reform, je komplexer die Details, je
gravierender die Auswirkungen, desto mehr bräuchte eine Regierung doch gerade
den Sachverstand derjenigen, die etwas von der Materie verstehen. Diese Regierung
aber geht den entgegengesetzten Weg.
Meine Damen und Herren, die Elefanten entscheiden politisch,
zurück bleibt eine Schneise der Verwüstung und Zerstörung.
(Beifall)
Zerstört wird ein System von Selbstverwaltung, Wahlfreiheit
und Autonomie - ohne dass Verbesserungen auch nur im Ansatz zu erkennen wären.
Und deswegen ist diese Gesundheitsreform für uns alle ein
Dokument des politischen Starrsinns. Die Politik handelt wider die Vernunft,
wider ihre eigenen Aussagen und wider die Notwendigkeiten. Machterhalt prägt
das Denken, nicht Zuwendung zum Patienten und seinen Bedürfnissen.
(Beifall)
Diese Reform ist auch ein Dokument gebrochener
Wahlversprechen. Das Gesundheitswesen sollte besser werden. Stattdessen
bekommen wir staatliche Bevormundungsmedizin und Chaos in den Organisationen.
Diese Reform ist aber auch ein Dokument der politischen Lüge.
Die Koalition war angetreten, die Beitragssätze zu senken und die
Gesundheitskosten von den Lohnkosten abzukoppeln. Das Gegenteil geschieht nun.
Unverfrorener kann man ein Volk nicht belügen: Die Beitragssätze steigen,
abgekoppelt wird gar nichts, der Bürger zahlt den Politikern die Zeche. Jeder
Bürger zahlt mit seinen Sozialbeiträgen für den Machterhalt von Merkel und
Müntefering.
(Beifall)
Diese Reform, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch ein
Dokument der Sprachverdrehung. Es erinnert an Orwells Buch "1984". Dort wird
die Behördensprache "Neusprech" kreiert. Im "Neusprech" beinhaltet das Wort das
Gegenteil seiner bisherigen Bedeutung. Und so ist das "Wettbewerbsstärkungsgesetz"
in Wirklichkeit ein Wettbewerbsverhinderungsgesetz. Und so ist die beschworene
Stärkung der Eigenverantwortung in Wirklichkeit staatlich-ministerielle
Bevormundung und die Beitragsentlastung in Wirklichkeit ein Rollgriff ins
Portemonnaie der Bürger.
(Beifall)
Diese Reform ist auch ein Dokument der Verluderung politischer
Sitten.
(Beifall)
Da wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Arbeitsentwurf,
mit der Leitung des Hauses nicht abgestimmt, aus dem Ministerium an die
Öffentlichkeit lanciert und die Ministerin stellt sich breit grinsend hin und
behauptet, den Entwurf kenne sie gar nicht. Das Spiel wiederholt sich noch
zweimal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, früher traten Minister zurück,
wenn Indiskretionen aus ihrem Hause kamen. Heute wird der politische
Vertrauensbruch zum Stilmittel der Politik gemacht. Das ist eine Verluderung
der politischen Sitten!
(Beifall)
In einem Satz: Diese Reform ist ein Dokument des Verrats an
allen Prinzipien. Wer hätte gedacht, dass in einer großen CDU-SPD-Koalition
eine noch leistungs- und patientenfeindlichere Gesundheitspolitik möglich ist
als unter Rot-Grün zuvor! Macht korrumpiert eben - und nur darum geht es den
politisch Handelnden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Zuruf: So ist es!)
Der Fortbestand einer Großen Koalition, der Machterhalt von
Müntefering und Merkel ist mir egal. Ich will keine Große Koalition um jeden
Preis, aber ich will ein funktionsfähiges Gesundheitswesen. Ich will Qualität,
Leistung und Gesundheit statt staatlicher Bevormundungsmedizin,
Bürokratiegängelung und Politkommissaren - seien sie nun schwarz oder rot, ich
will sie beide nicht!
(Beifall)
Aber wir dürfen nicht nur klagen, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Wir müssen endlich auch einmal klar sagen, was wir denn vorzuschlagen
hätten. Und da hilft es nicht weiter - das ist meine Erfahrung aus den Debatten
der letzten 20 Jahre -, immer nur auf die Korrektur am bestehenden System
zu verweisen. Damit begeben wir uns selbst in die Falle der Kostendämpfung
durch Feintuning am bestehenden System.
Inzwischen wissen wir: Das System selbst ist das Problem. Das
System der umlagefinanzierten Krankenversicherung auf der Basis von in
abhängiger Beschäftigung erwirtschafteten Beiträgen ist tot, meine Damen und
Herren, mausetot!
(Beifall)
Diese Reform ist nur ein weiterer Versuch der Reanimation
einer - zugegeben: noch recht warmen - Leiche. Deswegen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, müssen wir selber endlich eigene, bessere Vorschläge machen. Zehn
Punkte müssen wir anpacken, zehn Fragen beantworten:
Erstens. Soll es eine Einbeziehung aller Bürger in eine
obligate Krankenversicherung geben? Anders ausgedrückt: Wollen wir eine
Versicherungspflicht für alle statt einer Pflichtversicherung nur für
Arbeitnehmer?
Zweitens. Sollen alle Einkommensarten einbezogen werden?
Sicher, ja, aber wie? Soll die Krankenkasse zu einem zweiten Finanzamt werden?
Nein, meine Damen und Herren, da helfen nur prämienbasierte Versicherungen.
Drittens. Soll es eine Parität der Arbeitgeber in den Gremien
der Krankenkassen geben? Was haben die da zu suchen? Sie sind doch nur an
niedrigen Beitragssätzen, nicht aber an Gesundheit interessiert.
Viertens. Soll der Arbeitgeberbeitrag ausgezahlt werden oder
weiter als eigener Posten aufgeführt werden? Natürlich soll er ausgezahlt werden.
Dann nimmt er an den Steigerungen der Löhne und Gehälter teil und die
Arbeitgeber hätten die Legitimation verloren, in den Selbstverwaltungsgremien
der Krankenkassen vertreten zu sein.
Fünftens. Soll es eine beitragsfreie Familienmitversicherung
geben? Wenn ja, für wen? Für alle Kinder und Ehepartner ohne eigene
Arbeitstätigkeit oder nur für Kinder?
Sechstens. Sollen die Beiträge über eine
arbeitseinkommensunabhängige Umlage oder über personenorientierte Prämien
erhoben werden? Meine Damen und Herren, nur über eine einkommensunabhängige
Prämie schaffen wir eine wirkliche Abkopplung von den Lohnkosten.
(Beifall)
Siebtens. Wenn Prämien vorgesehen sind: In welchem Umfang soll
versicherungstechnisch und inwieweit "solidarisch" kalkuliert werden? Meine
Damen und Herren, niemand kann sich in einem Prämiensystem eine absolut freie
Marktwirtschaft vorstellen. Es wird immer staatliche Vorgaben bei der Kalkulation
geben müssen, wie beim Kontrahierungszwang für die Krankenkassen.
Achtens. Brauchen wir Elemente der Kapitaldeckung und, wenn
ja, in welchem Umfang? Natürlich brauchen wir die Kapitaldeckung, nicht für
alles, aber doch für alles Wichtige, vor allem aber für unsere Kinder und
Kindeskinder, damit ihnen ein Gesundheitswesen erhalten bleibt, das auch ihren
Kindern nutzt und nicht nur ihren alten Eltern.
(Beifall)
Neuntens. Soll der Solidarausgleich über interne
Verrechnungswege wie bei der heutigen GKV, die natürlich von Politikern per
Gesetz festgelegt werden, erfolgen oder über politisch verantwortete Steuerfinanzierung?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Einheit von Verantwortung und
Handeln wiederherstellen. Die gewählten Repräsentanten unseres Volkes müssen
wieder direkt verantwortlich gemacht werden für Leistungsentscheidungen und Leistungsverweigerungen.
Es muss aufhören, dass es so leicht ist, unbequeme Entscheidungen einfach auf
uns Ärzte abzuschieben.
(Beifall)
Zehntens. Findet weiterhin eine Umverteilung zulasten junger
Menschen und zugunsten älterer Mitbürger statt? Wir müssen mit diesem Betrug an
unserer Jugend aufhören. Wenn es nicht endlich gelingt, die Sozialsysteme
zukunftsfest zu machen, werden sich junge Menschen gegen uns und gegen den
Staat entscheiden. Dann haben wir alle verloren, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Am Ende wird hoffentlich allen klar - daran sollten wir alle
gemeinsam arbeiten -: Wir brauchen den Wechsel zu einem System einer
prämienbasierten Volksversicherung. Anders kommen wir nicht weiter.
Schutz, Versicherung und Gesundheit für alle, das brauchen
wir; diese Reform brauchen wir nicht!
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident
der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages: Vielen Dank, Frank
Ulrich Montgomery. - Die nächste Rednerin ist Frau Sabine Rothe. Sie vertritt
das Bündnis Gesundheit 2000, in dem 38 Berufe organisiert sind. Bitte,
Frau Rothe.
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